romeo : 15.12 UTC — Da war eine Straße, auf der sich dicht an dicht Panzerfahrzeuge reihten. Von weit oben her, aus dem Weltraum betrachtet, mochte man meinen, jene Panzerameisen, die sich über eine Straße hin bewegen, würden doch nicht sehr gefährlich sein. Aber jene Gegenstände oder Wesen, auf die die Panzerameisen schießen, sind noch kleiner, sie wären auf Weltraumbildern kaum noch sichtbar. Es ist schwer Größenverhältnisse zu verstehen in kriegerischen Wirklichkeiten. Und Feuerbälle. Und überhaupt die Zeit. In einem Dorf schoss ein Panzer auf einen Radfahrer. Auch dies wurde von oben her betrachtet, aus geringerer Höhe. Der Radfahrer hörte vollständig auf zu existieren in Bruchteilen einer Sekunde. — stop
Aus der Wörtersammlung: rain
ansichten
echo : 15.07 UTC — Ein Schlachtschiff war am 14. April des Jahres 2022 im Schwarzen Meer gesunken. Man erzählte, dem Schiff wurde Gewalt zugefügt. Da ein identisches Schiff nicht ausreichend schnell hergestellt werden konnte, musste das Verschwinden des Schiffes nach etwas Bedenkzeit offiziell bestätigt werden. In dieser Zeit des Nachdenkens wurde ein Sturmtief erfunden, heftige Winde, die so lange Zeit mit dem Schiff verhandelt haben sollen, bis es ihren Anweisungen folgte. An demselben Tag wurde eine ukrainische Scharfschützin von hohem Ansehen erschossen. Ein toter Körper lag zum Beweis in einem Graben in der Landschaft. Millionen Augenpaare betrachteten das ungeschützte Gesicht der Frau. Ein solcher Tag im April, ein solcher Tag. — stop
von nashornkäfern
india : 3.25 — Gestern, am späten Abend, habe ich wieder einmal den Versuch unternommen, das Wort Streichholz so lange wie möglich in meinem Kopf hin und her zu bewegen, ohne indessen ein weiteres Wort zu denken. Kurz darauf habe ich meinen Versuch wiederholt, in dem ich das Wort Streichholz durch das Wort Nashornkäfer ersetzte, ebensolches eine Zehntelstunde später durch das Wort Coleporter, welches selbst kurz vor Mitternacht im Wortloop der Hibiskusblüte endete. Vorgestern noch hatte ich eine ähnliche Nachtübung durchgeführt. Wörter waren folgende gewesen: Samshepard, Hummervogel, Tictacto, Leporello. Ich stelle fest: Die lang anhaltende Wiederholung des Wortes Leporello bewirkt noch immer einerseits ein deutliches Gefühl von Hitze, anderseits eine Ahnung der Farbe Gelborange, ohne dass diese Farbe selbst vor meinem inneren Auge sichtbar werden würde. — Ein ukrainischer Soldat soll einer Journalistin erzählt haben, dass in der Nähe einer Front im Niemandsland eine Herde verlassener Kühe weidete. „Sie wanderten. So wussten wir, dass das Gebiet nicht vermint war. Wir dachten vielleicht sogar daran, uns als Kühe zu verkleiden, um die Russen anzugreifen. Trojanische Kühe. Aber dann haben die Russen die Herde erschossen.“ — stop
radiotauben
sierra : 22.08 UTC — Einmal, am späten Abend, folgte ich einem Hyperlink, der von meiner Particlesmaschine automatisch erzeugt worden war nach Regeln, die ich nicht präzise beschreiben könnte. In dieser Weise arbeitend, begegnete ich einem Text, der von einem Radio erzählte. Es ist seltsam, ich konnte mich zunächst nicht erinnern, diesen Text selbst geschrieben zu haben. Ich las ihn und dachte: Diesen Text musst Du erfunden haben, rein erfundene Texte lassen sich nicht so leicht erinnern, wie Texte, die von einer erlebten Geschichte berichten. Nun also, in dem ich meinen Text, den ich im April des vergangenen Jahres notierte, lese, schreibe ich ihn zum zweiten Male, er wird mir vermutlich ein weiteres Jahr später, noch in Erinnerung sein, wie der Abend, an dem ich ihn wiederholte, also erlebte, weil ich ihn in mein Leben versetzte: Ich stellte mir vor, wie ich in der Küche vor einem Tisch sitze. Auf dem Tisch steht ein Radio. Das Radio ist 10 cm lang und ebenso breit und ebenso hoch, ein Würfel demzufolge. Der Würfel verfügt über zwei Knöpfe, die ich vertiefen einerseits und an welchen ich drehen kann andererseits. Dort, wo ich Schrauben erkenne, die in das hölzerne Gehäuse eingelassen sind, scheint sich die hintere Seite des kleinen Radios zu befinden. Ich kann das Radio öffnen. Als ich es öffne, entdecke ich weitere winzige Schrauben, eine Platine, Dioden, Widerstände, Beschriftungen in einer Sprache, die ich nicht zu lesen vermag, außerdem einen Zylinder. Ich entdecke also viele Dinge, aber nichts, was mir behilflich sein konnte, das Radio zum Schweigen zu bringen, das Radio spielt nämlich in einem Abstand von einer Stunde eine Passage aus der 2. Symphonie Rachmaninows, die weder leiser noch lauter einzustellen ist, sie ist eben, wie sie ist, laut genug, um das Radio vor das Fenster stellen zu müssen. Einmal sitzen zwei Tauben links und rechts des Radios. Als das Radio seine Musik spielt, erschrecken sie und fliegen davon. Ein anderes Mal kommen sie wieder und bauen auf dem Radio ein Nest. — Heute Abend erzählt das Radio, ukrainische Kinder seien von russischen Behörden aus der Stadt Mariupol entführt worden. Man, ich meine, eine Sprecherin der russischen Behörde, sagte im Radio, die Kinder, die freiwillig in Busse eingestiegen seien, sollten sich nur erholen. Die junge Frau sagte weiterhin, die Kinder würden sehr schreckliche Dinge erlebt haben, weil ukrainische Truppen ihre Heimatstadt verwüstet haben sollen. Das sagte die Frau. — stop
timi
wiskey : 5.32 UTC — Vor einigen Jahren einmal versuchte ich von einem Zimmer zu träumen, in dem es immerzu regnet. Ich machte das so, dass ich in den Minuten, da ich einzuschlafen wünschte, überlegte, wie es wäre, wenn in dem Zimmer, in dem ich mich gerade befinde, Regen fallen würde. Diese Methode des Regendenkens ist leider bislang nicht sehr erfolgreich gewesen. Einmal schlief ich ein. Als ich erwachte, hörte ich wirklichen Regen draußen in den nächtlichen Bäumen. Ich ging dann spazieren, dachte finnisch klingende Namen aus: Satu N. Mäkela . Annukka R. Timi. Helena Paivi . Jonathan Paivi . Janne Ollila. Zwei dieser ausgedachten Namen zeitigen Spuren wirklicher Menschen in der Sphäre der Suchmaschinen, einer scheint männlicher Natur zu sein, obwohl ich ihn weiblich überlegte. — Das Kurzfilmkino erzählt von einem leblosen Mann, der auf dem Boden eines Waldes liegt. Ein lebender Mann kniet dort neben ihm. Er stößt mit einem Messer auf das Gesicht des leblosen Mannes ein. Wie er das Messer in das rechte Auge des Toten stößt, seufzt er mit tiefer Stimme, ein Geräusch nur, keine konkrete Sprache. Der Film, die Aufnahme eines Augenblicks, sind in digitalen Medien vielfach geteilt in weitere Instanzen. Wer jener auf dem Boden liegende tote Mann ist und wer der seufzende Mann mit dem Messer, wird je definiert durch die Urheber der Internetseite, die den Film zur Verfügung steht. Einmal ist es ein ukrainischer Mann, der das Messer führt, dann wieder eine russische Person. — stop
gedankengang
ulysses : 6.52 UTC — Ich gehe, wie so oft, ein paar Schritte nach links, dann gehe ich, wie so oft, ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. Ich habe schon viel nachgedacht, während ich ging. Und ich habe schon viel vergessen, während ich ging. Wenn ich gehe, kommen die Gedanken aus der Luft und verschwinden wieder in die Luft. Wenn ich sitze, kommen die Gedanken aus meinen Händen. Sobald ich einmal nicht schreibe, ruhen meine Hände auf den Tasten der Schreibmaschine und warten. Sie warten darauf, dass eine Stimme in meinem Kopf diktiert, was zu schreiben ist. Ich könnte vielleicht sagen, dass meine Hände darauf warten, mein Gedächtnis zu entlasten. Was ich mit meinen Händen in die Tastatur der Maschine schreibe, habe ich gedacht, aber ich habe, was ich schrieb nicht gelernt, nicht gespeichert, weil ich weiß, dass ich wiederkommen und lesen könnte, was ich notierte. Seltsame Dinge. Ich denke manchmal seltsame Dinge zum zweiten oder dritten Mal. Gerade eben habe ich wahrgenommen, dass es nicht möglich ist, zwei Zeichen zur selben Zeit auf meiner Schreibmaschine zu schreiben, immer ist ein Zeichen um Bruchteile von Sekunden schneller als das andere Zeichen. Wenn ich seltsame Dinge gedacht habe, freue ich mich. Wenn ich mich freue, kann ich nicht bleiben, wo ich bin. Die Freude ist ein Gefühl, das mich in Bewegung versetzt. Ich springe auf, wenn ich saß, oder ich springe in die Luft, wenn ich bereits auf meinen Beinen stand. Dann gehe ich ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. — Das Kurzfilmkino erzählt von einem russischen Soldaten, der nach dem Verlust seines linken Beines auf dem Boden liegt. Ein weiterer, ein riesiger Mann, kniet neben ihm. Er bietet dem verletzten Mann seine Hilfe an. Wir Ukrainer sind nicht so, wie Du fürchtest, sagt er, Hilfe kommt sofort. Der Mann erhebt sich und sucht nach dem Bein des Verletzten, er findet das Bein und einen Schuh. — stop
sequenz
echo : 6.08 — Ich beobachte meinen Fernsehbildschirm. Er ist so flach, dass ich meine, das bewegte Bild, welches er empfängt, müsste transparent sein wie ein Schmetterlingsflügel. Ich könnte in dieser Vorstellung durch das Zimmer laufen, um jene Sequenzen, die von Kriegsvorbereitungen, von chirurgischen, begrenzten Luftschlägen erzählen, von der anderen Seite her zu betrachten. Erinnerte mich an Bohumil Hrabal, von dem berichtet wird, er würde bevorzugt hinter seinem Fernsehgerät Platz genommen haben. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als Bildschirme in den Rahmen monströser Apparaturen hockten, Röhrenbildschirme genauer, die noch explodieren konnten. Indem Hrabal seinen Bildempfänger von hinten betrachtete, handelte er mit dem Ausdruck äußerster Verweigerung, er saß dort und konnte sich darauf verlassen, keines der empfangenen Bilder sehen zu können, er war genau dort hinter jener Maschine, die die Bilder erzeugte, vor den Bildern sicher. Vielleicht hatte er überdies das Fernsehgerät ausgeschaltet, ich weiß es nicht, gern würde ich ihn fragen, ihm erzählen, wie ich das mache in diesen Tagen, da ich mir zunehmend sicher bin, Lüge von Halbwahrheit oder Wahrheit unterscheiden zu können. Wirklich, wahrhaftig ist dieses seltsame, schmerzende Gefühl, das ich bei dem Gedanken empfinde, man sollte Herrn Putin unverzüglich verhaften. Es ist ein zufriedenes, zustimmendes Gefühl, ein Reflex, wie ich so in meiner friedlichen, sicheren Wohnung sitze, eine Tasse Kaffee in der Hand. Bald wandere ich in die Küche und brate mir einen Fisch, eine kleine Dorade. Ich höre die Stimmen der Kommentatoren vom Arbeitszimmer her, die weiter sprechen, obwohl ich nicht da bin. Und ich höre den Regen, es regnet tatsächlich, dann hört es wieder auf. Vögel fliegen vorüber. Auf der Scheibe eines Fensters sitzt ein Marienkäfer und nascht von den Resten einer Wespe, die ich einen Tag zuvor tötete, weil sie sich in der Dunkelheit meinem Bett näherte. — Das Radio erzählt, die Künstlerin Sasha Skochilenko sei in St. Petersburg inhaftiert, weil sie auf Preisschilder Nachrichten vom Krieg in der Ukraine notierte. — stop
dubrowka — theater
tango : 22.18 UTC — Im Februar 2008 unterhielt ich mich mit einem Ermittlungsbeamten Organisierte Kriminalität. Wir kamen auf eine Geiselnahme im Moskauer Dubrowka — Theater am 23. Oktober 2002 zu sprechen. 132 Menschen waren ums Leben gekommen. Folgendes > b : Wenn Du zwei Geiseln nimmst und verhandelst, hast Du gute Überlebenschancen. Wenn Du damit drohst, eine Geisel zu erschießen, wird’s gefährlich. Wenn Du eine Geisel erschießt, bist Du ein toter Mann. — louis : Und wenn ich schlafe, wenn Ihr kommt? — b : Betäubt? — louis : Betäubt. — b : Bombe? — louis : Bombe! b : Dann bist Du tot. Du bist eine Bombe, Du schläfst und Du bist tot. — Frauen waren damals unter den Geiselnehmern gewesen. Sie trugen Sprengstoffgürtel oder Sprengstoffwesten, und waren vermummt. Man berichtete, sie seien nach Moskau gekommen, um ihre Männer zu rächen, die in Tschetschenien von russischen Soldaten getötet worden waren. — Das Radio erzählt, an diesem Tag, heute, auf einem Fluss, der durch die Stadt Moskau fließt, wurden auf dem Eis mit grauer Farbe Inschriften übermalt, die gegen den Krieg in der Ukraine protestierten. — stop
von reisenden papageien
tango : 0.08 UTC — Als ich das Radio einschaltete, hörte ich, bei Ryanair, einer Fluggesellschaft, sollen Stückkosten, demzufolge die Kosten je transportierten Passagiers, erneut dramatisch gesunken sein. Weiterhin würden in einem Land des Fernen Ostens bald Züge über das Land rasen, die stets sehr pünktlich sein werden, da sie auch von selbst mordenden Menschen niemals aufzuhalten sind, sie fahren immer weiter und weiter zu. Auf der ersten Seite einer spanischen Provinzzeitung sei ein leichtgewichtiger Hund zu sehen, der im Moment seiner Aufnahme von einer Elektrodrohne über ein Hausdach befördert wurde. Die Zahl der hungernden Menschen auf dieser Welt würde im kommenden Jahr erfreulicherweise um 10 Millionen auf unter 800 Millionen Menschen sinken. Das war am 27. Mai 2015 gewesen. Gestern erzählte das Radio, dass auch Kinder aus der Ukraine westwärts flüchten. Sie seien leise sie stehen unter Schock. Geflüchtete Menschen sagen: Wir sind keine Flüchtlinge, wir sind Reisende. Auch Papageien reisen und Katzen und Hunde. — stop / Es war lange Zeit still in meinen Händen. Dieser Text wurde am 5. Juni für den 3. März notiert.
pripyat
echo : 21.08 UTC — Auf meinem Fernsehbildschirm sichtbar üben ukrainische Soldaten den Häuserkampf in der winterlichen Stadt Pripjat. Es ist Abend. Ich öffne mein Notebook, nähere mich in der digitalen Sphäre jener unheimlichen Stadt, Stadt eines Riesenrades, ich erinnere mich, ein Riesenrad in dieser seltsam einsamen Stadt. Da waren vor vielen Jahren noch Menschen gewesen, sie spazierten an einem sonnigen Tag durch einen Park, große Menschen und Kindermenschen kurz nach Havarie des nahen Reaktors. Da waren Blitze, Spuren starker radioaktiver Strahlung, die sich in das Filmmaterial, welches von den großen Menschen und den Kindermenschen erzählt, eingebrannt hatte. All das plötzlich wieder gegenwärtig an diesem Abend, da ich meine Bildschirmreise beginne. Ich komme von Süden, es ist Sommer. Winterbilder existieren von dieser nordukrainischen Landschaft nicht in den Magazinen der Google Earth Maschine, aber eben sommerliche Spuren, zwei Ströme, Juni 2015 und ein weiterer Strom, der im Sommer 2020 aufgezeichnet wurde. Je eine schnurgerade Straße kur vor dem Checkpoint Leliv. Im Juni 2015 kommen wir an, im Juli des Jahres 2020 fahren wir weiter durch die Wälder des Sperrgebietes kurz vor Tschernobyl. Die Straße ist gepflegt, jenseits der Straße zerfallende Häuser, auch Gebüsch von leuchtendem Grün. Plötzlich eine kleine Stadt, die ich in dieser Wildnis nicht erwartet hatte. Häuserblocks. Stromleitungen führen über Brücken. Menschen stehen in kleinen Gruppen am Straßenrand. Dann wieder Juni 2015, wir passieren das Denkmal derer, die die Welt gerettet haben. Da und dort Birken, auch rötlich gefärbte Gewächse. Und Schilder, gelbe Schilder, die vor Strahlung warnen. Da und dort Wolken himmelwärts. — stop