nordpol : 16.05 UTC — In einer Filmdokumentation, die den Schriftsteller Jonathan Franzen fünf Tage lang während einer Lesereise begleitet, folgende berührende Szene, die sich im New Yorker Arbeitszimmer des Autors ereignet. Jonathan Franzen hält seine Schreibmaschine, ein preiswertes Dell – Notebook, vor das Objektiv der Kamera. Er deutet auf eine Stelle an der Rückseite des Gerätes, dort soll früher einmal ein Fortsatz, eine Erhebung zu sehen gewesen sein. Er habe diesen Fortsatz eigenhändig abgesägt. Es handelte sich um eine Buchse für einen Stecker. Man konnte dort das Internet einführen, also eine Verbindung herstellen zwischen der Schreibmaschine des Schriftstellers und der Welt tausender Computer da draußen irgendwo. Jonathan Franzen erklärt, er habe seinen Computer bearbeitet, um der Versuchung, sich mit dem Internet verbinden zu wollen, aus dem Weg zu gehen. Eine überzeugende Tat. Im Moment, da ich diese Szene beobachte, bemerke ich, dass die Verfügbarkeit von Information zu jeder Zeit auch in meinem Leben ein Gefühl von Gefahr, Zerstreuung, Beliebigkeit erzeugen kann. Ich scheine in den Zeichen, Bildern, Filmen, die hereinkommen, flüssig zu werden. Dagegen angenehme Gefühle, wenn ich die abgeschlossene Welt eines Buches in Händen halte. — In Mariupol, so erzählt das Radio, soll ein alter Mann von einem Scharfschützen getötet worden sein, als er in einem Hinterhof in einem Buch lesend auf einer Bank saß. — stop
Aus der Wörtersammlung: ende
schneefliegen
nordpol : 1.15 UTC — Eine bislang unbekannte Fliegengattung soll unlängst in den Bergen Tibets entdeckt worden sein. Es handelt sich um Schneefliegen, die über einen außerordentlich feinen Pelz verfügen. Dieser Pelz nun, man würde in ihm zunächst ein evolutionäres Handicap unter Flugtieren vermuten, ist trotz seiner Dichte von außerordentlicher Leichtigkeit. Es wird berichtet, dass einige der Schneefliegen auf geheimen Wegen nach Europa transportiert worden seien, wo man sie eingehend untersuchte. Sie vermehren sich selbst in gewöhnlichen Kühlschränken bei Licht mit rasender Geschwindigkeit. Wovon sie sich ernähren, ist bisher nicht bekannt, aber dass man ihnen den Pelz vom Leib reißen kann, mit äußerst feinen Werkzeugen ist sicher. Über die Fabrikation von Fliegenpelzmänteln wird nun ernsthaft nachgedacht, über Fliegenpelzmützen, Fliegenpelzhandschuhe und weitere Gegenstände zur Wärmung menschlicher Existenz. — Das Radio erzählt von der Meeresbeobachtung eines Mannes im März des vergangenen Jahres. Er habe, sagt der Mann, mit eigenen Augen gesehen, wie Raketen ähnliche Flugkörper dicht über die Oberfläche des Wassers hin in Richtung der Stadt Mariupol geflogen seien. — stop
helena
charlie : 18.32 UTC — Helena, die sechs Jahre alt geworden war, fragte mich am Telefon, inwiefern sich ein Regenschirm von einem Schneeschirm unterscheide. Das ist eine aufregende Geschichte, dachte ich, ich habe von der Existenz der Schneeschirme noch nie zuvor gehört. Das ist nämlich so, sagte Helena, wenn es Regenschirme gibt, muss es auch Schneeschirme geben, wie Sonnenschirme und Windschirme. Um Zeit zu gewinnen, wiederholte ich Helenas Frage. Du willst wissen, inwiefern sich Regenschirme von Schneeschirmen unterscheiden? Habe ich Dich richtig verstanden? Ja, antwortete Helena, was heißt inwiefern? Plötzlich war sie nicht mehr am Telefon. Ich hörte ihre Schritte, wie sie durch die ferne Wohnung lief, sie schien nach etwas zu suchen. Bald hörte ich ihre Stimme, sie erzählte eine Geschichte von einem Frosch, den sie im Garten entdeckt hatte, ihre Mutter lachte. Nach einer Weile hörte ich Helenas Schritte wieder näherkommen, dann ihre Stimme. Ich habe Dich fast vergessen, dass Du am Telefon bist, sagte Helena, das ist phänomenal. Sie lachte. Das ist ja wirklich phänomenal. Was bedeutet: phänomenal? — Das Radio erzählt, in der Stadt Mariupol sei ein Automobil explodiert. An Bord habe ein hoher russischer Beamter der Stadt Mariupol vor einer Ampel gewartet. — stop
unsichtbare Koffer
himalaya : 0.03 UTC — Mein Vater war ein Liebhaber technischer Messgeräte gewesen. Er notierte mit ihrer Hilfe Dauer und Kraft des Sonnenlichts beispielsweise, das auf den Balkon über seinem Garten strahlte. Die Temperaturen der Luft wurden ebenso registriert, wie die Menge des Regens, der in den warmen Monaten des Jahres vom Himmel fiel. Selbst die Bewegungen der Goldfische im nahen Teich wurden verzeichnet, Erschütterungen des Erdbodens, Temperaturen der Prozessoren seiner Computermaschine. Es ist merkwürdig, beinahe täglich gehe ich zur Zeit auf die Suche, weil wieder irgendeine dieser Messapparaturen einen piepsenden Ton von sich gibt, als ob mein Vater mittels seiner Maschinen noch zu mir sprechen würde. Eine Fotografie, ich erinnere mich, zeigt mich neben meinem sterbenden Vater. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervorgespäht. Jetzt ist mir warm, wenn ich das Bild betrachte. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit gefürchtet habe. Weinen und Lachen falten sich wie Hände sich falten. Mutter irrte etwas später dann zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie irgendeine unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. — Das Radio erzählt, Menschen würden, ehe sie nach Wochen des Beschusses Keller verliessen, gebetet haben. Im Keller lagen ihre Toten. — stop
nachtkäfer
lima : 2.28 UTC — Für einen Moment dachte ich heute Nacht an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit einmal erzählte. 2 Uhr. Ich hatte beobachtet aus mehreren Metern Entfernung, wie ein Käfer, der einem Zeppelinkäfer ähnlich war, sehr langsam durch mein Zimmer schwebte, um auf einer Tischlampe zu landen. Dort blieb er für einige Minuten sitzen. Sofort suchte ich nach jener Geschichte, die von einem Zeppelinkäfer handelt. Sobald ich sie gefunden hatte, segelte der Käfer, der mich an meine Notiz erinnert hatte, in die Dunkelheit davon, sodass ich ihn beinahe für die personifizierte Erinnerung dieser einen Geschichte halten möchte. Sie geht so: Ein seltsames Wesen schwebte kurz nach 1 Uhr in der Nacht schnurgerade eine unsichtbare Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. — Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. — Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit acht recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. – Das Radio erzählt, im Keller eines verschütteten Hauses der Stadt Mariupol würde seit zwei Tagen ein Transistorradio seltsame Geräusche machen, pfeifen, piepsen, vermutlich deshalb, weil der Strom zurückgekommen ist. — stop
tonbandspule
romeo : 16.01 UTC — Vor 11 Jahren hatte ich von der Entdeckung eines Museums der Nachthäuser erzählt, das sich am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge befindet, die den Stadtteil Queens über den East River hinweg mit Randilis Island verbindet. Es ist noch immer ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, der Fluss so nah, dass man ihn riechen kann. Heute liegt der Garten tief verschneit. Ich stehe unter einem der Apfelbäume, die ohne Blätter sind. Dieser Baum trägt seine Sommerfrüchte so, als ob er sie festhalten würde, sie sind etwas kleiner geworden, voller Falten, aber sie leuchten rot und sie duften. Der junge Mann, der mich bereits einmal durch das Museum geführt hatte, kommt in diesem Moment auf mich zu. Er freut sich, dass ich wiedergekommen bin. Eine Weile stehen wir uns gegenüber, es ist zum Erbarmen kalt, wir treten von einem Bein aufs andere, während der junge Mann eine Zigarette raucht, dann ist es fast dunkel und wir treten wieder in das Museum ein. Er möchte mir eine kleine Maschine zeigen, die im ersten Stock seit vielen Jahren in einer weiteren Vitrine sitzt. Auf den ersten Blick scheint es sich um eine ähnliche Apparatur zu handeln, wie jene von der ich berichtete. Ein Gecko von Metall, der in der Lage ist, sich zum Zwecke protestierender Kommunikation Wände hinauf an die Decke eines Zimmers zu begeben, um sich dort festzusaugen. Aber anstatt eines oder mehrerer Schlaginstrumente, mit welchen gegen die Decke getrommelt werden könnte, verfügt dieses kleine Wesen über einen Lautsprecher, der wie ein Mund gestaltet ist, und deshalb hervorragend geeignet zu sein scheint, heftige Geräusche des Sprechens zu erzeugen. Bei dieser Apparatur, sagt der junge Angestellte, handelt es sich um den ersten Deckensprecher der Geschichte, ein äußerst sinnvolles Gerät. Er fordert mich auf, näherzutreten. Sehen Sie genau hin, sehen Sie, er ist verbeult! Tatsächlich war der kleine eiserne Gecko von zahlreichen Schlägen so verletzt, dass er vielleicht kaum noch in der Lage gewesen war, seiner Aufgabe nachzukommen. Denkbar ist, dass er in einer Nacht der Tagmenschen derart wirkungsvoll gearbeitet haben könnte, dass man ihn fangen wollte, weshalb man in die Wohnung des Nachtmenschen eingebrochen war, um ihn zum Schweigen zu bringen. Als man das ramponierte Gerät viele Jahre später öffnete, entdeckte man eine Tonbandspule, auf welcher Literatur von Bedeutung festgehalten war. Ein Bruchstück der historischen Aufnahme war noch vorhanden gewesen, und jetzt, in dieser Nacht, spielt mir der junge Mann vor, was der Apparat gesprochen hatte. Eine äußerst laute, scheppernde Stimme ist zu vernehmen: Zuerst wollte er mit dem unteren Teil seines Körpers aus dem Bett hinauskommen, aber dieser untere Teil, den er übrigens bisher nicht gesehen hatte und von dem er sich keine rechte Vorstellung machen konnte, erwies sich als zu schwer beweglich; es ging so langsam; und als er schließlich, fast wild geworden, mit gesammelter Kraft, ohne Rücksicht sich vorwärts stieß, hatte er die Richtung falsch gewählt, schlug an dem unteren Bettpfosten heftig an, und der brennende Schmerz, den er empfand, belehrte ihn, dass gerade der untere Teil augenblicklich vielleicht der empfindlichste war. — Hier endet die Spule, ums sofort wieder von vorn zu beginnen. — Das Radio erzählte von einem Jungen, der in einem Luftschutzkeller im Licht der Telefonlampen seinen Geburtstag feierte. Er trug eine rote Pappnase im Gesicht und einen weißen Papierhut, einen runden, spitz zulaufenden Zylinder auf dem Kopf. — stop
perlboot no 2
echo : 0.02 UTC — Auf der Suche nach Behälterkonstruktionen, in welchen Perlboote der Gattung Nautilus durch eine große Stadt transportiert werden könnten, ohne Schaden zu nehmen, einmal vor Jahren auf eine Website gestoßen, die unter dem Namen Louis Benett folgende Zeichenfolge vermerkt: member since monday, 30 january 2012 20.00 / last online > never logged in / profile views : 7324 – stop. Seltsame Geschichte. Die Spur eines überaus vorsichtigen Verhaltens vielleicht, weiterhin Zögern. – Mitternacht. — Das Radio erzählt, im März des vergangenen Jahres sei eine laut sprechende Frau höheren Alters aus dem 8. Stock eines Hauses in Meeresnähe gesprungen. — stop
von der existenz der schneckenkäfer
bamako : 10.02 UTC — Wie, fragte ich, sollte ein Wesen gestaltet sein, von dem niemand sagen könnte, ob es sich tatsächlich um einen Käfer oder doch eher um eine Schnecke handelte? Wie schwer wöge in einer definierenden Gleichung das Vorkommen eines Schneckenhauses? Wäre nicht vielleicht ein Käfer, dessen geschlossene Panzerung die Form eines Schneckenhauses nachempfindet, bereits als eine Schnecke anzusehen, die gerade noch misslungen ist? Dürfen Schnecken fliegen? — Das Radio erzählte, Scharfschützen der russischen Streitkräfte würden zur Übung auf Möwen sowie flüchtende Passanten schießen. — stop
von teefliegen
kilimandscharo : 22.58 UTC — Und wieder die Frage, wie ist das mit der Wirklichkeit oder der Wahrheit in meinem schreibenden Leben? Jahrelang wohnte eine Schnecke in meiner Wohnung, außerdem ein Lichtenbergfalter, Springspinnen, Libellen, ein Puma und Teefliegen, immer wieder Teefliegen. Ich habe sie mit eigenen Augen alle gesehen oder mit meinen erfindenden Augen, die in meinem Kopf verweilen. Ich könnte deshalb sagen, nicht jeder meiner Trompetenkäfer wäre vorzeigbar, aber doch vorstellbar. Einmal ich eine weitere deutliche Spur gelegt hin zur Arbeitsbeschreibung, Radar war zu lesen unter jedem meiner Particles — Texte, ein Hyperlink, der auf einen Text verwies, welcher meine Arbeit beschreibt. Dieser Text existiert seit 15 Jahren, ich hatte jene Textpassage, die Wirklichkeit und Erfindung bedeutet, zunächst unterstrichen, dann, wenige Minuten später in kursive Zeichen gesetzt. Das musste genügen, und genügt immer noch. — Das Radio erzählt von einem schwer erkrankten Kind, das in einem Keller der Stadt Mariupol nahe des Meeresboulevards, solange leise gesungen haben soll, bis seine Stimme für immer verstummte. — stop
bei harrods
MELDUNG. Automobile, folgende, wurden nach einem Kaufhausbesuch zu London in Martha B., 88, vorgefunden. Magen ‑1 Saporoshez SAS-965A [ 1967 ] , Dünndarm — 1 GAZ M21 Wolga [ 1959 ], Dickdarm — SZA Türkise [ 1958 ]. Ein nachsichtiger Richter hatte die Durchsuchung des hochbetagten Bauches einerseits, sowie unmittelbare Rückführung der Fahrzeuge in das Warenhaus Harrods an der Brompton Road andererseits, dringend empfohlen. — stop