alpha : 17.25 UTC — Eine Notiz der Lions Writers Support Services. Inc., die ich an dieser Stelle mit großer Freude übersetzt wiedergebe, berichtet von Mr. und Mrs. Shapiro: > AUF NACH CONEY ISLAND. Als Mr. Sini Shapiro, wohnhaft zu New York ( Park Avenue 720 ), im vergangenen Jahr den dringenden Wunsch äußerste, endlich einmal seine Wohnung verlassen zu dürfen, um sich in der Stadt seiner Geburt umzusehen, waren wir mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Wie könnte es möglich werden, fragten wir, einen Kiemenmenschen, der zeit seines Lebens ein hochspezialisiertes Wasserhabitat in Manhattan bewohnt, einen Zugang zur Stadt zu ermöglichen, ohne ihn umzubringen. Sehr bald folgten wir einer konkreten Spur. Aus der nautischen Sammlung der Familie Landau, die auf Long Island lebt, erwarben wir einen Tiefseetaucheranzug, welcher zuletzt in den 40er Jahren der unterseeischen Minenräumung diente. Der Anzug selbst wog 240, Mr. Shapiro, ein zartes Wesen, 32 Kilogramm, die Maße stimmten, und der Anzug, wenn man ihn mit Wasser füllte, erwies sich als vollständig dicht über viele Tage hin. Am 5. Juni des Jahres 2016 unternahmen wir mit Mr. Shapiro einen ersten Versuch unter wirklichkeitsnahen Bedingungen. Getestet wurde in der Wohnung der Shapiros zunächst unter Wasser, ob Mr. Shapiros Leib sich in den Anzug fügte und ob er sich geborgen fühlen konnte. In einer zweiten Phase des Testes versuchten wir einen Eindruck von der Beweglichkeit des Anzugs zu gewinnen, immerhin war das Gefäß nun vollständig mit Wasser gefüllt. Der Taucheranzug, Mr. Shapiro plus Wasserfüllung, sowie angeschlossene technische Weiterungen, Filter und Pumpen, eine Fotokamera sowie zwei Funkkommunikationsmodule, wogen insgesamt 352 Kilogramm. Am 22. Juli dann in den frühen Morgenstunden von sorgenvollen Blicken seiner Frau begleitet, wagte Mr. Shapiro sich zum ersten Mal in das Leben jenseits der Schleusentüren seiner Wohnung hinaus. Der alte Mann wurde in sitzender Position über Aufzüge des Hauses vorsichtig zu einem Subaru — Sambar — Automobil transportiert, das sich, von einem Polizeifahrzeug eskortiert, bald langsam über die Manhattanbridge, kurz darauf über die Coney Island Avenue südwärts bewegte. Mr. Shapiro wollte das Meer mit eigenen Augen betrachten. Brooklyn, äusserte er später, gefalle ihm. / — stop New York City. May 3 2017 by Miu Gallane
Aus der Wörtersammlung: rauch
kaktusblüte
nordpol : 18.52 UTC — Ein Zufall führte mich in einem Moment zu Herrn K., als er gerade zum ersten Mal sein neues Bürozimmer betrat. Er führte einen Karton mit sich, nicht größer als eine Schuhschachtel. Aus diesem Behältnis hob er eine Notebookschreibmaschine, ein Mäppchen mit Bleistiften, eine farbige Fotografie, sowie einen fingerhohen Kaktus, der blühte. Herr K. prüfte die Schubladen des Schreibtisches, der zu dem kleinen Zimmer mit Ausblick auf einen Park gehörte, sie waren leer. Seinen Kaktus stellte er auf die Fensterbank, die Fotografie neben ein Telefon, das sich bereits im Zimmer befunden hatte, ehe Herr K. eingetreten war. Er setzte sich auf einen Stuhl und sagte: Wissen Sie, mehr brauche ich nicht. Das sollten Sie immer bedenken, nur niemals heimisch werden, nur nicht glauben, dass Ihnen dieses Büro gehört. Im Gegenteil, Sie selbst gehören diesem Zimmer wie jeder andere, der nach Ihnen an dieser Stelle arbeiten wird. Wer in und von diesem Zimmer aus operiert, muss sich bewusst sein, dass er jederzeit ebenso plötzlich wie er gekommen ist, auch wieder gehen wird. In dieser Postion, die Sie hier oben bekleiden, haben Sie Erfolg oder sie haben keinen Erfolg. Binden sie sich also nicht, arbeiten Sie konzentriert und genießen Sie die Aussicht, aber, um Himmels Willen, fühlen Sie hier niemals zu Hause! — Diese Geschichte ereignete tatsächlich an einem Freitag im Juli des vergangenen Jahres. — stop
bildschirmlicht
himalaya : 7.30 UTC — Erster Twitterfilm: Ein Mädchen, das in Aleppo lebt, sagt: Vielleicht ist es das letzte Mal, dass Sie mich lebend sehen! Das Mädchen scheint in einem Keller zu sitzen. Sie ist zum Zeitpunkt dieser Aufnahme vielleicht acht Jahre alt, vermutlich ist Abend. Der Angriff der syrischen Armee auf die Stadt wird für die kommende Nacht erwartet. — Ein zweiter Twitterfilm: Auf einer Bahre in einem Krankenhaus liegt eine Frau, fahle Haut, sie sieht in die Kamera und sagt: Bitte helfen Sie uns! Im Hintergrund sind Detonationen zu hören. — Ein dritter Twitterfilm: Der junge Mann, der erzählt, dass die Kämpfe in der Stadt wieder zugenommen haben, sieht sich immer wieder um. Er müsse jetzt von der Straße, hier sei es zu gefährlich. Es wird sogleich dunkel auf dem Bildschirm, indem der junge Mann die Linse seiner Kamera mit einer Hand bedeckt. — Ich denke in diesem Moment, dass das Licht der handlichen Filmmaschinen immer näher an mein Leben herankommt, jederzeit mögliches Licht, das auf Servern der Welt auf mich wartet. Ich spreche darüber mit einem Freund, dessen Aufgabe ist, Filme aus dem syrischen Bürgerkriegsgebiet zu analysieren. Ja, soviel mögliches Licht ist in der Welt, sagt N., dass man sich die Seele an diesem Licht sehr schwer verbrennen kann. Er habe vor einem Jahr einen Ruhetag pro Woche definiert, da er seine Computermaschine nicht anschalte. Was machst Du an diesen Tagen, fragte ich. Ich lese, ich gehe mit meiner Lebensgefährtin spazieren, ich liege im Sommer stundenlang neben ihr in einer Wiese und schaue den Wolken zu. Dann wird Nacht und ich sitze morgens wieder vor meinen Bildschirmen und rufe Filmlicht auf, das neu hinzugekommen ist. Da sind zwei Männer, sie halten den Splitter eines Geschosses vor die Kamera ihres Mobiltelefons. Ich stoppe den Film, notiere Schriftzeichen in gelber Farbe, Rudimente, betrachte die Umgebung der Männer, versuche herauszufinden, wo sie sich vielleicht befinden, ob sie sich wirklich dort befinden, wo sie zu sein behaupten, welche Tageszeit. Ich habe Algorithmen entwickelt der Filmbefragung. Ich werde dadurch schneller. — stop
modern
charlie : 8.01 UTC — Die seltsame Sprache der modernen Welt im alltäglichen Gebrauch. Einer sagt, nachdem er sich verliebte, er werde mutig in Gefühle investieren. Ein anderer trifft sich mit Freunden und spricht am Telefon davon, sich gerade in einem Meeting zu befinden. Vor zwei Tagen wurde ich von einer Freundin gebrieft, sie habe sich von ihrem Mann getrennt. Ein Cluster von Komplikationen verhinderte die Zulassung seines Sohnes zur Prüfung am MIT, berichtet ein guter Bekannter. Er schreibe ein Memo, verspricht ein Nachbar, ich weiss nicht worüber. Unlängst war ich versucht, folgendes zu sagen: Ich arbeite in der erzählenden Informationsverarbeitung. Ich sagte dann: Ich schreibe Geschichten. — stop
morgenstaubgeschichte
ulysses : 12.22 UTC — Was für ein schöner Sonntag. Das noch tiefstehende Licht der Sonne, die am frühen Morgen in den Centralbahnhof leuchtet, als würde sie immer dort in genau dieser Höhe von Osten her durch die Fenster scheinen. Eine Sonne nur für diesen Ort. Da ist feiner Rauchstaub, der aus einem Laden heraus durch die Halle schwebt. Die Raucher rauchen, indessen sie neue Rauchwaren besorgen. Bitter schmeckende Holzpapierluft. So muss das geduftet haben, genau so oder so ähnlich, ohne moderne Parfüme, wenn unter den Hafenhimmeln des 16. Jahrhunderts, nach langer Fahrt, die Bäuche der Handelsschiffe geöffnet wurden. Die Entzündung des getrockneten, des weitgereisten Materials vor der Mundöffnung eines Europäers führte zu einem Vorgang, den man zunächst als die Sauferei des Nebels bezeichnete, als Rauch- oder Tabaktrinken. Ja, was für ein schöner Sonntag. Ich gehe zu ungewohnter Zeit mit Tagaugen durch meine Stadt, als würde ich durch Brooklyn spazieren. — stop
ai : USA
MENSCH IN GEFAHR : “Sara Beltrán Hernández floh vor häuslicher Gewalt und Bandenkriminalität im November 2015 aus El Salvador in die USA, um dort bei Verwandten zu leben. Sie wird seither in einer Hafteinrichtung in Texas festgehalten, obwohl sie einen Asylanspruch hat. Sie benötigt dringend medizinische Versorgung und sollte bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag dringend auf Bewährung freigelassen werden. / Sara Beltrán Hernández befindet sich in einer Hafteinrichtung der US-amerikanischen Einwanderungs- und Zollfahndungsbehörde in Dallas im Norden von Texas und wartet auf den Gerichtsentscheid zu dem von ihr eingelegten Rechtsmittel gegen ihre Abschiebung aus den USA. Sie befindet sich seit ihrer Ankunft an der US-amerikanischen Grenze zu Mexiko am 4. November 2015 in Haft. Obwohl sie Angehörige mit US-amerikanischer Staatsangehörigkeit hat, die ihr Erscheinen bei allen zukünftigen Anhörungen sicherstellen können, verweigern ihr die US-Behörden eine Freilassung auf Bewährung und begründen dies mit Fluchtgefahr. / Sara Beltrán Hernández beantragte Asyl in den USA, weil sie ihren Aussagen zufolge in El Salvador Morddrohungen von einem Bandenführer und Bandenmitgliedern erhalten hat, die bereits Menschen getötet haben sollen. Sara Beltrán Hernández hat an Eides statt erklärt, dass sie schwere körperliche und seelische häusliche Gewalt erfahren hat und sexuell missbraucht wurde. / Laut ihrem Rechtsbeistand brach Sara Beltrán Hernández am 10. Februar 2017 in der Hafteinrichtung zusammen. Angestellte des Haftzentrums brachten sie daraufhin in das Huguley-Krankenhaus im texanischen Fort Worth. Am 13. Februar 2017 informierte sie ihren Rechtsbeistand darüber, dass bei ihr ein Gehirntumor diagnostiziert worden sei, der operativ entfernt werden müsse. Am 18. Februar, erst acht Tage nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus, gestattete die Einwanderungs- und Zollfahndungsbehörde Sara Beltrán Hernández, ihre Familie anzurufen. Sie sagte, sie habe inzwischen Krämpfe, Nasenbluten sowie Kopfschmerzen und Probleme klar zu denken. Sie sei aber immer noch nicht operiert worden. Am 22. Februar teilte ihr das Krankenhauspersonal mit, dass sie am 27. Februar operiert werde und brachte sie in die Hafteinrichtung zurück. / Eine Inhaftierung soll von Einwanderungsbehörden lediglich als letztes Mittel eingesetzt und jeder einzelne Fall muss begründet werden. Freilassung auf Bewährung sollte aus humanitären Gründen in den Fällen gewährt werden, in denen die Person keine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit darstellt und keine Fluchtgefahr besteht. Da diese Vorgaben auf Sara Betrán zutreffen, sollte sie umgehend aus der Haft entlassen werden.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 7. April 2017 hinaus, unter > ai : urgent action
eine wiederholung
romeo : 0.22 — In wenigen Stunden werde ich den Versuch unternehmen, einen Tiefflug über Staten Island hin, den ich mittels einer Drohne im Januar 2015 unternommen hatte, zu wiederholen, und zwar möglichst präzise auf den Spuren Samuels, der noch immer nicht verschwunden ist. Ob das möglich sein wird? Ich notierte: Während der Recherche im Internet nach Propellerflugmaschinen, die von Hand zu bedienen sind, entdeckte ich eine Leihstation für Drohnenvögel nahe des St. George Ferry Terminals, und zwar in der Bay Street, Hausnummer 54. Obwohl ich mich in Mitteleuropa befand, musste ich, um Kunde werden zu können, keine weiteren Angaben zur Person hinterlegen als meine Kreditkartennummer, nicht also begründen, weshalb ich den kleinen Metallvogel, sechs Propeller, für drei Stunden nahe der Stadt New York ausleihen wollte. Auch erkundigte sich niemand, ob ich überhaupt in der Lage wäre, eine Drohne zu steuern, seltsame Sache. Ich bezahlte 24 Dollar und startete unverzüglich mit Hilfe meiner Computertastatur vom Dach eines flachen Gebäudes aus. Ich flog zunächst vorsichtig auf und ab, um nach wenigen Minuten bereits einen Flug entlang der Metrogeleise zu wagen, die in einem sanften Bogen in Richtung des offenen Atlantiks nach Tottenville führen. Ich bewegte mich sehr langsam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die ferne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bildschirm war sehr gut zu erkennen, ich vermochte selbst Gesichter von Reisenden hinter staubigen Fensterscheiben passierender Züge zu entdecken. Nach einer halben Stunde erreichte ich Clifton, niedrige Häuser dort, dicht an dicht, in den Gärten mächtige, alte Bäume, um nach einer weiteren Viertelstunde Flugzeit unter der Verranzano-Narrows Bridge hindurchzufliegen. Nahe der Station Jefferson Avenue wurde gerade ein Feuer gelöscht, eine Rauchsäule ragte senkrecht hoch in die Luft als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steuerte in derselben Höhe wie zuvor, der Lower Bay entgegen. Am Strand spazierten Menschen, die winkten, als sie meinen Drohnenvogel oder mich entdeckten. Als ich etwas tiefer ging, bemerkte ich in der Krone eines Baumes in Ufernähe ein Fahrrad, des Weiteren einen Stuhl und eine Puppe, auch Tang war zu erkennen und vereinzelt Vogelnester. Es war später Nachmittag geworden jenseits des Atlantiks, es wurde langsam dunkel. — stop
aleppo
himalaya : 0.02 — Vielleicht darf ich folgenden Bericht in voller Länge wiedergeben. Der junge Journalist Zouhir al Shimle berichtet via E‑Mail für Die Zeit: Seit Aleppo belagert ist, fliegen Assads Truppen und seine Verbündeten jeden Tag Luftschläge auf die Viertel der Rebellen, also auch dort, wo ich lebe. Ununterbrochen dröhnen Kampfjets über uns hinweg, Helikopter kreisen über den Häusern. Jeden Tag sterben hier fast fünfzig Zivilisten. Wir leben in einem nie endenden Getöse von Schießereien, Explosionen, Geschrei. Die meisten von uns trauen sich nicht mehr, nach draußen zu gehen. Manchmal hetzen ein paar Leute die Straßen entlang, um Lebensmittel zu besorgen – und rennen sofort nach dem Einkauf zurück in ihre Wohnungen. Dabei ist es zu Hause nicht sicherer als auf der Straße. Denn die Bomben treffen auch unsere Häuser. Während ich diese Zeilen schreibe, höre ich das Donnern der Kampfflugzeuge, von irgendwo her dringt Gefechtslärm. Gott sei Dank habe ich bisher alle Angriffe überlebt. Aber vor ein paar Tagen war ich dem Tod so nah wie nie zuvor. Ich war im Viertel Al-Mashhad unterwegs, dort, wo mein Büro ist. Ich stand gerade im Laden in unserer Straße, um mir etwas zu trinken zu kaufen, als die erste Fassbombe einschlug, gerade mal fünf Häuser von uns entfernt. Ich duckte mich für einige Sekunden vor den umherfliegenden Metallteilen. Dann rannte ich raus auf die Straße. Nur wenige Sekunden später schlug in der Straße die zweite Faßbombe ein. Ein Metallsplitter bohrte sich in meinen Rücken, ein anderer in mein Bein. Ich rannte von der Straße wieder zurück zum Laden. Und war vor Schock wie gelähmt: Sieben Menschen, die dort Schutz vor der zweiten Bombe gesucht hatten, waren tot, zerquetscht vom Schutt der eingestürzten Decke. Sie starben nur, weil sie sich in den Sekunden der Explosion anders entschieden hatten: Sie hielten sich zwischen den Regalen versteckt, während ich auf die Straße lief. Nur deswegen habe ich als Einziger von uns überlebt. Die Helfer hatten große Mühe, die verdrehten und durchtrennten Körper aus dem Geröll zu ziehen. Angehörige der Toten lagen am Boden und schrien, Kinder weinten. Aus einigen Körpern quollen Innereien, überall lagen abgetrennte Hände und Beine. Insgesamt starben durch diese Angriffe 15 Menschen, 25 – mit mir – wurden verletzt. Ich kann diese Bilder nicht vergessen. Ich hätte einer dieser Körper sein können. Ich wurde schnell in ein Krankenhaus gebracht, doch helfen konnte mir dort niemand. Zu viele Menschen brauchten Hilfe, unaufhörlich brachten Männer neue Tragen mit Schwerverletzten hinein. Während ich auf den Arzt wartete, sah ich so viel Blut, dass ich zu halluzinieren begann. Ein Freund brachte mich deshalb in ein anderes Krankenhaus, wo sich Schwestern um mich kümmerten. Sie entfernten einen Metallsplitter, der andere steckt noch in meinem Bein. Sie sagen, er könne erst in einiger Zeit entfernt werden. Doch es sind nicht nur die Bomben und Gefechte, die unser Überleben immer schwerer machen. Das Regime hat nun auch die Castello-Straße eingenommen. Sie ist eine Todeszone geworden: Ständig wird geschossen, brennende Autos liegen am Straßenrand. Das Regime kämpft dort mit aller Macht – und schneidet uns damit von der Außenwelt ab. Die Castello-Straße war bislang die einzige Verbindung von Aleppo nach draußen, in die Vororte und in die Türkei. Es war die Lebensader der Stadt, von dort haben wir Lebensmittel, Gas, Brennstoff, Trinkwasser und Medizin bekommen. Die Belagerung ist für uns dramatisch. Denn jetzt gibt es kaum noch Obst und Gemüse zu kaufen, überhaupt sind die Märkte fast leer. Auch haben wir immer weniger Brennstoff, wir verbrauchen gerade die letzten Reserven der Stadt. Bald schon werden wir in kompletter Dunkelheit leben. Das ist es, was das Regime und seine Milizen wollen: dass Aleppo langsam stirbt. Sie setzen dabei allein auf die Zeit. Wir, die noch rund 300.000 Verbliebenen, werden nicht mehr lange versorgt werden können. Ich fürchte, dass unser Untergang schließlich dadurch kommt, dass wir alle um Wasser und Brot kämpfen. Und dass die, die nicht mehr stark genug sind, darum zu kämpfen, einfach verhungern werden. Fakt ist: Wir sitzen fest. Wir haben keine Chance mehr, aus Ost-Aleppo herauszukommen. Ich habe immer mit drei Freunden in einer WG zusammen gewohnt. Jetzt ist nur noch einer von ihnen hier. Malek hat geheiratet und lebt nun mit seiner Frau zusammen, sie erwarten ein Baby. Der andere, Jawad, konnte in die Türkei entkommen. Sein Vater wurde bei einem Angriff schwer verletzt und Jawad konnte mit ihm vor ein paar Wochen in die Türkei fahren, damit er dort medizinische Hilfe bekommt. Jawad versucht, wieder zu studieren. Er wird nicht mehr nach Aleppo zurückkommen. So zynisch es klingt: Er hat Glück gehabt. Denn nur sehr kranke Menschen dürfen mit einer Begleitung den Grenzübergang Bab al-Salameh in die Türkei passieren. Die Türkei ist da sehr strikt. Für mich gilt das also nicht Selbst wenn ich Aleppo verlassen wollte: Ich kann es nicht. Die Bombardierungen in der Stadt sind zu stark, ich würde nicht mehr weit kommen. Ich weiß, dass ich hier nicht mehr wegkommen werde. Die Bomben fallen weiter, jeden Tag, jede Stunde. Sie treffen alles, was sich bewegt. Ich sitze in Aleppo fest. Aber noch bin ich am Leben. — stop
ein reisekoffer
ginkgo : 3.55 — Das Geräusch der tropfenden Bäume vor dem ewigen Brausen der Stadt. Eine Nacht voll Wintergewitter, glimmende Vögel irren am Himmel, Nachtvögel ohne Füße, Vogelwesen, die niemals landen. Als ich vor einigen Tagen nach Esmeralda suchte, brauchte ich eine Weile, um die kleine Schnecke mit ihrem Gehäuse auf dem Rücken finden zu können. Sie saß schlafend auf einer Fensterscheibe. Es war nicht schwer, sie vom Glas zu lösen und auf den Rücken meiner rechten Hand abzusetzen. Esmeralda beobachtete mich von dort aus mit einem Auge, das sie weit aus ihrem Kopf gestreckt hatte, während das andere Auge unsichtbar blieb, vielleicht weil es weiter schlief, weil ein einzelnes Auge genügte, um mich zu betrachten oder in Schach zu halten. Indem ich mich mit einem Ohr Esmeraldas Schneckengehäuse näherte war da wieder der Eindruck, ein leises Summen zu vernehmen, das von einem hellen Ticken begleitet war, als wäre im Häuschen eine Uhr eingesperrt. Aber der eigentliche Grund, weshalb ich nach Esmeralda suchte, war nicht der Wunsch gewesen, an Esmeraldas Häuschen zu lauschen, vielmehr wollte ich Esmeralda ihren Scheckenreisekoffer zeigen, eine Schachtel von 10 cm Länge, 5 cm, Höhe, 5 cm Breite. Die Schachtel war perforiert, feinste Löcher, so dass Luft in sie eindringen konnte, außerdem mit einem feuchten Tuch ausgekleidet. Vorsichtig hob ich Esmeralda an und setze sie in der Schachtel ab, dann schloss ich den Deckel und sagte zu Esmeralda hin: In einer Stunde hole ich Dich wieder heraus. Diese Geschichte ereignete sich vor zwei Wochen. Noch immer leichter Regen. — stop
lukas
alpha : 0.18 — Für seinen Sohn, der gerade fünf Jahre alt geworden ist, hat sich Gustav L. etwas Besonderes ausgedacht. Er ist in den Keller gestiegen, um dem kleinen Lukas einen Drachen zu bauen, ein Geschenk von eigener Hand. Im Keller lagerten Holz und Seidenpapiere in rot und blau, und Schnüre, davon feine Sorten und etwas kräftigere Gewinde. Im Keller waren außerdem Werkzeuge zu finden, Sägen, Feilen, Hämmer, Cognac, alles das, was man so braucht, einen wunderbaren Flugdrachen zu bauen. Es ist ein schöner Oktobertag. Man zieht kurz nach Vollendung des Kellerwerkes los auf die nächste Wiese, die schön blüht, Margeriten vor allem. Lukas ist stolz auf den Drachen und der Vater ist es auch. Aus dem Drachen einer reinen Vorstellung ist ein wirklicher Drachen geworden, den man berühren kann, ein dreistöckiger Kastendrachen, der knistert. Gustav fühlt sich wohl, es ist ihm so richtig warm geworden, er hat sich gut eingepegelt. Einige Bienen fliegen zickzack herum. Ein starker Wind geht, der Drachen fliegt hoch hinauf. Der Sohn und der Vater halten ihn gemeinsam an der Schnur. Sie rennen über die Wiese. Einmal hebt der kleine Junge ab, der Vater erwischt ihn gerade noch am Fuß. Dann fällt der Vater um. – stop