sierra : 18.16 — Zwei Stunden Broadway südwärts bis Fultonstreet. Eine kleine Kirche, St Paul’s Chapel, Granitsteine, Gräber, ein Garten unter Bäumen. Ich kenne diesen Garten, diese Bäume, eine Fotografie genauer, die einen Staubgarten zeigt, Sekundenzeit entfernter Gegenwart, ein Bild, das im September 2001 aufgenommen wurde, am elften Tag des Monats kurz nach zehn Uhr vormittags. Hellgraue Landschaft, Papiere, größere und kleinere Teile, liegen herum, Akten, Scherben. Auch die Bäume vor der Kirche, helle Gestalten, als hätte es geschneit, eine feine Schicht reflektierender Kristalle, Spätsommereis, das an Wänden, Stämmen und an den Menschen haftet, die durch den Garten schreiten, träumende, schlafwandelnde, jenseitige Personen im Moment ihres Überlebens. Ein merkwürdiges Licht, beinern, nicht blau, nicht blühend wie am heutigen Tag um Jahre weitergekommen. Etwas fehlte in der Luft im Raum unter dem Himmel über Manhattan sehr plötzlich, war so fein geworden, dass es von flüchtenden Menschen eingeatmet wurde. Kaffeetassen. Treppenläufe. Hände. Feuerlöscher. Füße. Waschbecken. Nieren. Stühle. Schuhe. Computerbildschirme. Arme. Brüste. Kopfschalen. Radiogeräte. Bleistifte. Telefone. Ohren. Augen. Herzen. stop
Aus der Wörtersammlung: treppe
fifth avenue – lemur
tango : 20. 56 — Pappkartonhütten auf Treppen, die zu Kirchenräumen führen, zerlumpte, sich bewegende Gebilde. Seit Stunden geht mir ein Satz nicht aus dem Kopf, der in New Yorker Subway – Zügen immer wieder einmal zu lesen ist: Give the homeless the kind of change they can really use. Irgendetwas irritiert in dieser Zeile. — Abend. Warm und schwül der Atem der Straßen. Vor der St. Patricks Cathedral, Fifth Avenue, liegt eine Frau ohne Bewusstsein um einen Hydranten gewickelt auf dem Boden. Eine Ratte zerrt an ihrem Gepäckwagen. Das nervöse Tier hebt den Kopf, scheint mich zu betrachten, diesen Mann in feinen Hosen, mit tadellosen Wanderschuhen, der mit weit geöffnetem Mund vorsichtig atmet. Beißender Gestank ruht in der Luft. Ich stehe, ich denke, sie wird bald sterben, diese Frau wird bald sterben. Sie könnte eine Mutter sein. Ihre eitrigen Hände. Ihr von Schmutz graues Gesicht. Ihr staubiges Haar. Ihre tief in den Kopf eingesunkenen Augen. Was ist, was nur um Gotteswillen ist geschehen, dass sie so endet? — stop
=
romeo : 0.03 — t r ä n e n k a n ä l c h e n
djuna barnes
tango : 6.38 – Mit Blitzen, die Himmel und Erde verbinden, ist das so eine Sache. Man hört sie nicht kommen. Sie sind immer Erinnerung, nie Ereignis, haarfeine Dampfluftröhren, die Erscheinung erzeugen. Unlängst, während ich im Regen spazierte, muss ich von einem Blitz dieser Art getroffen worden sein, weil ich kurz darauf auf einer Rolltreppe Djuna Barnes gesichtet habe. Sie fuhr nach unten, ich nach oben. Ein faszinierender Anblick. Da waren ein Paar heller, eleganter Schuhe, ein dunkelgrünes, verwegen geschnittenes Kleid, weiterhin ein blauer Sommerhut. Dieser Hut nun brannte lichterloh auf ihrem Kopf. Eine Art Feuer war das gewesen, das ölig rußte, und als sie nahe herangekommen war, auf gleiche Höhe ungefähr, Ruß auch auf ihrer Nase. Dann wachte ich auf und hörte noch, wie ich zu mir sagte: Es regnet. – Diese kleine Geschichte ereignete sich vor etwa einer Stunde. Gerade eben wird es hell und es regnet tatsächlich, weshalb ich im Moment nicht ganz sicher bin, wo ich mich eigentlich befinde. — stop
kapriole
sierra : 6.15 — Ich erwachte, weil ich Schritte hörte, tanzende Füße in Tanzschuhen auf Parkett. Unmöglich, dachte ich, so etwas geht doch nicht. Ich machte Licht und hüpfte aus dem Bett. Wie ich so im geräumigen Hotelzimmer stand, bemerkte ich, die Geräusche der Schuhe kamen nicht von oben, sondern von unten her, weshalb ich eine Treppe abwärts vor verdächtiger Türe energisch klopfte, weshalb mir geöffnet wurde, weshalb ich unverzüglich in ein höchst seltsames Zimmer trat. Tisch und Stühle und Bett und weitere kommode Dinge befanden sich dort an der Decke. Ein Mann, sehr fein gekleidet, ein Tänzer im dunklen Anzug grüßte kopfüber zu mir herunter. Er sagte, angenehme Stimme: Guten Morgen, mein Herr! Sie sind wohl einer, der an der Decke zu gehen vermag. — stop
loop
sierra : 0.08 — Geschichten, die sich gut begründet wiederholen, vertraut gewordene Geschichten. Diese hier, zum Beispiel, im Februar 2008 aus der Luft gefischt: Da war mir doch in den Zeiten der Vogelgrippe, bei kleineren Turbulenzen, im Gang eines Flugzeuges eine uralte Lady entgegengekommen, deren Gesichtszüge mich sofort an Coco Chanel erinnerten. Von zierlicher Gestalt trug sie einen dunklen Mantel, leichte, flache Schuhe und machte Schritte wie ein Matrose auf hoher See. Vor allem ihr schlohweißes Haar und ihr äußerst willensstarker Blick sind nah geblieben, auch ihr hellrot geschminkter Mund, der mindestens achtzig Jahre alt gewesen sein musste, und doch beinahe wirkte wie der Mund einer jungen Frau. Eines Abends, während ich einer Nachrichtensendung folgte, erinnerte ich mich an diese seltsame Frau, und ich stellte mir vor, wie sie aus der dritten Etage eines Mietshauses in den Keller steigt, um ein Rollwägelchen zu suchen, das sie dort für immer abgestellt hatte, nachdem sie beim Einkaufen um ein Haar gestürzt war. Es ist also früher Morgen, es ist Winter und noch dunkel, als die alte Dame das Haus verlässt. Ich sehe sie mit vorsichtigen Schritten in ihrem Mantel und Pelzstiefelchen über die Straße gehen. An der ersten Ampel biegt sie nach links ab, überquert einen Platz, folgt einer weiteren schmalen Straße, jetzt ist sie vor einem Supermarkt angekommen. Sie stellt ihr Rollwägelchen in der Nähe der Kasse ab, geht in die Getränkeabteilung und nimmt eine Flasche Wasser aus dem Regal. Sie trägt die Flasche zu ihrem Wägelchen, kehrt zurück, nimmt sich die nächste Wasserflasche aus dem Regal und so geht das fort, bis das Wägelchen gut gefüllt ist und ein wenig pfeift, wie es auf dem Heimweg über die Straße gezogen wird. — Jetzt ist die alte Frau vor der Tür ihres Hauses angekommen. — Jetzt stellt sie das Wägelchen neben die Treppe, die zur Haustüre führt. — Jetzt ist sie mit einer der Flaschen im Haus verschwunden. — Zehn Minuten vergehen. Dann erscheint sie wieder auf der Straße. Sie hat ihren Mantel ausgezogen, trägt eine graue Jacke und Sportschuhe. Kurz, für zwei oder drei Sekunden, hält sie sich am Geländer der Treppe fest. — stop
geraldine beobachtet wolken
~ : geraldine
to : louis
subject : WOLKEN
Dieser wundervolle Himmel über mir, Mr. Louis, ich schreibe Ihnen, dass ich glücklich bin. Liege in meinem Stuhl und schaue den Wolken zu, wie sie einmal größer und dann wieder kleiner werden. Ich glaube, sie leben und wenn sie einmal verschwinden, sind sie nicht wirklich verschwunden, sondern nur in andere Wolken getaucht. Ja, so ist das mit all dem Leben, das ich am Himmel sehen kann. Ich liege da und träume und das Schiff brummt unter meinem Rücken und manchmal schaue ich zu meinen kleinen Füssen hin und wackle mit den Zehen. Stellen Sie sich vor, ich habe sie bemalt, nein, ganz sicher, ich habe sie bemalt, und ich glaube nicht, dass ich Ihnen noch erzählen muss, warum ich sie bemalt habe. Er wird schon noch vorbeikommen, jawohl, ich bin mir sicher, bald wird er nach mir sehen, wird zaghafte Blicke auf meine Füße werfen und sofort werden sie sich erwärmen, nein, glühen werden sie, und ich werde meine Strümpfe und Schuhe in die Hand nehmen und hoffen, dass niemand mich so sehen wird, wie ich neben ihm laufe, barfuß, obwohl doch vor wenigen Tagen noch Eisberge im Wasser trieben. Er kommt gerade, mein kleiner Steward, kommt gerade die Treppe herauf. Ich kenne die Geräusche seiner Schritte. Ich habe Fieber, Mr. Louis, ich habe Fieber, und manchmal denke ich, dass ich all das hier nur träume, das Schiff, die Wolken, meinen tapferen Vater, meine immerzu weinende und ebenso tapfere Mutter, die Eisberge und Delfine, und dass ich verliebt bin, all das nur träume. Aber wer könnte in einem Traum noch so kräftig mit den Zehen wackeln, dass selbst die Möwen von der Reling flüchten? — Ich grüße Sie herzlich! Ahoi! Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 2.02.2009
22.15 MEZ
geraldine : ein wunder geschieht
~ : geraldine
to : louis
subject : EIN WUNDER GESCHIEHT
Als es noch dunkel war, bin ich wach geworden, weil das Schiff unter mir schlingerte. Wasser schlug gegen das Bullauge über meinem Bett. Ich setzte mich auf und spürte, dass ich an diesem Tag Kraft haben würde. Ich hatte so viel Kraft, dass ich mühelos meinen Bademantel und meine Jacke anziehen konnte. Nur als ich mir die Schuhe binden wollte, wurde mir schwindelig und ich wäre um ein Haar umgefallen. Wissen Sie, Mr. Louis, dass ich plante, ganz allein für mich das Hauptdeck zu erklimmen. Verrückt, finden Sie nicht auch? Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, weil der Seegang mich schaukelte, aber ich schaffte eine Treppe und noch eine Zweite, dann ging ich in die Knie. Ein älterer Herr weckte mich, seine Haut war schwarz und sein Haar schlohweiß. Er half mir aufzustehen, und ich sagte ihm, dass ich das Hauptdeck erreichen wollte, aber anstatt mich vor das Meer zu setzen, setzte er mich in ein Café und hörte mir zu und wunderte sich, dass ich so blass war. Ich habe ihm nichts von meinen schweren Gedanken erzählt, aber davon, dass ich Seepostbriefe an meine Schwester Yanuk schreibe, die ich sehr liebe, meine Zwillingsschwester, die ein Kind erwartet, ein Kind, das vielleicht einmal wie seine Mutter Yanuk heißen wird. Ich glaube, er freute sich, und dann erzählte er eine feine Geschichte. Er sagte, dass er vor vielen Jahren sehr verliebt gewesen sei. Die Frau, die er liebte, war eine weiße Frau gewesen, die in einer der besseren Gegenden der Stadt wohnte, während er selbst in einem ärmlichen Viertel in einem Backsteinhaus lebte. Anfangs schrieb sie ihm Briefe, sagte der Mann, aber er hatte diese Briefe zunächst nicht erhalten, weil der Briefkasten seines Hauses verschwunden war. Sie besuchte ihn und fragte, warum er ihr nicht antworten würde, und er erzählte, dass nicht nur der Briefkasten verloren gegangen sei, sondern das ganze Haus sich in Auflösung befinden würde. Dann geschah ein Wunder. Am übernächsten Tag kam ein Postauto mit einem Postmann, der einen feuerroten Briefkasten an das Haus schraubte, während der alte Mann, der damals noch jung gewesen war, zugesehen hatte. Auf den Briefkasten war die Adresse seines Hauses und sein Name geschrieben und er war mit einem Dutzend großartiger Briefmarken beklebt. Natürlich hatte sich der alte Mann sehr gefreut. Und als er am nächsten Tag wieder zum Briefkasten ging, lag ein Brief für ihn darin. Ich musste weinen, Mr. Louis, als ich diese Geschichte hörte. Dann trug mich der alte Mann mit einem Steward in meine Kajüte, und da sitze ich nun auf meinem Bett und schreibe an Sie, während die Gischt über meinem Bett mit meinem Bullaugenfenster spricht. — Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 03.12.2008
22.08 MEZ
anleitung zum glücklichsein
ginkgo : 18.25 — Am letzten Tag des Septembers unterm Regenschirm spaziert. Zunächst regnete es Regensand, dann Regenreis, dann regnete es kleine Frösche. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, in einem Film angekommen zu sein, der von Louisiana handelt. Das war ein feines Gefühl unterm klingenden Schirm am Ufer des Mississippi zu stehen und den Fröschen zu lauschen, die auf ihrer letzten Reise vom Himmel erstaunliche, pfeifende Geräusche von sich gaben. Als ich so im Froschregen am großen Fluss stand, erinnerte ich mich an einen kleinen Text, den ich im vergangenen Jahr bereits geschrieben habe. Und sofort wusste ich, dass ich diesen Text, sobald ich wieder zu Hause angekommen sein würde, noch einmal lesen sollte. Es ist noch immer ein beruhigender Text, ein Text, der mich berührt. Deshalb will ich diesen kleinen Text, eine Anleitung zum Glücklichsein, noch einmal für Sie wiederholen: „Man verlasse das Haus. Sorgfältig alle Bewegungen des Verkehrs beachtend, gehe man so lange durch die Stadt, bis man auf eine Buchhandlung trifft. Dort kaufe man: Cortazar, Julio – Geschichten der Cronopien und Famen. Dann gehe man spazieren, trage den schmalen Band durch die Straßen, bis man einen Park erreicht, wenn Sommer, oder ein Café, wenn Winter ist. Man nehme Platz und lese. Über den Umgang mit Ameisen beispielsweise, oder wie wunderbar angenehm es ist, ein Spinnenbein postalisch an einen Außenminister aufzugeben. Oder man lasse sich im Uhrenaufziehen oder im Treppensteigen unterweisen. Jetzt bereits wird man eine leichte Wärme spüren, die aus der Gegend des Bauches nach oben und unten in Arme und Beine auswandert. Also lese man weiter, lausche jenen angenehmen Geräuschen im Kopf, – diesem sagen wir: Jedermann wird schon einmal beobachtet haben, dass sich der Boden häufig faltet, dergestalt, dass ein Teil im rechten Winkel zur Bodenebene ansteigt und der darauffolgende Teil sich parallel zu dieser Ebene befindet, um einer neuen Senkrechte Platz zu machen. Oder jenem: Treppen steigt man von vorn, da sie sich von hinten oder von der Seite her als außerordentlich unbequem erweisen. It works.”
taucher
himalaya : 0.12 — Menschen, die telefonierend in U‑Bahnen sitzen, machen Geräusche, als funkten sie aus einer anderen Zeit herüber, als wären sie Konserve, als würde eine uralte Schallplatte abgespielt, als würden sie in einem U‑Boot langsam sinken, kreischende, knisternde, krachende Töne aus tonnenschwerer Tiefe, aus dem Inferno spielender Kraken Stimmen, die Fragmente flüstern, sodass man nur noch verdammte letzte Dinge antworten kann. Dann aber Stille. Ein weiteres Ende. Man steht herum, man weiß nichts zu tun, man öffnet die Tür, Salz stürzt die Treppe herauf, und Luft, eine Welle feuchter Luft, vom Wasser gehetzt, das bereits um die Ecke donnert. Kaum hat man einen Gedanken gefasst, ist alles geflutet, der Flur, das Bad, die Lunge. Jetzt treiben sie herein, schweben in der Küche herum, machen Zeichen und Sätze, berichten von kleinen Schreibtischkriegen, Kommandanten der Tage. — stop