Aus der Wörtersammlung: arbeit

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die stimme meines Vaters

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ulys­ses : 22.18 — Im Som­mer des Jah­res 2007, wäh­rend ich gera­de an mei­ner Bir­dy­ma­schi­ne arbei­te­te, tele­fo­nier­te ich mit mei­nem Vater. Es war eine war­me Zeit gewe­sen, die Fens­ter im weit ent­fern­ten Arbeits­zim­mer stan­den offen. Ich hör­te über eine Tele­fon­lei­tung, die ver­mut­lich durch den Welt­raum führ­te, Vögel im Gar­ten pfei­fen. Und da war noch etwas ande­res, da waren Funk­ge­räu­sche und der Gesang der Wale und ein Ras­peln, das Stimm­ge­räusch Bir­dys. Ich erin­ne­re mich, mein Vater beob­ach­te­te in jenem Som­mer Bir­dy täg­lich stun­den­lang vor sei­nem Com­pu­ter sit­zend. Sobald er einen Feh­ler bemerk­te, mel­de­te er den Feh­ler unver­züg­lich an mich wei­ter. Er nahm in die­ser zeit­li­chen Nähe Instru­men­te der klei­nen Erzähl­ma­schi­ne wahr, die ich gera­de erst in Betrieb genom­men hat­te. Von jeder Ent­de­ckung berich­te­te er in einer Wei­se, als ob er der ers­te Mensch gewe­sen sei, der sie zu Gesicht bekom­men hat­te, auf­ge­regt, kom­men­tie­rend, fra­gend. Ein sanf­ter Gedan­ke an einem Tag, da ich seit weni­gen Stun­den weiß, dass ich die Stim­me mei­nes Vaters nie wie­der hören wer­de. — stop
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ferry tales

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echo : 0.05 — Viel­leicht ist das so, dass sich die See­le eines Ortes auf Wör­ter über­trägt, wenn die­se Wör­ter an dem Ort, von dem sie erzäh­len, geschrie­ben wer­den in einer län­ge­ren Zeit der Beob­ach­tung. Ich sehe, höre, schme­cke, füh­le, was ich nicht erfin­den kann. Oder ich erfin­de, was ich nur an die­sem Ort arbei­tend zu erfin­den ver­mag. Ja, so könn­te das sein.  — stop
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wörterzunge

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alpha : 2.05 Hör­te im Bild­schirm­ge­spräch Tho­mas Bern­hard wie­der sagen: Alles ist immer wirk­lich, es gibt nichts Erfun­de­nes. Froh bin ich über die­sen Satz. Nach Selbst­be­ob­ach­tung scheint in mei­ner erzäh­len­den Welt ein Zeit­an­nä­he­rungs­werk zu exis­tie­ren, das nach Ent­de­ckung zunächst arbei­ten muss im Kopf. Ich habe ges­tern unter ande­rem den Ver­such eines Man­nes notiert, eine Bie­ne von Stein zu fabri­zie­ren, ein sozia­les Wesen, das in der Lage sein soll­te, sich in die Luft zu erhe­ben. Die­se Vor­stel­lung war mir zunächst fremd gewe­sen, mein eige­ner Gedan­ke. Als ich dann nach zwei Stun­den von einem Spa­zier­gang an den Schreib­tisch zurück­kehr­te, war mir der Mann und sein Unter­neh­men so ver­traut gewor­den, als wür­de er in einer benach­bar­ten Woh­nung leben, ich wür­de ihn besucht haben und über die Schul­ter geschaut, wie er etwas Fels­spat mit einem Mei­ßel­chen behut­sam fächert, dass es als Flü­gel­teil­chen bald ein­mal durch die Luft segeln könn­te. Es scheint viel­leicht so zu sein, dass sich mei­ne Wirk­lich­keit zunächst mit­tels einer Wör­t­er­zun­ge vor­sich­tig in unbe­kann­te Räu­me tas­tet. — Vier Uhr zwei in Homs, Syria. — stop
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ein ballon

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echo : 6.22 — Ein Vogel, ein Sper­ling, sitzt auf dem Sims vor mei­nem Fens­ter. Es ist kurz nach zwei Uhr. Der Vogel scheint zu schla­fen unter einem geschlos­se­nen Augen­lid, das ande­re Auge schaut mich an, wie ich mich vor­sich­tig nähe­re. Lang­sam fah­re ich mit dem Kopf an die Schei­be her­an. Ich glau­be, ich bin einem Sper­ling in mei­nem Leben noch nie so nahe gekom­men, nur Zen­ti­me­ter, etwas Glas, etwas Luft tren­nen uns. Der Vogel scheint mich in die­sem Moment sorg­sam zu beob­ach­ten, bei­de Augen sind geöff­net, er plus­tert sich, jetzt macht er bei­de Augen wie­der zu. Ich gehe zum Schreib­tisch, bin schläf­rig gewor­den, nein, ich darf mich auf kei­nen Fall aufs Sofa set­zen, das wäre das Ende der Arbeits­nacht. Ich notie­re: Auf dem Broad­way, Ecke 28. Stra­ße, steht ein Mann zwi­schen Autos vor einer Ampel. Er ver­kauft Pis­to­len, die Sei­fen­bla­sen erzeu­gen. Es ist kalt und win­dig, wes­we­gen dem Lauf der Pis­to­le nur klei­ne Sei­fen­bla­sen ent­kom­men. Der Mann schimpft vor sich hin, er droht dem Him­mel mit der Waf­fe. Die Ges­te bleibt ohne Wir­kung, wes­halb der Mann sich wie­der auf den Lauf sei­nes Werk­zeu­ges kon­zen­triert. Sobald ein kopf­gro­ßer Sei­fen­bal­lon doch ein­mal ent­steht, der Aus­druck empör­ter Zufrie­den­heit auf sei­nem Gesicht, aber dann platzt die Bla­se und er fängt wie­der von vor­ne an, wischt sich die Nase, die ihm davon­zu­lau­fen droht, rich­tet sich den Lum­pen, der sein Gesicht umhüllt, die Ampel springt auf Grün, Autos fah­ren an, wei­te­re Autos hal­ten. Es ist kalt heu­te. Ich gehe süd­wärts spa­zie­ren, bis ich den Uni­on Squa­re errei­che, sit­ze ein wenig in der Son­ne, Eich­hörn­chen wäl­zen sich wie Kat­zen auf dem san­di­gen Boden. Nach drei Stun­den keh­re ich zur Kreu­zung Broad­way Ecke 28 Stra­ße zurück. Ein Mann steht dort zwi­schen Autos vor einer Ampel. Er ver­kauft Pis­to­len, die Sei­fen­bla­sen erzeu­gen. Es ist der­sel­be Mann, den ich bereits beob­ach­te­te, es scheint sich bei die­ser Men­sche­n­er­schei­nung um einen Loop zu han­deln. Es ist denk­bar, dass es Hun­dert­tau­sen­de ähn­li­cher Loops in der Stadt New York zu beob­ach­ten gibt, Loops, die in der Sub­way sich voll­zie­hen, Loops in Büro­land­schaf­ten, Loops in Waren­häu­sern. Ich freue mich über die­se Ent­de­ckung. Der Vogel vor dem Fens­ter lun­gert dort immer noch her­um. Es ist jetzt schon viel spä­ter gewor­den, ich habe sehr lang­sam gear­bei­tet. – Astor Pia­zolla / El Con­cier­to De Luga­no. — stop

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255 jahre

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echo : 6.05 — Ich habe Fol­gen­des aus­ge­rech­net. Wenn ich jeden Tag 16 Stun­den arbei­te­te, in jeder die­ser Stun­den je eine Minu­te mit einem Men­schen spre­chen wür­de, ihm oder ihr die Hand geben, ihm oder ihr in die Augen sehen, dann könn­te ich mit 880 Men­schen am Ende eines Tages Kon­takt auf­ge­nom­men haben. Wenn ich nun 255 Jah­re in die­ser Wei­se arbei­te­te, ohne je einen Tag eine Pau­se ein­zu­le­gen oder Urlaub zu neh­men, wäre ich schließ­lich in der Lage, 82 Mil­lio­nen Men­schen per­sön­lich ken­nen­zu­ler­nen. Ich soll­te mög­lichst mit älte­ren Men­schen begin­nen, soll­te nach einem geeig­ne­ten, vor­zugs­wei­se mobi­len Haus für mein Unter­neh­men suchen, nach Spon­so­ren, Ver­pfle­gung, War­te­räu­men, einem Stab von Mit­ar­bei­tern. Ich stel­le mir vor, wie mei­ne begrü­ßen­de Hand nach ers­ten Jahr­zehn­ten der Arbeit sehr hart gewor­den sein wird, von ech­sen­ar­ti­ger Haut, auch könn­te viel­leicht ein gewis­ses Bedürf­nis ent­stan­den sein, mor­gens bereits vor nahen­den Besu­chern die Flucht zu ergrei­fen. — Was wäre nun zu unter­neh­men mit all den wah­ren, den erfun­de­nen, den beschei­de­nen, den groß­ar­ti­gen Minu­ten­ge­schich­ten, die sich wie Vögel in Schwär­men um mich her­um ver­sam­melt haben wer­den? — stop

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stand clear to the closing doors

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sier­ra : 0.27 —  War auf dem Weg süd­wärts in einem Sub­way­zug. Hat­te mein Notiz­buch in der Hand und notier­te Wör­ter für Geräu­sche, die ich hör­te. Heu­len. Schep­pern. Klir­ren. Zischen. Pfei­fen. Bald waren alle nahe lie­gen­den Mög­lich­kei­ten ver­zeich­net, und so fing ich an, Wör­ter zu erfin­den, dschumm dschumm. Das war kei­ne leich­te Arbeit, vor allem das Notie­ren von Hand in die­ser schwan­ken­den Land­schaft war kaum mög­lich gewe­sen, ich mach­te anstatt Wör­tern Zeich­nun­gen, die sich über eine gan­ze Sei­te mei­nes Notiz­bu­ches erstreck­ten. Und plötz­lich war da eine Stim­me, eine beson­de­re Stim­me. Es war die Stim­me einer Frau, die ich hör­te. Sie reis­te mit im Zug, ver­kün­de­te die Namen der Sta­tio­nen, die wir bald errei­chen wür­den. Die Stim­me kam aus einem Laut­spre­cher, der in die Decke des Wag­gons ein­ge­las­sen war. Eine sanf­te Stim­me, eine Stim­me, die ich viel­leicht des­halb wahr­ge­nom­men hat­te, weil man in ihr eine Spur von Anteil­nah­me ver­neh­men konn­te, eine Freu­de zu spre­chen, die­se Wör­ter auf­zu­sa­gen, Cham­bers Street. Ein Satz schien ihr beson­ders am Her­zen zu lie­gen: Stand clear to the clo­sing doors! Die­sen Satz wie­der­hol­te sie bei­na­he zärt­lich immer dann, wenn der Zug eine der Sta­tio­nen wie­der ver­las­sen soll­te. Es war wie eine Melo­die. Ich hör­te auf zu schrei­ben, und ich mach­te eine Ton­auf­nah­me, beob­ach­te­te den Aus­schlag des Zei­gers auf mei­ner Maschi­ne. Als wir eine hal­be Stun­de spä­ter die End­sta­ti­on des Zuges erreich­ten, South Fer­ry, mach­te ich mich auf die Suche nach der Frau, der ich zuge­hört hat­te. Es war eine klei­ne Frau, eine dun­kel­häu­ti­ge Frau mit wei­ßem Haar, sie war sehr fein geschminkt, etwa 60 Jah­re alt, sie unter­hielt sich, als ich an ihr vor­über­kam, mit einem Herrn, der wie sie selbst die blaue Uni­form der New Yor­ker Ver­kehrs­be­trie­be trug. Sie schien sehr glück­lich zu sein, vol­ler Freu­de, eine leuch­ten­de Per­son, dschumm dschumm. — stop

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mikado zu weilburg

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MELDUNG. Offen­sicht­lich bei Mond­schein von leich­tem Geis­tes­schwin­del befal­len, rück­te Charles M., 88, in der Oran­ge­rie zu Weil­burg mit­tel­ame­ri­ka­ni­schen Kak­teen mit­tels Mika­do­stäb­chen zu Lei­be. Man arbei­te, so der alte Herr kurz nach sei­ner Fest­nah­me wäh­rend ers­ter Befra­gung, an einer Sym­pho­nie für Sta­chel­horn. Es ist jetzt kurz nach 5. — Game over.
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minutengeschichten

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ulys­ses

~ : louis
to : dai­sy und vio­let hilton
sub­ject : MINUTENGESCHICHTEN

Lie­be Dai­sy, lie­be Vio­let! Grüß Euch ganz herz­lich! Frü­her Mor­gen hier unten bei uns. How are you doing? Ich hat­te, selt­sa­me Sache, in der ver­gan­ge­nen Nacht das Gefühl, irgend­je­mand wür­de mir, wäh­rend ich mit mei­nem Blei­stift arbei­te­te, über die Schul­ter schau­en. Mehr­fach habe ich mich umge­se­hen, auch vor­ge­ge­ben, rein gar nie­man­den bemerkt zu haben, und dann plötz­lich, na, Ihr wisst schon, ich bin mir sicher, Ihr wart in mei­ner Nähe gewe­sen, wie noch vor weni­gen Wochen, als ich unter­wegs war in New York, da habe ich Euch leib­haf­tig gese­hen nachts an Bord der John F. Ken­ne­dy – Fäh­re, wie ihr übers Salon­deck husch­tet, Gespens­ter, wür­de man viel­leicht sagen, Geis­ter, rei­zen­de Erschei­nun­gen. Sagt, habt Ihr nun gele­sen, was ich notier­te? Jenen klei­nen Text der Minu­ten­ge­schich­ten, den ich so gern mit der Hand wie­der­ho­le in schwe­ren Zei­ten? Ich schick ihn Euch zur Sicher­heit noch ein­mal mit, ja, ja, die Bücher­men­schen, das soll­tet Ihr wis­sen, das sind Per­so­nen, die selbst dann noch lesen, wenn sie spa­zie­ren gehen. Wenn sie ein­mal nicht spa­zie­ren gehen, sit­zen sie stu­die­rend auf Bän­ken in Park­land­schaf­ten her­um, in Cafés oder in einer Unter­grund­bahn. Dort, aus hei­te­rem Him­mel ange­spro­chen, wenn man sich nach ihrem Namen erkun­dig­te, wür­den sie erschre­cken und sie wür­den viel­leicht sagen, ohne den Kopf von der Zei­chen­li­nie zu heben, ich hei­ße Anna oder Vic­tor, obwohl sie doch ganz anders hei­ßen. Wenn man sie frag­te, wo sie sich gera­de befin­den, wür­den sie behaup­ten, in Petusch­ki oder in Brook­lyn oder in Kai­ro oder auf einem Amzo­nas­re­gen­wald­fluss. — Heu­te habe ich mir gedacht, man soll­te für die­se Men­schen eine eige­ne Stadt errich­ten, eine Metro­po­le, die allein für lesend durch das Leben rei­sen­de Men­schen gemacht sein wird. Man könn­te natür­lich sagen, wir bau­en kei­ne neue Stadt, son­dern wir neh­men eine bereits exis­tie­ren­de Stadt, die geeig­net ist, und machen dar­aus eine ganz ande­re Stadt, eine Stadt zunächst nur zur Pro­be. In die­ser Stadt lesen­der Men­schen sind Biblio­the­ken zu fin­den wie Blu­men auf einer Wie­se. Da sind also gro­ße Biblio­the­ken, und etwas klei­ne­re, die haben die Grö­ße eines Kiosks und sind geöff­net bei Tag und bei Nacht. Man könn­te dort sehr kost­ba­re Bücher ent­lei­hen, sagen wir, für eine Stun­de oder zwei. Dann macht man sich auf den Weg durch die Stadt. Wäh­rend man geht, wird gele­sen. Das ist sehr gesund in die­ser Art so in Bewe­gung. Auf alle Stra­ßen, die man pas­sie­ren wird, sind Lini­en auf­ge­tra­gen, Stre­cken, die lesen­de Men­schen durch die Stadt gelei­ten. Da sind also die gel­ben Krei­se der Stun­den- und da sind die roten Lini­en der Minu­ten­ge­schich­ten. Blau sind die Stre­cken mäch­ti­ger Bücher, die schwer sind von feins­ten Papie­ren. Sie füh­ren weit aufs Land hin­aus bis in die Wäl­der, wo man unge­stört auf sehr beque­men Pini­en­bäu­men sit­zen und schla­fen kann. In die­ser Stadt lesen­der Men­schen haben Auto­mo­bi­le, sobald ein lesen­der Mensch sich nähert, den Vor­tritt zu geben, und alles ist sehr schön zau­ber­haft beleuch­tet von einem Licht, das aus dem Boden kommt. – Ahoi! Euer Lou­is — stop

gesen­det am
13.03.2012
06.05 MEZ
3015 zeichen

lou­is to dai­sy and violet »

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erfundene fotografie mit kamelen

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del­ta : 0.22 – Kame­le sind Tie­re, die ich schon immer moch­te. Sie erschei­nen mir ver­traut, als hät­te ich einen Teil mei­nes Lebens unter Kame­len zuge­bracht. Ihre gro­ßen Augen, die leicht aus dem Kopf her­vor­ste­hen, ihr sam­tig led­ri­ger Mund, ihr Geruch, ihr war­mer Bauch, das wei­che dich­te Fell. Ich erin­ne­re mich, dass man mir vor lan­ger Zeit ein­mal erzähl­te, ich sei wäh­rend mei­ner Besu­che mit mei­nem Vater im zoo­lo­gi­schen Gar­ten immer wie­der gern bei den Kame­len gewe­sen. Auch soll mein Vater mich auf den Schul­tern getra­gen haben, wäh­rend ich sei­nen gro­ßen Kopf mit mei­nen klei­nen Armen umfass­te. Merk­wür­dig ist, dass ich mich an kei­ne Foto­gra­fie erin­ne­re, die mich dort oben als einen stol­zen Rei­ter zeigt, ver­mut­lich des­halb, weil mein Vater vor Jah­ren der ein­zi­ge Foto­graf der Fami­lie gewe­sen war. Es exis­tie­ren über­haupt nur weni­ge frü­he Bil­der, die ihn und mich gemein­sam zei­gen. Und so habe ich nun fol­gen­des pro­biert. Ich habe eine Foto­gra­fie in mei­nem Kopf illu­mi­niert, ein Doku­ment, das nie exis­tier­te und doch sehr wirk­lich wer­den könn­te, wenn ich nur lan­ge genug dar­an arbei­te. Das Doku­ment ist eine Schwarz-Weiß-Auf­nah­me. Sie zeigt einen Mann in wei­ten dunk­len Hosen, mit hel­lem Hemd, das ist mein Vater. Auf sei­nen Schul­tern sitzt ein klei­ner Jun­ge, auch er trägt ein hel­les Hemd, San­da­len und kur­ze Leder­ho­sen, das bin ich. Über uns ver­zweigt sich ein Ulmen­baum. Es ist ein mäch­ti­ger Baum. In sei­nem Schat­ten hin­ter einem Zaun ste­hen zwei Kame­le, sie schau­en uns an. Da ist noch ein Fla­min­go­vo­gel, hung­ri­ge Gestalt, der auf einem Bein mit­ten auf dem Spa­zier­weg steht. Das sieht alles schon sehr gut aus, fin­de ich. Ich habe mir die­ses Bild vor­ge­stellt, bis ich es so genau vor mir sehen konn­te, dass ich es auf einem vor­ge­stell­ten Tisch dre­hen und wen­den könn­te. Mein Vater, den ich jetzt in die­ser Wei­se sehen kann, war ein jun­ger Mann, der lach­te. Er zeig­te in die Rich­tung der Kame­le. Und auch ich zeig­te mit einem Fin­ger in die Rich­tung der Kame­le und auch ich lach­te. Es war Som­mer. — stop
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PRÄPARIERSAAL : schwärme

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tan­go : 1.16 — Ges­tern, Punkt 10 Uhr abends, habe ich mei­ne ana­to­mi­sche Ton­band­ma­schi­ne wie­der ange­wor­fen. Ich hör­te eine Auf­nah­me, die ich mit der Beschrif­tung No 87 ver­se­hen hat­te. Lei­der konn­te ich mich nicht erin­nern, wo das Doku­ment auf­ge­nom­men wor­den sein könn­te, weil ich ver­säum­te, Zeit und Ort des Gesprächs, sowie den Namen der spre­chen­den Per­son zu notie­ren. Eine Frau­en­stim­me war zu hören und das Zwit­schern von Vögeln. Die Stim­me sprach rasend schnell, als ob sie den Vögeln nach­ei­fern woll­te. Mehr­fach muss­te ich die Auf­nah­me in einem ers­ten Durch­gang anhal­ten und wie­der­ho­len, um ver­ste­hen oder erah­nen zu kön­nen, was die Stim­me gesagt hat­te. Ich habe ihr einen pro­vi­so­ri­schen Namen gege­ben. Mela­nie erzählt: > Es ist eine auf­re­gen­de Zeit. Da sind Schwär­me von Gedan­ken, Geräu­schen, Bil­dern, Gerü­chen in mei­nem Kopf. Ich kann sie jeder­zeit her­vor­ho­len. Manch­mal kom­men sie von selbst. Unge­fragt. Viel­leicht dar­um, weil ich etwas Beson­de­res erle­be. Oft habe ich schon den Ver­such unter­nom­men, von mei­nen Erfah­run­gen zu berich­ten. Ich habe das Gespräch gesucht, Sie ver­ste­hen, ich bin stolz, der Auf­ga­be gewach­sen zu sein. Des­halb erzäh­le ich mit Begeis­te­rung. Ich habe zum Bei­spiel davon erzählt, dass ich sehr ger­ne an Mus­keln prä­pa­rie­re. Ich habe von der luzi­den, perl­mutt­far­be­nen Haut berich­tet, die Mus­keln umgibt. Ich habe von der Befrie­di­gung erzählt, die ich emp­fin­de, wenn ich einen Mus­kel voll­stän­dig frei­ge­legt habe, wenn ich den Mus­kel begrei­fen konn­te, sei­nen Ursprung und sei­nen Ansatz erken­nen. Ich habe, wäh­rend ich erzähl­te, mit mei­nen Hän­den vor­aus­ge­ar­bei­tet, habe mit mei­nen Hän­den auf dem Tisch Bewe­gun­gen aus­ge­führt, als war­te­te dort eine Struk­tur, die ich noch rasch prä­pa­rie­ren soll­te. Hand­ar­beit, sag­te ich, wenn du eine gute Ärz­tin sein willst, musst du zunächst eine gute Hand­wer­ke­rin sein. Wenn du nicht Hand anle­gen willst an einen Men­schen, ist alle Mühe nicht wert. Eine Pro­fes­so­rin erklär­te ein­mal: Sei­en Sie neu­gie­rig. Ver­fol­gen Sie die Struk­tu­ren wei­ter bis zu ihrem Ende. Glau­ben Sie nichts, prü­fen Sie, ob das, was in den Ana­to­mie­bü­chern steht, wirk­lich stimmt. Sehen Sie nach und sie wer­den mit Struk­tu­ren belohnt. — Ja, es ist auf­re­gend. Eine Assis­ten­tin notier­te eine wun­der­ba­re Geschich­te für mich. Das war an dem Tag gewe­sen, als Gehir­ne ent­nom­men wor­den waren. Da sei eine Kol­le­gin durch den Saal auf sie zuge­kom­men und habe ihr ein Gehirn in die Hän­de gelegt. Sie woll­te ihr eine ers­te Erfah­rung schen­ken, und sie woll­te in die­sem bedeu­ten­den Moment an ihrer Sei­te sein. Das Gehirn, ihr ers­tes Gehirn, sei uner­war­tet schwer gewe­sen. Sie erin­ner­te sich gut an ihre Sor­ge, sie könn­te das Gehirn fal­len las­sen. Sie habe in die­sem Augen­blick dar­an gedacht, dass sie eine ganz Welt in Hän­den hal­te, Träu­me eines Lebens, Bil­der, Sät­ze, Wör­ter, Wör­ter, die nie wie­der erreich­bar sein wer­den. – stop

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