olimambo : 0.02 — Wieder einmal wahrgenommen, dass ich meine Gegenwart nicht in modernen Signalwörtern erzählen kann. Wenn ich Gegenwart erzähle, verwende ich Wörter einer Zeit, die mir eine alte Zeit zu sein scheint: Automobil stop Hospital stop Grammophon stop Schreibmaschine stop Traummechanik stop Sprechapparat stop Schallplatte stop Handkuss stop. – Da ist noch etwas Weiteres an diesem Abend, ein Gerücht, das mich fröhlich stimmt, sobald ich darüber nachzudenken beginne. Man erzählt, Autoren des New Journalism sollen lange, sollen viele Jahre dauernde Zeit unter ihren Figuren gelebt haben: Gay Talese stop Truman Capote stop Tom Wolfe stop. Man ist demzufolge nicht verrückt. Oder man ist verrückt, aber nicht allein verrückt. — Warum nur duftet dieser Abend nach Zimt und Fröschen? — stop
Aus der Wörtersammlung: uma
napapiin
india : 6.22 — Schaute gegen den Himmel. Bemerkte, dass sich die Dunkelheit wie eine Flüssigkeit verhielt. Vögel hüpften in dieser feuchten Lichtlosigkeit in Kastanienbäumen von Ast zu Ast, ein traumartiges Bild. Vielleicht habe ich etwas gesehen, das ich nur deshalb beobachten konnte, weil ich ohne jeden Grund auf der Straße stand, wie aus einem Versehen heraus, ein Mann, der die falsche Tür genommen hatte. Jetzt, etwas später, ahne ich, dass ich dort vor dem Haus gelandet war, weil ich insgeheim wünschte, mit meinen Gedanken an den gewaltsamen Tod eines Torhüters, unter freiem Himmel zu stehen. Und wie ich so wartete, hörte ich die Stimme seiner mutigen, jungen Frau in meinem Kopf, eine Stimme, die versuchte, von all dem Wahnsinn, dem Wahnsinn des Verheimlichens zu sprechen. Da war einmal ein Mensch gewesen, der nicht weiterleben konnte, der sterben musste, weil er seine Verletzlichkeit, seine Schwäche, seine Menschlichkeit nicht zeigen durfte oder glaubte, sie nicht zeigen zu dürfen. So könnte das gewesen sein. Ein Mensch, der lange Zeit über Wasser hastete. So weit ist er gelaufen, dass kein Land mehr zu sehen, kein Laut mehr zu hören gewesen war. — 2 Uhr und fünfzehn Minuten. Die Welt dreht sich, um einen Atemzug langsamer geworden, weiter, immer weiter. Soeben wurde amtlicherseits die Öffnung folgender Weihnachtspostämter, nördliche Hemisphäre, bekannt gegeben: Nordpol-Grönland Santa Claus Nordpolen, Julemandens Postkontor DK-3900 Nuuk / Finnland Santa’s Main Post Office FIN-96930 Napapiin / USA Santa Claus Indiana 47579.
aquarium
whiskey : 0.01 — Ein seltsames Geräusch, das mich weckte, als würden singende Grillen in meinem Zimmer sitzen. Ich stand dann auf und träumte in der Küche, während ich das Frühstück machte, noch etwas weiter, aber bald hörte ich es wieder, das Geräusch durch den Flur um die Ecke. Nein, Grillen waren das nicht, auch keine heiseren Vögel. Was ich hörte, war das glückliche Trompeten einer Herde Tiefseeelefanten, die im Aquarium zwischen Johnson und Melville im Kreis herumspazierte. Nicht größer als Murmeln und von tiefblauer Farbe, tasteten sie mit haarfeinen Rüsseln im Sand und an den Scheiben. Die ein oder andere Dschungelpflanze hatten sie, während ich schlief, aus dem Boden gerissen, überhaupt war die Landschaft, die ich seit Jahren kenne, in Aufruhr geraten, Muschelhäuser segelten durchs warme Wasser, auch Panzerwelse und ein paar Sumatrabarben, ohne Fassung, wie irr, mit dem Bauch nach oben. Ein faszinierender Anblick, ein Tollhaus. Wie ich mich liebevoll über das Aquarium beugte, hoben sie ihre Rüssel aus dem Wasser und ich spürte den Luftzug ihrer Instrumente auf der Stirn. Und jetzt ist Mitternacht geworden, das Ende eines wunderschönen Tages der Beobachtung, den ich auf meinem Gartenstuhl verbrachte. Ich habe weder gelesen noch sonst gearbeitet, nur geschaut habe ich und gestaunt. — stop
raumschiff
india : 20.56 — Eine Libelle gegen den Abend zu, marineblau, die sich nahe meiner Nase in die Luft setze. Bald eine Viertelstunde betrachtete sie mich oder schlief, während ich einen Roman beobachtete und doch zugleich an entfernte Dinge dachte, an eine Mondlandung vor vierzig Jahren zum Beispiel, und an die Nachricht, das durchschnittliche Alter der Besatzung des Flugzeugträgers USS Harry S. Truman, dessen Cruise-Missiles Bagdad bombardierten, habe 19 Jahre betragen. Und da war noch ein anderes, ein wärmendes Bild in meinem lesenden Kopf, von dem ich gestern noch während eines Spazierganges in einer Weise erzählte, als wäre ich leibhaftig in nächster Nähe gewesen, als auf hoher See der Rüssel eines Tiefseeelefanten den Schrei einer Möwe derart lustvoll imitierte, dass tatsächliche Möwen, ein Schwarm, aus dem heiterem Himmel stürzten. — Ein lachender Mund, der sich langsam näherte. — Ein Raumschiff. — Wie alle Geschichten plötzlich endeten und auch die Zeit. — stop
von der hölle von der hoffnung
tango : 1.17 — Ein Freund erzählt von Nächten, die er vor 30 Jahren in den gefährlich gewordenen Straßen und auf den Dächern über der Stadt Isfahan verbrachte. Das Rufen tausender Stimmen: Allah-o-Akbar. Wir haben das erfunden, um den Schah zu vertreiben, auch ältere Menschen konnten sich in dieser Weise bemerkbar machen. Wir kämpften für Demokratie, hörten BBC, um herauszufinden, ob irgendjemand wahrnimmt, was mit uns geschieht. Kannst Du verstehen, wie ich mich jetzt fühle? — Furchtbar wurden sie betrogen, eine Generation im Exil. – Kurz nach Mitternacht. Fereshteh Ghazi, junge Journalistin, notiert: Tonight, like past nights, the chants of “Allah-o-Akbar” were heard on roof tops of Tehran & other cities. Seit Tagen schreibt sie sich die Finger wund. Persiankiwi aber, dessen Zeichen ich viele Stunden lang auf dem Bildschirm erwartete, ist verstummt. Vorgestern noch Zeilen auf Twitter folgende: > just in from Baharestan Sq — situation today is terrible — they beat the ppls like animals 3:34 PM Jun 24th I see many ppl with broken arms/legs/heads — blood everywhere — pepper gas like war 3:35 PM Jun 24th
they were waiting for us — they all have guns and riot uniforms — it was like a mouse trap — ppl being shot like animals 3:53 PM Jun 24th saw 7/8 militia beating one woman with baton on ground — she had no defense nothing — sure that she is dead 3:55 PM Jun 24th so many ppl arrested — young & old — they take ppl away — we lose our group 3:59 PM Jun 24th ppl run into alleys and militia standing there waiting — from 2 sides they attack ppl in middle of alleys 4:01 PM Jun 24th all shops was closed — nowhere to go — they follow ppls with helicopters — smoke and fire is everywhere 4:03 PM Jun 24th phone line was cut and we lost internet — getting more difficult to log into net 5:05 PM Jun rumour they are tracking high use of phone lines to find internet users — must move from here now 5:09 PM Jun 24th reports of street fighting in Vanak Sq, Tajrish sq, Azadi Sq — now — Sea of Green — Allah Akbar 5:14 PM Jun 24th in Baharestan we saw militia with axe choping ppl like meat — blood everywhere — like butcher — Allah Akbar — 5:16 PM Jun 24th they catch ppl with mobile — so many killed today — so many injured — Allah Akbar — they take one of us — 5:18 PM Jun 24th Lalezar Sq is same as Baharestan — unbelevable — ppls murdered everywhere — 5:19 PM Jun 24th they pull away the dead into trucks — like factory — no human can do this — we beg Allah for save us — 5:23 PM Jun 24th Everybody is under arrest & cant move — Mousavi — Karroubi even rumour Khatami is in house guard — 5:28 PM Jun 24th we must go — dont know when we can get internet — they take 1 of us, they will torture and get names — now we must move fast — 5:34 PM Jun 24th thank you ppls 4 supporting Sea of Green — pls remember always our martyrs — Allah Akbar — Allah Akbar — Allah Akbar 5:36 PM Jun 24th Allah — you are the creator of all and all must return to you — Allah Akbar 5:39 PM Jun 24th — stop
feuerkäfer
himalaya : 15.01 — Mit Freude an der Entdeckung, an der Erfindung leuchtender Wörter : Piniensynapse Bobolino Lamelleniris Timbuktu Posaune Patagonien metropolitan Kirschwasser Kolonialwarenladen Unterwasserpanther Kamel Karawane Zündholz Lumumba Gottesanbeterin Kakteenorchester Flaneur Neufundland Penelope Stamperia Ohrfeige Schirokko Himmelsleiter Hibiskus Sandsturm Ohrenkuss Papierlicht Nashornvogel Pingpong luxieren Salamander Depesche Engelszunge Pyramidenbahn Glühbirne Sumatra Madras Semaphoring Centralstation Feuerkäfer Labyrinth Nachthaus Ölträne Schneespinne Holololunder : silenzio. — Sonntag. Leichter Regen. Wie verdammt gut die Luft heut riecht. — stop
yanuk : medusenfliegen
~ : yanuk le
to : louis
subject : MEDUSEN
date : oct 4 08 8.55 a.m.
Gegen den Abend zu Höhe 286 erreicht. Wollte noch weiter steigen, heftiges Fieber zwang mich zur Ruhe. Zunächst lange Zeit geschlafen, nachdem ich mein Zelt errichtet hatte und vertäut mit dem Stamm des Baumes, der noch immer so kräftig ist, dass zwei oder drei Menschen ihn gemeinsam nicht umarmen könnten. Heute ist mir wohler, obwohl ich noch erhitzt bin. Auf Knien bewege ich mich über die Plattform, weil meine Schritte unsicher sind, habe das Gefühl zu schlingern. Ja, Mr. Louis, so schlafe ich und beobachte dann wieder das Steigen und Sinken der Medusenfliegen, es sind hunderte, vielleicht tausende Handteller große Wesen, deren Schirme langsam um sich kreisen. Und weil sie leuchten, ein zartes, blaues Licht, das pulsiert, das auf die Bewegung meiner Finger reagiert, als würden sie zu mir und mit mir sprechen, wird es nachts an dieser Stelle meiner Reise niemals dunkel. Habe nach langer Beobachtung festgestellt, dass sie miteinander verbunden sind, Fäden, sehr feines Werk, vielleicht freiliegende Neuronen, sodass ich den Schwarm der Medusenfliegen, als ein schwebendes Gehirn beschreiben könnte. Muss das weiter untersuchen. Hast Du schon einmal versucht, einen Fischschwarm zu zählen? Oder eine Vogelwolke? stop. Yanuk
eingefangen
15.58 UTC
1288 Zeichen
nahgespräch
india : 3.30 — Das schönste Glück in einer Welt, jenseits der virtuellen Welt, wenn es zwei Menschen möglich ist, sich zu sehen, zu berühren, zu umarmen, sobald sie miteinander sprechen und denken und lachen oder trauern oder streiten oder miteinander schweigen. — stop
geraldine : limonade
~ : geraldine
to : louis
subject : LIMONADE
Lieber Mr. Louis, stellen Sie sich vor, heute habe ich einen Vogel gefüttert. Ich lag, wie jeden Tag seit wir New York verlassen haben, auf einer Liege an Deck und habe geschlafen. Als ich meine Augen öffnete, saß eine Möwe vor mir auf der Reling. Ich habe mich vorsichtig aufgesetzt und etwas Brot in die Luft geworfen und die Möwe hat das Brot gefangen und ist sofort weitergeflogen. Seit gestern haben wir viel Wind. Papa kommt immer wieder vorbei und schaut nach mir, aber es geht ihm nicht gut, ihm ist übel und auch Mama liegt im Bett, weil sie beide seekrank sind. Ich glaube, sie wissen jetzt, wie ich mich fühle, immerzu fühle. Sie sehen beide gar nicht gut aus. Mir aber scheinen die hohen Wellen nichts auszumachen, ich sitze oder liege und schaue auf das Meer und hoffe, dass die Sonne nicht untergehen wird, bis wir in Europa sein werden. Die Möwen sind still hier draußen. Vielleicht wird ihr Schreien vom Wind fortgetragen. Ein wirklich kräftiger und kühler Wind, und der junge Kellner, der Stewart, wie man hier sagt, muss sich gegen ihn stemmen, wenn er über das Deck zu mir kommt. Er kennt meinen Namen. Er sagt, Mrs. Geraldine, ich soll mich um Sie kümmern, wollen Sie eine Limonade. Ja, und immer will ich sofort eine Limonade. Sie ist blau, Mr. Louis, noch nie zuvor habe ich blaue Limonade getrunken, sehr süße blaue Limonade, die nach Lakritze schmeckt. Ich sehe gerne seinen Händen zu, wie er die Flasche für mich öffnet, weil ich doch kaum Kraft habe die Flasche selbst zu öffnen. Er hat mir gestern gesagt, Mr. Louis, dass ich schön sei, fast durchsichtig, und dass er sich sehr gerne mit mir unterhalten würde. Sein Blick ist traurig, ich kann nicht sagen, warum er so traurig ist, wenn er mich anschaut. Manchmal schlägt er die Augen nieder, wenn ich ihn ansehe. Ich habe mir gedacht, dass er vielleicht seine Gedanken vor mir verbergen möchte. Ich weiß jetzt, dass ich nicht schreien werde, wenn er mich bald einmal küssen wird. Ich bin so müde, Mr. Louis, ich bin 20 Jahre alt, aber ich bin unendlich müde. Höre auf zu schreiben für heute: Ich grüße Sie herzlich. Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 24.6.2008
22.15 MESZ
doppelhelix
echo : 0.01 — Eine Fotografie, die James Watson und Francis Crick vor ihrem Modell einer DNA-Doppelhelix zeigt. Der Eindruck, Watson würde einen an der Zimmerdecke lungernden Trompetenkäfer betrachten, dessen Gattung zum Zeitpunkt der Aufnahme sich bereits abzuzeichnen beginnt.
Vielleicht sollte ich sagen, dass Trompetenkäfer rein pneumatische Arbeiter sind, während Posaunenkäfer sowohl pneumatische als auch mechanische Verfahren der Tonerzeugung in sich vereinigen. Drummer knallen elektrisch. Bassisten verfügen über einen Körper von ungewöhnlicher Länge, über ein Gehäuse, welches von feinsten Lamellenknochen ausgebildet sein wird. Gerade diese wohlklingenden Wesen werden eines Tages mit Zigarren leicht zu verwechseln sein. Das Erstaunliche an musizierenden Käferwesen ist, dass sie den Musiker sowohl als auch ein Instrument, das von Menschen erfunden wurde, mit sich führen, dass sie also symbiotische Wesen sind. — stop