whiskey : 0.01 — Ich sollte einen Brief schreiben. Der Inhalt des Briefes wäre bedeutungslos, weswegen ich auf ein Schriftstück im Umschlag verzichten könnte. Ich werde per E‑Mail Folgendes notieren: Lieber L., in wenigen Tagen, wenn alles gut gegangen sein wird, wirst Du einen Brief erhalten. Sollte Dich der Brief tatsächlich erreichen, musst Du ihn nicht öffnen, das Kuvert ist leer. Würdest Du mir bitte den Empfang des Briefes bestätigen. Ich wäre Dir dankbar, es ist ein Versuch. Ja, so werde ich notieren, den Brief sorgfältig adressieren, auch mein Absender wird nicht fehlen. Ich stelle mir vor, einen größeren Briefumschlag zu verwenden, ich werde 1 gültiges Postwertzeichen befeuchten und auf dem Brief befestigen. Von diesem gültigen Postwertzeichen abgesehen, werden 25 weitere Postwertzeichen auf dem Umschlag zu finden sein, sagen wir Briefmarken, die Giraffen und Fische zeigen, Schmetterlinge, Zebraaffen, Vögel, Insekten. Diese Briefmarken ferner Länder, die ich von weiteren Briefen löste, werden natürlich bereits gestempelt sein, man könnte sagen, dieser Brief wird geschrieben werden, um die Sorgfalt der Behörden zu probieren. — stop
Aus der Wörtersammlung: bedeutung
frankie x 12
echo : 2.28 — Jemand erzählte mir unlängst, irgendwo in Brooklyn existiere ein Laden, in dem man ausgestopfte Eichhörnchen kaufen könne, äußerlich vollständige Wesen, die aus einer gewissen Entfernung betrachtet, von noch lebenden Artgenossen nicht zu unterscheiden seien. In ihrem Inneren sollen sich elektrische Motoren bewegen, sodass jedes dieser Eichhörnchen, entweder geduckt, oder ein anderes Mal aufrecht sitzend erscheint oder gar in der Haltung eines kurz vor dem Sprung stehenden Tieres. Javier Menlo, der in Meeresnähe auf Staten Island lebt, habe ein gutes Dutzend dieser Eichhörnchengespenster am Strand platziert, wo sie in einer Gruppe sitzen und seltsamerweise von Möwen nicht behelligt werden. Unsichtbare, weil im Erdreich verlegte Drähte versorgen Javiers Eichhörnchen mit dem Strom einer Autobatterie. Kein Hinweis weit und breit, der die Existenz dieser Eichhörnchengruppe erklären würde, weswegen sie möglicherweise unheimlich erscheinen, bedeutungsvoll, wie ein Gebet, eine Anrufung, eine Drohung oder Erinnerung. — stop
brighton beach ave
~ : louis
to : mrs. valentina zeiler
brooklyn translation services
23 brighton beach ave,
Brooklyn
subject : BRYANT PARK
Sehr geehrte Frau Zeiler, ich danke Ihnen herzlich für Ihre rasche Antwort. Ich will nun abschließend den Auftrag erteilen, mein unten folgendes Schreiben in die englische Sprache zu übersetzen. Ich bitte um sorgfältigste Arbeit, Sie werden erkennen, in diesem Text ist von einem Reisetunnel nach Amerika die Rede, der in meiner Vorstellung von äußerster Bedeutung ist, ein poetischer Entwurf, jedes Wort scheint mir für seine Verwirklichung von hoher Bedeutung zu sein. Mit vereinbarter Vergütung bin ich einverstanden, der Betrag von 82 Dollar wurde bereits angewiesen. Weitere Aufträge werde ich mit Ihnen in Kürze bei einem Besuch in ihrem Büro persönlich besprechen. Darf ich an dieser Stelle meiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, dass die Übersetzung desselben Textes in die chinesische Sprache 122 Dollar kosten würde? Ich frage mich, worin die erhebliche Differenz von 40 Dollar begründet sein könnte. Mit allerbesten Grüßen – Ihr Louis
BRYANT PARK — 570 WÖRTER > GO /// Es hatte Stunden lang geregnet, jetzt dampfte der Boden im südwärts vorrückenden Nordlicht, und das Laub, das alles bedeckte, die steinernen Bänke, Brunnen und Skulpturen, die Büsche und Sommerstühle der Cafés, bewegte sich trocknend wie eine abgeworfene Haut, die nicht zur Ruhe kommen konnte. Boulespieler waren vom Himmel gefallen, fegten ihr Spielfeld, schon war das Klicken der Kugeln zu hören, Schritte, Rufe. Wie ich so zu den Spielern schlenderte, kreuzte eine junge Frau meinen Weg. Sie tastete sich langsam vorwärts an einem weißen, sehr langen Stock, den ich eingehend beobachtete, rasche, den Boden abklopfende Bewegungen. Als sie in meine Nähe gekommen war, vielleicht hatte sie das Geräusch meiner Schritte gehört, sprach sie mich an, fragte, ob es bald wieder regnen würde. Ich erinnere mich noch gut, zunächst sehr unsicher gewesen zu sein, aber dann ging ich ein Stück an ihrer Seite und berichtete vom Oktoberlicht, das ich so liebte, von den Farben der Blätter, die unter unseren Füßen raschelten. Bald saßen wir auf einer nassen Bank, und die junge Frau erzählte, dass sie ein kleines Problem haben würde, dass sie einen Brief erhalten habe, einen lang erwarteten, einen ersehnten Brief, und dass sie diesen Brief nicht lesen könne, ein Mann mit Augenlicht hätte ihn geschrieben, ob ich ihr den Brief bitte vorlesen würde, sie sei so sehr glücklich, diesen Brief endlich in Händen zu halten. Ich öffnete also den Brief, einen Luftpostbrief, aber da standen nur wenige, sehr harte Worte, ein Ende in sechs Zeilen, Druckbuchstaben, eine schlampige Arbeit, rasch hingeworfen, und obwohl ich wusste, dass ich etwas tat, das ich nicht tun durfte, erzählte meine Stimme, die vorgab zu lesen, eine ganz andere Geschichte. Liebste Marlen, hörte ich mich sagen, liebste Marlen, wie sehr ich Dich doch vermisse. Konnte so lange Zeit nicht schreiben, weil ich Deine Adresse verloren hatte, aber nun schreibe ich Dir, schreibe Dir aus unserem Café am Bryant Park. Es ist gerade Abend geworden in New York und sicher wirst Du schon schlafen. Erinnerst Du Dich an die Nacht, als wir hier in unserem Café Deinen Geburtstag feierten? Ich erzählte Dir von einer kleinen, dunklen Stelle hinter der Tapete, die so rot ist, dass ich Dir nicht erklären konnte, was das bedeutet, dieses Rot für sehende Menschen? Erinnerst Du Dich, wie Du mit Deinen Händen nach jener Stelle suchtest, wie ich Deine Finger führte, wie ich Dir erzählte, dass dort hinter der Tapete, ein Tunnel endet, der Europa mit Amerika verbindet? Und wie Du ein Ohr an die Wand legtest, wie Du lauschtest, erinnerst Du Dich? Lange Zeit hast Du gelauscht. Ich höre etwas, sagtest Du, und wolltest wissen, wie lange Zeit die Stimmen wohl unter dem atlantischen Boden reisten, bis sie Dich erreichen konnten. – An dieser Stelle meiner kleinen Erzählung unterbrach mich die junge Frau. Sie hatte ihren Kopf zur Seite geneigt, lächelte mich an und flüsterte, dass das eine schöne Geschichte gewesen sei, eine tröstliche Geschichte, ich sollte den Brief ruhig behalten und mit ihm machen, was immer ich wollte. Und da war nun das aus dem Boden kommende Nordlicht, das Knistern der Blätter, die Stimmen der spielenden Menschen. Wir gingen noch eine kleine Strecke nebeneinander her, ohne zu sprechen. Ich sehe gerade ihren über das Laub tastenden Stock und ein Eichhörnchen mit einer Nuss im Maul, das an einem Baumstamm kauerte. Beinahe kommt es mir in dieser Sekunde so vor, als hätte ich dieses Eichhörnchen und seine Nuss nur erfunden. /// END
barrel bomb
romeo : 0.14 — Habe gelernt, was eine Fassbombe ist, weil ich das Wort Fassbombe mehrfach hörte, darum habe ich nach Fassbomben in der digitalen Sphäre gesucht, nach Erläuterungen, was eine Fassbombe sein könnte und was sie bedeutet, wenn sie als Fassbombe tatsächlich vom Himmel fällt. Weitere sehr interessante Wörter und ihre Bedeutung sind in der Umgebung der Fassbombenberichte möglich geworden: Leitflügel . Aufschlagzünder . Schrapnell . Weiches Ziel. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich mich selbst als ein weiches Ziel zu betrachten habe, weil ich ein Mensch bin. Ich dachte, nehmen wir einmal an, eine Fassbombe nähere sich, und ich dachte plötzlich, dass in meiner Nähe, in meiner Umgebung, also in der Stadt, in der ich mich befinde, Menschen angekommen sind, die wissen, wie sich eine Fassbombe anhört, wenn sie explodiert. Ich könnte einige Städte weiterfahren mit dem Zug, und auch dort werden Menschen angekommen sein, die wissen, wie sich eine Fassbombe anhört oder anfühlt, wenn sie vom Himmel fällt, wenn sie in die Luft geht, wenn sie den Menschen um die Ohren fliegt, weiche Menschen, ja, weiche Menschen, wie weich wir Menschen sind. Ich bin froh, dass ich weiß, weiche Menschen ich fragen könnte, was eine Fassbombe ist, gleich hier in meiner Stadt könnte ich sie fragen. — stop
in üsküdar
whiskey : 0.55 — Y. erzählte vor einigen Tagen eine Geschichte, die sie als Mädchen im Alter von sieben oder acht Jahren in Istanbul erlebte, genauer in einem Hinterhof des Stadtteils Üsküdar. Sie sollte damals eine Tüte Pistazien und noch einige andere Dinge von einem Kioskladen holen, es war Sommer, und sie hüpfte raus auf die Straße und um die Ecke und rein in den kleinen Laden, und las einem Mann eine Liste der bestellten Dinge vor. Der Mann sah ihre Liste durch, lächelte ihr zu und stellte ein oder zwei Fragen, so in etwa: Wie viele Pistazien sollen es denn sein? Y. überlegte sorgfältig, aber letztlich konnte sie sich nicht erinnern, wie viele Gramm Pistazien ihr die Mutter zum Kauf aufgetragen hatte. Deshalb hüpfte sie auf die Straße zurück, aber anstatt zur Eingangstür ihres Wohnhauses zurückzukehren, trat sie in einem Hinterhof vor einen Balkon im 2. Stock. Die Tür zum Wohnzimmer der Familie, hinter der sie ihre Mutter wusste, war geöffnet. Sie rief so laut sie konnte: Mama! Dann wartete sie eine kurze Zeit. Als die Mutter nicht auf dem Balkon erschien, rief sie noch einmal: Mama, Mama, ich habe eine Frage, ich bin’s! Wiederum rief sie vergeblich, sie wartete und rief und wartete. Gerade als sie umkehren wollte, um den weiteren Weg, den sie gekommen war, zur Mutter in die Wohnung zurückzunehmen, bemerkte sie ein fremdes Mädchen neben sich, das vielleicht zwei Jahre jünger war als sie selbst. Das Mädchen hatte eine ihrer Hände genommen, sah sie bedeutungsvoll an, hob dann den Kopf zum Balkon empor und rief mit leiser, sanfter Stimme: Mama! Mama! Y. erinnerte sich noch nach vielen Jahren an die feine Stimme des Mädchens, die beinahe nicht zu hören gewesen war. Kaum eine viertel Minute verging, da erschien ihre Mutter auf dem Balkon und schaute zu den beiden Mädchen herab. Das war ein Moment ihres Lebens gewesen, den Y., die inzwischen selbst zwei Söhne gebar, nie vergessen konnte, ein Geheimnis: Warum hatte die Mutter auf die leise Stimme eines fremden Mädchens reagiert, aber die Stimme der eigenen Tochter nicht gehört? — stop
ein gespräch
foxtrott : 0.28 – Einmal nur für kurze Zeit die unverrückbare Grenze des Todes mittels eines Funkgerätes überschreiten. Ich stellte mir vor, ich könnte ein Gespräch führen mit einem Selbstmordattentäter, sagen wir mit MMK. Ich berichtete O. von dieser Idee. Ich sagte, stell Dir einmal vor, ich würde folgende Sätze sprechen: Lieber MMK, jetzt bist Du also tot, Du hast Deinen Auftrag zur vollen Zufriedenheit Deiner Vorgesetzten erfüllt, Du hast Dich in die Luft gesprengt, in alle Himmelsrichtungen sind Teile Deines Körpers davongeflogen. Wie geht es Dir jetzt? Wo bist Du, mein Freund? — O., der interessiert zugehört hatte, antwortete: Sag, lieber Louis, was erwartest Du denn, was MMK antworten würde? Ehe ich sprechen konnte, setzte O. fort, er sagte: Ich nehme an, Du wirst daran denken, dass er Dir sagen wird: Kein Paradies. Dunkel. Nichts. Ich bin allein, verdammt. Er schaute mich bedeutungsvoll an. Was aber, lieber Louis, machst Du, wenn er Dir erzählt, dass er im Paradies angekommen sei, dass alles noch wunderbarer sei, als je vorgestellt, ja, was machst Du dann, mein Junge? — stop
minutenbild
himalaya : 3.12 — In einer Schublade meines Vaters entdeckte ich Bleistifte, Spitzer, Lineale, Rechenschieber, Uhren und eine Trillerpfeife. Zwei Klebstofftuben, hart wie Stein, waren nie geöffnet worden. In einer Schachtel von Metall eine Handvoll Batterien. Sie gehörten zu einem Blutdruckmessgerät, das ich selten beachtete, solange mein Vater noch lebte. Es war ein Gerät für alte Leute, scheinbar unsichtbar für die Augen eines jungen Mannes. Ich erinnere mich, beinahe hätte ich dieses Minutenbild vergessen, wie mein Vater vor seinem Schreibtisch sitzt, die Manschette des Prüfgerätes um den linken Arm gelegt. Das Geräusch einer Pumpe ist zu hören, ein Brummen. Wie mein Vater nun reglos wartet auf den Moment, da das Gerät die Umklammerung seines Armes lockern wird, ein scheuer Blick, so stelle ich mir vor, auf Leuchtziffern, deren Bedeutung er fürchtete oder über die er sich freute. Vor einigen Wochen fand ich in einem Ordner lange Zahlenreihen in Tabellen, die der alte Mann selbst angefertigt hatte. Seine akkurate Schrift, jede Zeile ein Zeugnis von Überwindung, ein Beweis, dass mein Vater sich kümmerte, dass er kein Flüchtender gewesen war. — stop
bombay
bamako : 2.12 — Auf meinem Schreibtisch bemerke ich eine Postkarte, die dort eigentlich nicht existieren sollte. Tausende Figuren bedecken das Schriftstück, Formen, die ich einerseits als Zeichen identifizieren, andererseits ihrer Bedeutung nach nicht entziffern kann, auch die Briefmarke der Postkarte wurde mit Zeichen versehen. Irgendjemand muss, mithilfe einer Lupe, so viele Schriftzeichen wie möglich auf der Postkarte untergebracht haben. Es handelt sich vermutlich um einen Text in singhalesischer Sprache. Weder sind Absätze zu erkennen, noch Wörter, kein Raum für Leere. Die Briefmarke ist unter den Zeichen nur noch schemenhaft zu erkennen, 25 Rupien, Elefanten durchschreiten einen Fluss. Auf die Bildseite der Postkarte wurde kein Schriftzeichen gesetzt. Sie trägt eine berühmte Fotografie Sebastião Salgados: Churchgate Train Station / Bombay. Menschen strömen über Bahnsteige. Sie bewegen sich so schnell, dass sie unscharf erscheinen wie eine Flüssigkeit. Im linken unteren Bereich der Fotografie eine Frau, die sich vermutlich im Moment der Aufnahme kaum oder nur sehr langsam bewegte. Sie hält eine Tasche in der rechten Hand, sie scheint die einzige nicht flüssige Person zu sein, die auf der Fotografie wahrzunehmen ist. — stop – Dienstag. — stop – Sturm von Nordwest. — stop
codegeräusch
bamako : 2.26 — Bemerkenswert vielleicht die Vorstellung, das Wort h i b i s c i l l i könnte nach seiner Enttarnung genaue dieselbe Bedeutung haben wie die Zeichenfolge x l / * q k o y. Es existieren demzufolge Codes, die wohlklingend sind für menschliche Ohren, während andere eventuell fleißigen Rechenmaschinen gefallen. — stop
von ohren
nordpol : 2.08 — Montag. Friedvolle Nacht, sofern ich meine Fenster schließe, meine Telefone, den Fernsehapparat, das Radio und meinen Router ausschalte, und mich mit nichts als mit Buchstaben beschäftige. Ich entdeckte bei den Gebrüdern Grimm 320 Wörter in der Umgebung des Wortes Ohr. Würde ich dieses Wort und seine zentrale Bedeutung nicht kennen, würde ich vermuten, dass es sich um ein bedeutendes Wort, eine bedeutende Eigenschaft oder einen bedeutenden Gegenstand handeln könnte. Schöne Wortlebewesen darunter, welche tatsächlich existieren. Eines aber habe ich höchstpersönlich erfunden. Auch dieses Wort existiert fortan als ein Wort unter den Öhrenwörtern: Ohrbacken Ohrberge Ohrbommel Ohrbrausen Ohrbusch Ohrenaffe Ohrenbläser Ohrengeflüster Ohrengel Ohrgewölbe Ohrengift Ohrenläpplein Ohrenperle Ohrenraupe Ohrensucht Ohrentaucher Ohrenteufel Ohrenzeuge Ohrenzirpe Ohrfasan Ohrfeige Ohrgäbelein Ohrgang Ohrgedächtnis Ohrgegend Ohrkruspel Ohrlillitaner Ohrküssen Ohrlippe Ohrlitze Ohrenlos Ohrmuschelstein Ohrpinsel Ohrrose Ohrschallen Ohrspritze Ohrsteinchen Ohrringen Uhrwerk — stop