india : 20.18 — Regen. Schnüre von Regen. Dämmerung heute bereits gegen 18 Uhr. Seit drei Stunden höre ich Tonbandaufnahmen ab, Stimmen, die präzise formulierend vom Präpariersaal und seiner Umgebung erzählen. Immer wieder halte ich die Maschine an, schreibe auf, was ich hörte, stemple Zeitangaben. Christopher kurz vor acht Uhr über seine Erfahrung jenseits der Tage: > Was ich nachts gemacht habe? Meine Freundin sagt, ich würde in lateinischer Sprache mit ihr gesprochen haben : pause 2 sec : Vielleicht habe ich etwas mimische Muskulatur repetiert. Musculus frontalis. Musculus corrugator supercilii. Musculus orbicularis oculi. Das war eine sehr wichtige Nachtarbeit, die ich da verrichtet habe, verstehen Sie? Ich hatte Schwierigkeiten diese fremdartigen Wörter auszusprechen. Wie sollte ich sie im Kopf behalten, wenn ich sie nicht sprechen konnte! : pause 3 sec : Ich habe also nachts nicht wirklich geträumt, sondern nur Sprechübungen gemacht. : pause 5 sec : Auch dann, wenn ich wach war, das können Sie mir glauben, habe ich Wörter geübt. : pause 4 sec : Das Wort Leiche wollte ich nicht aussprechen. Ich habe immer von Körpern gesprochen. : pause 3 sec : In den ersten Tagen manchmal, sobald ich den Präpariersaal betreten habe, hatte ich den Eindruck einer gewissen Unwirklichkeit der Situation. Ich hatte den Eindruck, jene toten Menschen verkörperten nur eine Vorstellung, als hätte man sie für uns hergestellt, organische Ausstellungsräume, mit Erde bezeichnete Lehmkörper. Auch wenn das vielleicht seltsam klingen mag, die erste Berührung des Körpers auf dem Tisch war eine Bewegung, die der Vergewisserung diente, dass der Körper vor mir auf dem Tisch wirklich anwesend war. : pause 2 sec : Körper also. Sie boten meinen Händen Widerstand. Sie waren kühl und sie wirkten zeitlos. — stop
Aus der Wörtersammlung: eiche
lichtenbergfalter
echo : 22.01 — Um das Jahr 1790 herum notiert Georg Christoph Lichtenberg folgende Sätze: Sollte sich nicht in anderen Körpern etwas finden, was unserer Fantasie, (unserem) Schöpfungsvermögen analog ist? (Wie) würde unser Gehirn aussehen, wenn wir die Veränderungen bemerken könnten, die die Gedanken in unseren Texturen hervorbringen? — Lichtenberg zu lesen, begeistert mich, wie John Coltrane mich begeistert, sobald ich ihn hören und spüren kann. Nie aber kann ich beide zur gleichen Zeit wahrnehmen. Der eine reist durch das Licht zu mir. Kurz darauf höre ich ihn mit meiner Stimme sprechen. Der andere kommt durch Ohren und Haut herein. Ein Schwingen jenseits der Gedanken, aber doch eine Art Sprechen, das Glück bewirkt, wie andererseits ein leuchtender Satz aus einer Entfernung von 220 Jahren jene Art von Freude entstehen lässt, die dazu führt, dass ich einmal kurz auf der Stelle in die Luft zu springen habe. stop – Noch zu tun: Lektüre > Richard Powers Das Buch Ich. — stop
segelohren
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : SEGELOHREN
Liebe Daisy, liebe Violet! Kühl ist die Luft geworden in den vergangenen Tagen. Als ob Herbst geworden sei, eine Luft voller Regen und Wind. Auf der Straße laufen Menschen herum, die haben sich Tropfenfänger unter ihre Nasen gebunden, die wund sind und geschwollen. Ich selbst noch wohlauf, was vielleicht darin begründet sein könnte, dass ich bereits jetzt schon kräftige Wanderschuhe trage für den kommenden Winter in New York. Will Euch eine Geschichte notieren, an diesem schönen, nassen Sonntag, die ich tatsächlich genauso erlebt habe, wie ich sie erzähle, ob Ihr mir nun glauben werdet oder nicht. Stellt Euch ein geräumiges Zimmer vor. Ein gutes Dutzend Ohren propellerten dort durch die Luft, sie waren Gästen entkommen, die in nächster Nähe eines Rundfunkempfängers Platz genommen hatten, um Ella Fitzgerald zu lauschen: It Don’t Mean a Thing If It Ain’t Got That Swing. Ein merkwürdiger Anblick war das gewesen, bald lagen kämpfende Ohren in Schichten über zwei Lautsprechern des Radios, wie Footballspieler, sagen wir, eine rangelnde Bande zwitschernder Ohren, sodass in dem Zimmer der Versammlung vom Konzert kaum noch etwas zu hören gewesen war, als diese Geräusche des Kampfes. Man kämpfte auch dann noch verbissen weiter, als das Radio längst ausgeschaltet worden war, vermutlich deshalb, weil man meinte, die nun auftretende Stille sei nicht wirklich vorhanden. Ich habe drei Stunden in der Beobachtung des Tumultes zugebracht. Dann bin ich nach Hause zurück ohne meine Ohren. Seither warte ich geradezu taub geworden auf ihre Rückkehr. Bis bald einmal wieder. Cuccurrucu! – Euer Louis
gesendet am
03.07.2011
20.05 MESZ
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ampere
delta : 1.58 — Eines Tages einmal unserer Haut eine lichtempfindliche Substanz einzuverleiben, die Sternstrahlung in Strom verwandeln würde, in Spannung, die zunächst gespeichert und etwas später lustvoll von Mensch zu Mensch weitergereicht werden könnte. — stop
ohren gebraten
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : OHREN
In der vergangenen Nacht hab ich von Euch geträumt. Hört zu! Wir spazierten am Atlantik an einem frühen Abend in der Dämmerung. Schnee war gefallen. Eis schindelte in der Bucht vor Coney Island, ein verrücktes Geräusch, eines, das ich nicht beschreiben kann, vielleicht weil das Geräusch so flüchtig gewesen war, dass ich nichts festhalten konnte von seiner Substanz in meiner Erinnerung, obwohl uns das Geräusch über Stunden begleitete. Ihr hattet rote Stiefel an den Füßen und wart in Pelze gewickelt, viel zu groß, sodass man Euch kaum noch sehen konnte. Einmal wachte ich auf, sah mich im Zimmer um, schlief dann sofort weiter, weil ich Euere hellen Stimmen noch hören konnte. Ihr hattet Euch in der Nähe einer fahrbaren Bude in den Schnee gesetzt. Feuer flackerten in Fässern. Unweit lag ein Walfisch im Wasser ohne Haut. Über den Flammen schaukelten Pfannen, in welchen menschliche Ohrmuscheln in der Hitze sausten. Das Krachen, das Knistern des knusprigen Fleisches zwischen unseren Zähnen begleitete mich durch den vergangenen Tag, der ein Tag gewesen war, da ich bald stündlich die Gegenwart meiner Wachohren prüfte. Nie zuvor habe ich mir vorzustellen versucht, wie ich selbst oder meine Ohren, – nein, das ist schon eine ganz andere Geschichte, die ich Euch nur dann erzählen werde, wenn Ihr mir schreiben solltet, dass ihr sie unbedingt hören wollt. Euer Louis, gute Nacht!
gesendet am
27.05.2011
8.48 MESZ
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unter apfelbäumen
sierra : 5.12 — Wir stehen auf einem Bahnsteig und warten auf einen Zug. D. ist Lehrer für Geografie und Englisch. Er spricht schnell, ich höre, wie er sagt, dass man ihn einmal im Alter von 17 Jahren an der Grenze zu Österreich festgehalten und wieder nach München zurück-geschickt habe. Das war im Jahr 1994 gewesen, er hatte sich auf den Weg gemacht, seine kroatische Heimat zu verteidigen. Er wollte kämpfen an der Seite seiner Schulkameraden, kämpfen für die Freiheit. Während eines früheren Besuches hatte er im Garten seines Elternhauses unter blühenden Apfelbäumen Leichen gefunden. Er habe die toten Menschen, die kürzlich noch gelebt hatten, sodass sie nicht tot sein konnten, alle persönlich gekannt. Eine furchtbare Erfahrung. Das Prinzip sei einfach gewesen. Zunächst habe die eine Seite Spezialkräfte in ein Dorf geschickt. Man habe im Handstreich alle menschlichen Lebewesen, auch Rinder und Vögel, umgebracht. Wenige Stunden oder Tage später habe die andere Seite Spezialkräfte in ein weiteres Dorf geschickt und man habe im Handstreich Menschen und Rinder und Vögel umgebracht. So war das gewesen, deshalb habe er, als er noch Schüler gewesen war, kämpfen wollen, mit einem Gewehr. Glück habe er gehabt, verdammtes Glück. Er hätte ums Leben kommen können oder Schlimmeres. — stop
tripolis
foxtrott : 20.58 – Die Spitze meines Bleistiftes unter Beobachtung, wie sie sich über das Papier bewegt, immer noch unsicher, zögernd, helle, rauchige Töne, Zeichen, Wörter, jeder Gedanke von eigentümlicher Melodie, eine windige, schürfende Welle. stop. stop. In Libyen, ohne Mitwirkung eines Erdbebens, sollen nach Angaben des Botschafters der Vereinigten Staaten von Amerika in den vergangenen 2 Monaten bis zu 30000 Menschen getötet worden sein. stop Seit zwei Tagen notiere ich mit der Hand. — stop
malta : schnüre von luft
sierra : 15.08 – Heute Morgen, der Koffer lag bereits geöffnet auf dem Bett, konnte ich wieder das Wasser hören, wies sich in nächster Nähe bewegte. Hatte ein Ohr an eine Zimmerwand gelegt, da waren Stimmen, die sich mit dem Wasser unterhielten, gedämpfte Geräusche, Wörter, die ich noch nie zuvor vernommen hatte. War dann spazieren in den Schatten, habe Namen gesammelt, Türen und ihre Farben, die Gestalt der Treppen, der Briefkästen, der Fensterräume, Menschenspuren, durch alltägliche Bewegung der Jahrhunderte in die Steinhaut der Straßen eingetragen. Wilde Leitungen kreuzten von Haus zu Haus. Ich stellte mir vor, Schnüre ummantelter Luft, jedes Telefon sei mit weiteren Telefonen durch je eine eigene Leitung verbunden. Und da waren beleuchtete Christusfiguren an Häuserecken. Ein paar Jungs spielten Fußball gegen stärkste Neigung des Bodens, mit einem Ball, der ostwärts flüchten wollte. Am Hafen hockten Männer auf leichten Stühlen von Holz. Sie schaukelten Ruten über klarem Wasser, in dem kein Fisch zu sehen war. Lange Zeit der Beobachtung. Die Männer plauderten in ihrer weichen maltesischen Sprache, für einen Moment war mir gewesen, als ob sie durch Beschwörung, durch ihr Lachen, Fische erzeugten, die genau in dem Moment ihrer Entstehung sich in die wartenden Haken der Jäger verbissen, um auf der Stelle in die Luft gezogen zu werden, Fische mit silbernen Bäuchen, blauen Rücken, gelben Augen, Erfindungen, wie Wörter aus dem Nichts, die sich zu Linien formieren und bleiben. Dann weiter. — stop
malta : carmelite church
delta : 22.07 – Als er mich über die Straße kommen sieht, erhebt sich der alte Mann von dem Stuhl vor der Tür seines Hauses. Sofort, schon von Weitem, hat er mich wiedererkannt, vielleicht an dem roten Pullover, den ich über meinen Schultern trage oder an meinem Gang. Jetzt folgt er mir grußlos in die Kirche an der Old Mint Street, deren Kuppelbau die Silhouette der Stadt Valletta weithin prägt. Gestern noch haben wir ein kleines Gespräch geführt vor dem Gotteshaus, das dem alten Mann kostbar zu sein scheint, ein Ort, den er zu schützen versucht, vor Personen wie mir beispielsweise, die kommen und gehen wie sie wollen, ohne je einmal zu fragen, ob es statthaft sei, an diesem heiligen Ort zu fotografieren. Jetzt will er mich prüfen, will mein Versprechen genauer, das ich gegeben habe, prüfen, ob ich es einhalte, ob ich glaubwürdig sei. Und so sitze ich bald unweit des Altars, der alte Mann ein paar Reihen hinter mir, und überlege, ob es möglich sein könnte, in dieser Kirche ein Aquarium zu errichten, ein Glasgehäuse von enormer Größe, in dem Kiemenmenschen schweben und somit in der Lage sein würden, an heiligen Feiern unter Lungenmenschen teilzuhaben. Lange Zeit sitze ich fast bewegungslos, dann beginne ich einige Sätze in mein Notizbuch zu schreiben, fertige eine Zeichnung an, einen Grundriss in etwa, der Kirche und einiger Positionen, da ein Aquarium zu errichten sinnvoll wäre. Und wie ich so leise vor mich hin arbeite, kaum wage ich zu atmen, höre ich, wie der alte Mann hinter mir sich erhebt, er kommt an mir vorüber, bleibt einige Minuten in meiner Nähe stehen, verbeugt sich bald vor dem Altar und verlässt die Kirche durch einen Seiteneingang. — Sonntag. Ich habe heute Bäume entdeckt, die mit ihren weichen Blättern seltsame Nüsse bebrüten. — stop
malta : operation odyssey dawn
echo : 22.01 – Zu Fuß die Straße von Mdina rauf zu den felsigen Höhen, ihrem großartigen Blick südwärts über das Meer. Links und rechts der asphaltierten Straße, Felder, wie in Fächer gelegt von steinernen Wällen umgeben. In den Blättern der Kakteengewächse sitzen Schnecken in Höhlen und schmausen vom faulig gewordenen Fleisch. Was ich höre in diesen Minuten des Laufens ist der Wind, der sich an den Widerständen der wilden Landschaft reibt. Er scheint gegen die steilen Felsen, die schon in nächster Nähe sind, himmelwärts zu pfeifen, ein afrikanischer Wind an diesem Tag ein Mal mehr, ein Wind aus einem militärischen Operationsgebiet, das einen Namen trägt: Odyssey Dawn. Aber vom Krieg ist nichts zu sehen an dieser Stelle, in diesem Moment, da ich die Cliffs erreiche, wie mein Augenlicht sich zu einem Kameralicht verwandelt, wie das Land unter den Füßen weicht, wie ich für einen kurzen Moment glaube, abheben zu können und zu fliegen weit raus auf himmelblaue Wasserfläche, deren Ende nicht zu erkennen ist. Kein Flugzeug, kein Schiff, außer einem kleineren Boot, das auf dem Weg nach Misurata sein könnte, eingeschlossenen Menschen Mehl und Medikamente zu bringen. Tauben lungern im bereits tief über dem Horizont stehenden Licht der Sonne auf warmen Steinen, Eidechsen, grün und blau und golden schimmernd, sitzen erhobenen Kopfes und warten. Sie benehmen sich, als hätten sie noch nie zuvor ein menschliches Wesen gesehen. — stop