echo : 1.24 — Im Zug saß ich einer alten Frau gegenüber, die in einer chinesischen Zeitung las, ohne eine Brille zu verwenden. Das war deshalb bemerkenswert, weil die Zeichen der Zeitung sehr klein waren, aber nicht nur die Zeichen der Zeitung, sondern auch jene Schriftzeichen, die die alte Frau neben die Zeilen der Zeitung setzte, waren außerordentlich kleine Zeichen. Sie notierte mit einem Bleistift, den sie immer wieder spitzte. Und obwohl der Zug uns Reisende beständig erschütterte, wurden ihre komplizierten Schriftzeichen mit je einer schnellen Handbewegung sicher auf das Papier gesetzt. Kein Blick zu mir hin. Aber ich spürte, dass sie meine beobachtenden Blicke selbst bemerkte. Nach zwei Stunden verließ die alte chinesische Frau den Zug. Sie sagte: Auf Wiedersehen! — Helle Stimme. — stop
Aus der Wörtersammlung: stunde
ein ball
whiskey : 0.12 — Einmal beobachtete ich in New York einen Mann, wie er das Verhalten eines Balles in einem Waggon der Subway studierte. Es war ein sonniger Tag im Januar, ich fuhr gerade mit der Linie N Richtung Coney Island, als der Mann, der mir im Zug unmittelbar gegenüber Platz genommen hatte, einen roten Ball, von weißen Punkten bedeckt wie ein Fliegenpilz, aus einer Tasche holte und auf den Boden legte. Sofort rollte der Ball gegen die Fahrtrichtung davon, verlor sich zunächst zwischen den gestiefelten Beinen einiger Reisender, war dann für einen Moment nicht zu sehen, sodass der Mann, der den Ball freigelassen hatte, sich nach vorn beugen musste, um ihn wieder in den Blick zu bekommen. Kurz darauf kehrte der Ball zurück, beschrieb einen weiten Bogen, stieß mehrfach gegen die Füße einer schlafenden Frau, die die Berührungen des Balles aber nicht zu bemerken schien und einfach weiterschlief. Indessen verzeichnete der Mann mittels eines Bleistiftes den Weg des Balles durch den Waggon in ein Notizbuch, scharfe Richtungswechsel, enge Kreise, oder auch ruhigere Bewegungen des Balles über den Gang des Waggons wurden in dieser Weise präzise dokumentiert. Einmal nahm ein Kind den Ball in seine Hände, da machte der Mann an dem Ort, da der Ball den Boden verließ, ein Kreuz auf sein Papier. Nach einer halben Stunde stieg der Mann aus dem Zug, und ich dachte noch, dass ich diesem Mann und seinem Ball vielleicht nie wieder begegnen würde. Ich notierte: Hier in New York begegnet man ständig Menschen, die man nie wieder sehen wird. Drei Tage später bemerkte ich einen roten Ball mit weißen Punkten auf einer Fähre nach Staten Island, er rollte langsam über das Hurricane-Deck. — stop
von nelken
echo : 6.10 — Ich beobachtete eine alte Frau, wie sie unter einem Regenschirm im Garten kniend Nacktschnecken von Nelkenblumen pflückte. Neben sich hatte die alte Frau einen kleinen Eimer abgestellt, der sich allmählich mit Schneckenkörpern füllte. Heftiger Regen. Ich konnte den Regen hören, wie er auf den Schirm der alten Frau trommelte. Und ich hörte eine helle Stimme, die mit sich selbst oder zu den Schnecken sprach. Immer wieder einmal stand die alte Frau vorsichtig auf, um in ihr Haus zurückzukehren. Sie klopfte dann ihre Schuhe ab, stand hinter dem Fenster, schaute in den Garten und wartete, bis weitere Schnecken ohne Häuser in die Nähe ihrer Nelken gekommen waren. Diese Schnecken reisten nicht von der Seite her an, sondern kamen tatsächlich von unten aus dem erdigen Boden herauf. Waren es wieder viele Schnecken geworden, kehrte die alte Frau zurück in ihren Garten und erneut hörte ich den Regen und eine helle Stimme. Ich hatte bald den Eindruck, diese Schnecken, die unablässig aus dem Boden stiegen, könnten rein aus etwas Haut und klarem Wasser bestehen, es waren derart viele, dass sie ganz einfach zunächst winzige Wesen sein mussten, die sich zu ihrer vollen Entfaltung mit Wasser füllten, sobald es regnete. Nach drei Stunden war der Eimer gefüllt und die alte Frau deckte ihn mit einem Kochtopfdeckel zu, holte aus dem Haus einen weiteren Eimer, der etwas größer gewesen war, als der erste Eimer. Es dämmerte, dann war es dunkel, und als es richtig dunkel geworden war, finster, kehrte die alte Frau mit einer Taschenlampe in den Garten zurück. Sie trug jetzt Gummistiefel an den Füßen und ein Nachthemd und es regnete noch immer. — stop
20 Gramm : eine Künstlerin erzählt
zoulou : 18.25 — Inés, die mehrere Jahre lang in einem zentralen Madrider Postamt arbeitete, erzählt, sie habe in der Stunde etwa 3200 Kurzbriefe mit der Hand sortiert. Jeder ihrer Arbeitstage dauerte 6 Stunden reiner Arbeitszeit, das heißt, Stundenzeit ohne Pause, da ihre Hände ruhten. Manchmal, wenn ihre rechte Hand schmerzte, habe sie mit der linken Hand sortiert, da sei sie aber nicht so schnell gewesen. Einmal habe sie errechnet, pro Nacht oder Schicht mit ihren Händen 385 Kilogramm angehoben und durch die Luft transportiert zu haben. Sie lebte damals in der Calle José Abascal in einem kleinen Atelier unter dem Dach, nun, im Alter von bald 40 Jahren, könne sie Grund der Bilder, die sie zeichne, hervorragend leben. Einmal wohne sie in London, dann wieder in Berlin, München, Paris. Manchmal träume sie noch von Briefen, die sie in ihrer postalischen Zeit gerne betrachtet habe, Kuverts, die selbst Kunstwerke gewesen seien, liebevoll gestaltet. Aber das genaue Betrachten der Briefe war natürlich nicht gestattet, da das Betrachten eines Briefes viel zu lange dauere. Dass ich jetzt Zeit habe, niemals hetzen muss, sogar selbst entscheiden kann, wie schnell ich mein Abendbrot zu mir nehme, ist mein größtes Glück. — stop
kekkola im eisfach
ulysses : 0.05 — Seit einigen Stunden bereits lese ich Berichte der New York Times, die Korrespondenten kurz vor dem Eintreffen des Wirbelsturms Sandy in einem Weblog notierten. Bald werde ich meine Lektüre unterbrechen. Das ist nämlich so, dass ich mir für die kommenden Stunden vorgenommen habe, eine Nacht des Jahres 2012 zu wiederholen, sagen wir zur Feier des Tages. In wenigen Minuten werde ich also vor meinen Kühlschrank treten, um in Louis Kekkola’s Eisbuch Das Walfischorchester weiterzulesen. Ich werde die Baumwollhandschuhe der Archivare tragen wie vor Jahren, werde mein Tonbandgerät einschalten und leise sprechen, indem ich das zerbrechliche Buchwesen vorsichtig in Händen halte. Sobald eine Seite des Buches abgetastet sein wird, werde ich das Eisfach schließen und in der Wohnung spazieren, ein Gramm Walfischorchester im Kopf für ein Jahr. — Elizabot ist zurück. — stop
1 komma 2 minuten
nordpol : 8.08 — Im Begrüßungstext einer Kindle-Buchsammelmaschine (Paperwhite) werden für Péter Nádas Roman Buch der Erinnerung (1024 Seiten) 20 Stunden und 29 Minuten typische Lesezeit verzeichnet, präzise betrachtet: 1,2 Minuten Beobachtungszeit pro Seite des Buches. Kuriose Geschichte. — stop
tokio
ginkgo : 0.22 — Ein Kind will sehen. So fängt es immer an, und auch damals fing es so an. Ein Kind wollte sehen. Der Junge konnte laufen, und er konnte an eine Türklinke heranreichen. Es steckte keinerlei Absicht dahinter, nur der instinktive Tourismus des Kindesalters. Eine Tür war dazu da, aufgestoßen zu werden; er ging hinein, blieb stehen, schaute. Da war niemand, der ihn beobachtet hätte; er drehte sich um und ging fort, wobei er sorgsam die Tür hinter sich zumachte. — Ich erinnerte mich an diese Zeilen Julian Barnes, als ich zum ersten Mal von B. hörte, der eine tiefe Leidenschaft für die Stadt Tokio entwickelt haben soll, obwohl er nie dort gewesen ist. Was weiß ich von B. an diesem Abend? Eigentlich nicht sehr viel. B. ist 52 Jahre alt, ungefähr 1,88 Meter groß, schlank, studierte slawische Sprachen, arbeitete als Übersetzer, Altenpfleger, Autor von Restaurantbeschreibungen, Dramaturg, Postschaffner, seit vier Jahren nun weder das eine noch das andere, weil er wohlhabend geworden ist durch unerwartete Erbschaft. Er blieb damals vor vier Jahren in seiner kleinen Wohnung, kaufte sich einen Computer mit einem großen Bildschirm und muss irgendwie in Tokio gelandet sein. Seinen ersten Besuch mittel der Streetviews (Google-Maps) beschreibt er als ein wesentliches Ereignis seines Lebens, er sei irgendwo in der Stadt gelandet, habe sich gewundert über die Enge der Straße, auf welcher er sich plötzlich befand, und über Bäume, die aus Häusern zu wachsen schienen. Ein Mann stand vor einem Getränkeautomaten, er schaute in die Kamera, die ihn gerade ablichtete. Seine Augen, durch Unschärfe verfremdet, waren nicht zu erkennen, aber eine Zigarette, die der Mann zwischen Finger seiner rechten Hand geklemmt hatte. So, erzählte B., habe es angefangen. Stunde um Stunde, Tag für Tag, bewegte er sich fortan durch die Stadt. Immer wieder entdecke er Spuren seltsamster Geschichten. Ich habe eine Tür geöffnet. — stop
nach ferney nach essaouira und von einer kaktusblüte
nordpol : 2.52 — In Genf, an einer Straßenkreuzung von der Rue de Rhone zur Rue d’Italie, sind seltsame Dinge zu bemerken. Männer und Frauen nämlich, die sich kreisend oder auf und ab über das Pflaster bewegen, während sie das Grünlicht der Ampeln erwarten. Bei genauerer Betrachtung möchte man meinen, sie könnten vielleicht nicht in der Lage sein, stillzustehen. Sie tragen Damenkostüme, Herrenanzüge, feine Schuhe, sie sind vermutlich gerade aus dem Büro gekommen, befinden sich auf dem Weg vielleicht nach Hause, zur Busstation nach Ferney, oder ins Kino, ins Theater, zum Jazz, die Sonne scheint, erste warme Stunden. Aber auch an einem eiskalten Tag im Winter würden sie sich genau so bewegen, in Kreisen oder auf und ab. Man nimmt jetzt nur noch selten den Aufzug, man nimmt die Treppe, der Blick hin zum Handgelenk, zur Apparatur, die Pulse, Temperaturen, und auch den Schlaf auszumessen vermag. Und noch einen Kreis gleich hinterher und über die Straße, wie viele Schritte, wie viele Schritte heute, wie viele Schritte mehr als gestern, wie weit bin ich gekommen in diesem Monat, vielleicht bis nach Chambéry, vor dem Sommer noch könnte ich Montpellier erreichen, im Winter Valencia, am Ende des kommenden Jahres werde ich in Essaouira sein. – Es ist 2 Uhr und 44 Minuten. Gerade eben noch habe ich meinen Kaktus beobachtet, wie er blüht. Wenn mein Kaktus blüht, hält er seine Blüte auch bei Nacht geöffnet, als ob er ahnte oder wüsste, dass in meinen Zimmern Nachtbienen und Nachtwinde wohnen. — stop
landschaft überall
romeo : 1.02 — Irgendwann, nachdem er wach geworden am Nachmittag, muss K. einen Brief notiert haben. Bei diesem Brief nun handelt es sich um einen besonderen Brief, denn er ist von einem mutigen Mann ausgedacht, von einem Mann, der lange Zeit überlegte, wie er seine Gedanken formulieren sollte, an den Vorstand, der über sein Leben zu bestimmen wünscht. K. solle anstatt vier in Zukunft sechs Nächte einer Woche zur Arbeit an den Maschinen erscheinen. Es sind feine, ja zarte Worte, die K. für seine Ansprache wählte, ich hätte sie ihm niemals zugetraut, höflich und traurig: Nun werde ich, schrieb K., sechs weitere Stunden in einem Zug verbringen, die nicht bezahlt sein werden, Stunden, da meine Frau mich vermissen und möglicherweise einmal deshalb verlassen wird, es ist eine Tragödie! Ich habe diesen Brief, in dem von einer Tragödie die Rede ist, vor wenigen Minuten fotografiert, er wurde von Hand geschrieben, ich erkannte die Schrift eines betrunkenen Kindes, diese Hände, sie zitterten, weil K. sich fürchtete, in dem Moment, da er schrieb, oder überhaupt. Ob er mir den Brief auf seinem Computer aufschreiben könne, fragte ich K.: Würdest Du mir Deinen Brief bitte per E‑Mail senden, damit ich ihn weitergeben kann? So etwas habe ich nicht, antwortete K., einen Computer, E‑Mail, Internet. Er habe auch kein Telefon, fuhr er fort, kein Telefon mit Schnur, und auch kein Telefon, das er sich in die Hosentasche stecken könnte. Du bist der erste Mensch, setzte K. hinzu, der einen Brief, den ich geschrieben habe, fotografiert, als sei er eine Landschaft. Manchmal begegne ich K. im Zug, der zum Flughafen fährt, ich grüße ihn und er freut sich. Er liest dort seit Jahren immer in demselben Buch. Manchmal hält er das Buch fest an seine Brust gedrückt, dann ist er eingeschlafen. — stop
alice austen
echo : 1.58 — Vor längerer Zeit einmal wollte ich ein Haus besuchen, das die Fotografin Alice Austen viele Jahre ihres Lebens bewohnte. Ich erinnere mich, es war ein bitterkalter Tag gewesen, Schnee bedeckte Staten Island, und die Luft war so eisig, dass selbst die Möwen nicht zu fliegen wünschten. Vermutlich deshalb, weil es so kalt gewesen war, blieb ich an der Railway Station Clifton im Zug, anstatt auszusteigen und ein paar Meter zu Fuß zu Austens Haus zu gehen. Ich fuhr weiter bis nach Tottenville, wo der Zug eine halbe Stunde wartete, um dann dieselbe Strecke zurückzufahren. Ein Angestellter der Bahngesellschaft dampfte wie eine Lokomotive über den Bahnsteig von Waggon zu Waggon, er schlug Eis von den Trittbrettern des Zuges. Als wir uns wieder in Bewegung setzten, ließ er sich auf eine Bank fallen und schlief sofort ein. Auch auf meinem Rückweg zum Fährschiffterminal stieg ich in Clifton nicht aus, es war noch immer stürmisch, und ich vergaß das Haus, das ich besichtigen wollte, und Alice Austen, die tausende Fotografien Manhattans zu einer Zeit angefertigt hatte, da das Fotografieren noch Mut, Kraft und Ausdauer erforderte. Gestern habe ich ein wenig Zeit auf der Suche nach ihr verbracht. Sie soll als einzige Frau der Insel Besitzerin eines Automobils gewesen sein. Auf einer Fotografie ist ihre Lebensgefährtin Gertrude Tate zu sehen, wie sie stillhält. Die junge Frau sitzt auf einer Veranda, die heute noch existieren soll, umgeben von Blumen, einer Wildnis so wild, dass sie die nahe Küste verbirgt. Auf einer weiteren Fotografie, die ich noch nicht kenne, soll Alice Austen an derselben Stelle im Alter von 26 Jahren zu sehen sein, auch sie sitzend, eine Selbstaufnahme, unter einem Strauß Blumen verborgen ein Gummiball gefüllt mit Luft, die sie mittels einer kräftigen Bewegung ihrer Hand durch einen Schlauch zu ihrer Kamera gepresst haben musste, um die Lichtaufnahme auszulösen. Ein Geräusch vielleicht, wie ein Atemzug möglicherweise, oder ein Seufzen. — stop