Aus der Wörtersammlung: gesicht

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im central park

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nord­pol : 20.05 UTC — Ich war spa­zie­ren an einem win­di­gen Tag. Wie ich unter dem Regen­schirm west­wärts ging, beob­ach­te­te ich mei­ne Schu­he, die sich vor­wärts beweg­ten, als gehör­ten sie nicht zu mir. In die­sem Moment hat­te ich den Ein­druck, durch den Cen­tral Park zu gehen. Das war näm­lich so, dass ich an dem ers­ten Tag, den ich in der Stadt New York ver­brach­te, unter einem Regen­schirm durch den Cen­tral Park wan­der­te und mei­ne Schu­he beob­ach­te­te. Es war damals Mai und recht kalt gewe­sen. Von Zeit zu Zeit war ich ste­hen geblie­ben, um eines der Eich­hörn­chen zu betrach­ten, die groß sind in Nord­ame­ri­ka und unge­stüm. Ich erin­ner­te mich noch gut an die­sen Augen­blick, da ich im Cen­tral Park spa­zie­rend wie­der­um eine Pan­ther­ge­schich­te erin­ner­te, die ich ein­mal notiert hat­te über einen wei­te­ren Park, in des­sen Nach­bar­schaft ich lebe. In der Erin­ne­rung an mei­nen Spa­zier­gang in New York kehr­te die Pan­ther­ge­schich­te zurück, ich dreh­te um und ging nach Hau­se, um nach der Geschich­te zu suchen. Ich habe sie sofort gefun­den. Pan­ther­ge­schich­te: Da ist mir doch tat­säch­lich ein jun­ger Pan­ther zuge­laufen, ein zier­li­ches Wesen, das mühe­los vom Boden her auf mei­ne Schul­ter sprin­gen kann, ohne dabei auch nur den gerings­ten Anlauf neh­men zu müs­sen. Sei­ne Zun­ge ist rau, sei­ne Zäh­ne kühl, ich bin stark, auch im Gesicht, gezeich­net von sei­nen wil­den Gefüh­len. Der Pan­ther schläft, unter­dessen ich arbei­te. So glück­lich sieht er dort aus, auf der Decke unter der Lam­pe lie­gend, dass ich selbst ein wenig schläf­rig wer­de, auch wenn ich nur an ihn den­ke, an das Licht sei­ner Augen, das gelb ist, wie er zu mir her­über­schaut bis in den Kopf. Spät­abends, wenn es lan­ge schon dun­kel gewor­den ist, gehen wir spa­zie­ren. Ich lege mein Ohr an die Tür und lau­sche, das ist das Zei­chen. Gleich neben mir hat er sich aufge­richtet, schärft an der Wand sei­ne Kral­len, dann fegt er hin­aus über die Stra­ße, um einen vom Nacht­licht schon müden Vögel zu ver­spei­sen. Dar­an sind wir gewöhnt, an das lei­se Kra­chen der Gebei­ne, an schau­kelnde Federn in der Luft. Dann wei­ter die heim­liche Rou­te unter der Stern­warte hin­durch in den Palmen­garten. Es ist ein gro­ßes Glück, ihm beim Jagen zuhö­ren zu dür­fen. Ich sit­ze, die Bei­ne über­ein­ander geschla­gen, auf einer Bank am See, schaue gegen die Ster­ne, und ver­neh­me Geräu­sche der Wande­rung des klei­nen Jägers ent­lang der Ufer­strecke. Ein Rascheln. Ein Kräch­zen. Ein Schlag ins Was­ser. Wenn der Pan­ther genug hat, gehen wir nach Hau­se. — stop
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lichtzeituhr

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ulys­ses : 3.28 UTC — Es ist spät, ich fah­re mit dem Taxi. Ein Mar­der beob­ach­tet, wie ich aus dem Wagen stei­ge, er hockt auf dem Scha­len­sitz einer Kin­der­schau­kel im Park. Das Schlaf­zim­mer­fens­ter Mut­ters ist hell erleuch­tet, das ein­zi­ge Licht, das inmit­ten der Nacht noch brennt, ver­mut­lich ist sie mit der Zei­tung in der Hand ein­ge­schla­fen. Auf dem Tisch im Wohn­zim­mer ein Tel­ler, auf dem Tel­ler ruht ein Mohn­ku­chen, der noch warm ist. Ich lösche das Licht neben der schla­fen­den alten Dame, es ist kurz nach drei Uhr. Der Schal­ter der Lam­pe lei­se, sehr lei­se, ich wür­de bei­na­he sagen, der Schal­ter ist ein Schal­ter ohne Geräusch. Aber der Licht­wech­sel selbst, wenn das Licht aus­geht, scheint ein geräusch­vol­ler, hef­ti­ger Vor­gang zu sein. Und ich den­ke noch, mor­gen, wenn es wie­der hell gewor­den sein wird, am Nach­mit­tag bei Kaf­fee und Mohn­ku­chen, wer­de ich Mut­ter eine Geschich­te vor­le­sen, die sie nach­denk­lich stim­men könn­te. Die Geschich­te, die ich im Jahr 2015 notier­te, geht so: Liesl, die vor weni­gen Tagen 85 Jah­re alt wur­de, erzähl­te von einer Zeit­schalt­uhr, die ihr Sohn gleich neben ihrem Bett anzu­brin­gen wünsch­te. Er habe, hat­te ihr Sohn berich­tet, nachts immer wie­der ein­mal wahr­ge­nom­men, dass Liesl ein­schla­fen wür­de, ohne ihre Nacht­tisch­lam­pe gelöscht zu haben, er sei dann, ob des Licht­scheins, den er vom Schlaf­zim­mer der Mut­ter her kom­men sah, auf­ge­stan­den und habe sich vor­sich­tig an ihr Bett bege­ben und das Licht gelöscht. Ein­mal habe er über­legt, ob er nicht das Gesicht sei­ner schla­fen­den Mut­ter, wie zum Beweis foto­gra­fie­ren soll­te, ein so hel­les Gesicht, dass man sich kaum vor­stel­len konn­te, das Gesicht einer tat­säch­lich Schla­fen­den zu betrach­ten. Das war vor sechs Jah­ren gewe­sen. Damals habe sie ihrem Sohn gesagt, dass sie kei­ne Zeit­schalt­uhr neben sich wün­sche, sie sei doch kein Aqua­ri­um, habe sie gesagt, lie­ber schla­fe sie im strah­len­den Licht der Nacht­lam­pe ein, plötz­li­che Dun­kel­heit, um Him­mels­wil­len, nein. Ihr Sohn reis­te wie­der ab. Liesl erzähl­te, dass sie mit ihm nie wie­der über Zeit­schalt­uh­ren gespro­chen habe, unlängst aber, in einer Sep­tem­ber­nacht, sei dann plötz­lich das Licht aus­ge­gan­gen um 1 Uhr, sie habe geschimpft und sei dann vor­sich­tig aus dem Bett gestie­gen, sei auf Knien durch das stock­dunk­le Zim­mer gekro­chen zu einem Licht­schal­ter hin, der sich auf dem Flur befand, auch da war kein Licht gewe­sen, Don­ner­wet­ter! — stop
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seltsam

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ulys­ses : 1.18 — Wie ist es mög­lich, Geschich­ten zu erzäh­len, die selt­sam sind, ohne sofort selbst für selt­sam oder merk­wür­dig oder gar gefähr­lich gehal­ten zu wer­den, da doch die­se merk­wür­di­gen Geschich­ten in mei­nem Kopf ent­ste­hen? Ich habe L. von Esme­ral­da erzählt, dass Esme­ral­da eine Schne­cke sei, die in mei­ner Woh­nung lebe, als wäre sie eine Kat­ze, dass ich das klei­ne Tier füt­tern wür­de, dass ich mei­ne Woh­nung im Win­ter behei­ze, auch wenn ich nicht anwe­send sei, damit Esme­ral­da nicht frie­ren möge. Lie­be L. sag­te ich, ich wäre nie­mals auf die Idee gekom­men, mir aus frei­en Stü­cken eine Schne­cke zu kau­fen oder aber zur Som­mer­zeit in einem Gar­ten ein­zu­fan­gen, nein, nie­mals, wenn nun jedoch eine Schne­cke als Geschenk, als kos­ten­freie Offer­te auf pos­ta­li­schem Wege zu mir reis­te, war­um soll­te ich das Geschenk zurück­wei­sen, war­um nicht einen Ver­such unter­neh­men, ein guter oder vor­züg­li­cher Schne­cken­hal­ter zu wer­den? Wir wer­den es ver­su­chen, sag­te ich zur Schne­cke kurz nach­dem sie ange­kom­men war. Jah­re sind seit­her ver­gan­gen, Esme­ral­da scheint mit ihrem Leben in mei­ner Woh­nung ein­ver­stan­den zu sein. Ein­mal öff­ne­te ich die Tür zum Trep­pen­haus und war­te­te. Ein ande­res Mal öff­ne­te ich ein Fens­ter und war­te­te wie­der­um eini­ge Zeit, Esme­ral­da blieb oder kehr­te zurück. Es stellt sich nicht zum ers­ten Mal die Fra­ge: Wie alt wer­den Schne­cken? Ist Esme­ral­da nicht viel­leicht bereits viel zu alt, um noch als gewöhn­li­che Schne­cke betrach­tet wer­den zu kön­nen? — stop

nach­rich­ten von esmeralda »
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oft habe man tage lang gewartet

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nord­pol : 2.58 — Von ihrer Zeit, die sie als Flücht­lings­kind auf dem Land ver­brach­te, erzählt Mut­ter immer wie­der gern. Sie hat­ten genug zu essen, weil sie und ihre Schwes­tern bei einer Bau­ern­fa­mi­lie wohn­ten. Wenn der Vater am Wochen­en­de zu Besuch kam, ahn­te sie nichts von Tief­flie­ger­an­grif­fen auf Züge, mit wel­chen der Vater reis­te, aber an sei­ne stau­bi­gen Anzü­ge, weil er sich auf den Boden wer­fen muss­te. Die bren­nen­de Stadt Mün­chen, obwohl in gro­ßer Ent­fer­nung lie­gend, war im Schein der Feu­er damals am Hori­zont zu erah­nen gewe­sen, wie Abend­rot inmit­ten der Näch­te. Dann das War­ten auf eine Nach­richt am nächs­ten Mor­gen. Oft habe man tage­lang gewar­tet. Sie selbst habe zwei­mal einen Bom­ben­an­griff auf Mün­chen erlebt, das war zu Beginn des Luft­krie­ges. Sie habe sich nicht gefürch­tet, es sei viel­mehr span­nend gewe­sen, mit ihren Nach­barn und ande­ren Leu­ten so eng in einem Kel­ler zu sit­zen. Es gab Pra­li­nen für die Kin­der und einen Geschich­ten­er­zäh­ler. Ein Jahr spä­ter sei ihre gro­ße Schwes­ter nach einem Angriff lan­ge Zeit ver­schüt­tet gewe­sen und des­halb für Wochen ver­stummt. In die­ser Zeit habe sie gehört, dass die Scholl­wöcks abge­holt wor­den sei­en, sie kön­ne nicht sagen, wes­halb sie als Kind schon wuss­te, dass das Abho­len etwas Schreck­li­ches gewe­sen sein muss­te für die, die abge­holt wur­den. Sie habe beob­ach­tet, dass die Abge­hol­ten nie­mals wie­der­ge­kom­men sei­en, und dass von ihnen bald nicht mehr gespro­chen wur­de. Das alles habe sie als Kind schon so bemerkt, weil Kin­der sehr viel mehr bemerkt haben, als die Erwach­se­nen viel­leicht glaub­ten. Dass die Eltern in der Woh­nung vor dem Krieg das Hit­ler­bild immer umge­dreht haben, davon durf­te sie nicht erzäh­len, in der Schu­le nicht und auch anders­wo nicht. Ein­mal sei sie vom Land her wie­der in die zer­stör­te Stadt zurück­ge­kom­men, es war ein neb­li­ger Tag gewe­sen, sie habe zunächst gedacht, es sei der Nebel, aber das Haus, in dem sie und ihre Schwes­tern auf­ge­wach­sen waren, exis­tier­te nicht mehr. Damals wür­den sie Bisam­rat­ten geges­sen haben, die schmeck­ten sehr gut, und der Vater sei gelb gewor­den im Gesicht, weil sei­ne letz­te Nie­re lang­sam ver­sag­te. In die­ser Zeit habe der Vater ihr viel von der Welt erzählt, wie sie funk­tio­niert, er sei ver­stört gewe­sen, dann sei er gestor­ben. — stop

paula

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eine wiederholung

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romeo : 0.22 — In weni­gen Stun­den wer­de ich den Ver­such unter­neh­men, einen Tief­flug über Sta­ten Island hin, den ich mit­tels einer Droh­ne im Janu­ar 2015 unter­nom­men hat­te, zu wie­der­ho­len, und zwar mög­lichst prä­zi­se auf den Spu­ren Samu­els, der noch immer nicht ver­schwun­den ist. Ob das mög­lich sein wird? Ich notier­te: Wäh­rend der Recher­che im Inter­net nach Pro­pel­ler­flug­ma­schi­nen, die von Hand zu bedie­nen sind, ent­deck­te ich eine Leih­sta­ti­on für Droh­nen­vö­gel nahe des St. Geor­ge Fer­ry Ter­mi­nals, und zwar in der Bay Street, Haus­num­mer 54. Obwohl ich mich in Mit­tel­eu­ro­pa befand, muss­te ich, um Kun­de wer­den zu kön­nen, kei­ne wei­te­ren Anga­ben zur Per­son hin­ter­le­gen als mei­ne Kre­dit­kar­ten­num­mer, nicht also begrün­den, wes­halb ich den klei­nen Metall­vo­gel, sechs Pro­pel­ler, für drei Stun­den nahe der Stadt New York aus­lei­hen woll­te. Auch erkun­dig­te sich nie­mand, ob ich über­haupt in der Lage wäre, eine Droh­ne zu steu­ern, selt­sa­me Sache. Ich bezahl­te 24 Dol­lar und star­te­te unver­züg­lich mit­hil­fe mei­ner Com­pu­ter­tas­ta­tur vom Dach eines fla­chen Gebäu­des aus. Ich flog zunächst vor­sich­tig auf und ab, um nach weni­gen Minu­ten bereits einen Flug ent­lang der Metro­ge­lei­se zu wagen, die in einem sanf­ten Bogen in Rich­tung des offe­nen Atlan­tiks nach Tot­ten­ville füh­ren. Ich beweg­te mich sehr lang­sam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die fer­ne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bild­schirm war gut zu erken­nen, ich ver­moch­te selbst Gesich­ter von Rei­sen­den hin­ter stau­bi­gen Fens­ter­schei­ben pas­sie­ren­der Züge zu ent­de­cken. Nach einer hal­ben Stun­de erreich­te ich Clif­ton, nied­ri­ge Häu­ser dort, dicht an dicht, in den Gär­ten mäch­ti­ge, alte Bäu­me, um nach einer wei­te­ren Vier­tel­stun­de Flug­zeit unter der Ver­ranz­a­no-Nar­rows Bridge hin­durch­zu­flie­gen. Nahe der Sta­ti­on Jef­fer­son Ave­nue wur­de gera­de ein Feu­er gelöscht, eine Rauch­säu­le rag­te senk­recht hoch in die Luft, als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steu­er­te in der­sel­ben Höhe wie zuvor, der Lower Bay ent­ge­gen. Am Strand spa­zier­ten Men­schen, die wink­ten, als sie mei­nen Droh­nen­vo­gel oder mich ent­deck­ten. Als ich etwas tie­fer ging, bemerk­te ich in der Kro­ne eines Bau­mes in Ufer­nä­he ein Fahr­rad, des Wei­te­ren einen Stuhl und eine Pup­pe, auch Tang war zu erken­nen und ver­ein­zelt Vogel­nes­ter. Es war spä­ter Nach­mit­tag  gewor­den jen­seits des Atlan­tiks, es wur­de lang­sam dun­kel. — stop
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im warenhaus

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marim­ba : 0.02 — Am Abend im Waren­haus beob­ach­te ich einen Jun­gen. Er springt in einer War­te­schlan­ge vor einer Kas­se her­um und lacht und ver­dreht die Augen. Weil sich auf dem För­der­band vor der Kas­se Milch­fla­schen, Corn­flakes­schach­teln, Reistü­ten sowie zwei Honig­me­lo­nen befin­den, kann der Jun­ge den Mann, der an der Kas­se sei­ne Arbeit ver­rich­tet, zunächst nicht sehen. Bei dem Mann han­delt es sich um Javuz Aylin, er ist mit­tels eines Namens­schild­chens, das in der Nähe sei­nes Her­zens ange­bracht wur­de, zu iden­ti­fi­zie­ren. In die­sem Moment der Geschich­te erhebt sich Herr Aylin ein wenig von sei­nem Stuhl, um neu­gie­rig  über die Waren hin­weg zu spä­hen, ver­mut­lich des­halb, weil der Haar­schopf des Jun­gen mehr­fach in sein Blick­feld hüpf­te. Da ist noch ein zwei­ter Haar­schopf an die­sem Abend im Waren­haus in nächs­ter Nähe, schwar­zes, locki­ges Haar, es ist der jün­ge­re Bru­der des Jun­gen, der in weni­gen Sekun­den zu dem Kas­sie­rer spre­chen wird, bei­de Kin­der sind sich so ähn­lich, als sei­en sie Zwil­lin­ge, ein gro­ßer und ein klei­ner Zwil­ling. Gleich hin­ter den Buben war­tet die Mut­ter, sie lächelt, wie sie ihre Kin­der so fröh­lich her­um­tol­len sieht. Die jun­ge Frau trägt ein schö­nes bun­tes Kopf­tuch, ich stel­le mir vor, sie könn­te in Marok­ko gebo­ren wor­den sein, kräf­tig geschmink­ter Mund, herr­li­che Augen. Plötz­lich sind die Waren auf dem För­der­band ver­schwun­den, der älte­re der bei­den Jungs betrach­tet auf­merk­sam das Gesicht des Kas­sie­rers Aylin, der müde zu sein scheint. Er hält dem Jun­gen ein Päck­chen mit Sam­mel­bil­dern zur Euro­pa­meis­ter­schaft ent­ge­gen, außer­dem ein zwei­tes Päck­chen für den klei­ne­ren Bru­der, der immer noch hüpft, weil er soeben doch noch zu klein ist, um über das Band selbst hin­weg spä­hen zu kön­nen. Oh, dan­ke, sagt der Jun­ge zu Herrn Aylin. Er schaut kurz zur Mut­ter hin­auf, die nickt. Ich habe schon fast alle Kar­ten, fährt er fort, die deut­sche Mann­schaft ist kom­plett. Er macht eine kur­ze Pau­se. Ich bin näm­lich Deut­scher, sagt der Jun­ge mit kräf­ti­ger Stim­me, auch mein Bru­der ist Deut­scher. Wie­der schaut er zu Mut­ter hin, und wie­der nickt die jun­ge Frau und lacht. Bist Du auch Deut­scher, fragt der Jun­ge Herrn Aylin. Der schüt­telt jetzt den Kopf und schnei­det eine freund­li­che Gri­mas­se. Der Jun­ge setzt nach: Ach so! War­um nicht? Aber da ist er, ehe Herr Aylin ant­wor­ten kann, mit sei­nem klei­nen Bru­der und sei­nen Sam­mel­bil­dern bereits hin­ter der Kas­se ver­schwun­den, sodass sich ihre Mut­ter beei­len muss, um sie nicht aus den Augen zu ver­lie­ren. — stop
ersteseite

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julia : letzte position 29°05’22.3“N 12°25’35.9“E

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tan­go : 2.01 — Vor weni­gen Stun­den erreich­te mich die Nach­richt von der Exis­tenz wei­te­rer Foto­gra­fien, die ent­haup­te­te Men­schen zei­gen sol­len. Ein Ver­weis, der zu den Auf­nah­men im Netz füh­re, sei auf Posi­ti­on Twit­ter zu lesen. Ich über­leg­te eine Wei­le, ob ich dem bei­gefüg­ten Link fol­gen soll­te. Ich dach­te, wie nah wir doch immer wie­der Höl­len­an­sich­ten kom­men, die mög­li­cher­wei­se nur des­halb pro­du­ziert wer­den, weil zu ver­mu­ten ist, dass Mil­lio­nen Men­schen welt­weit sie betrach­ten wer­den. Ich notier­te einen Brief­ent­wurf: Mein lie­ber Maxi­mi­li­an, vie­len Dank, dass Du mich wie­der ein­mal auf schreck­li­che Ereig­nis­se, die sich in der liby­schen Wüs­te ereig­net haben, auf­merk­sam machst. Noch ein­mal will ich Dich bit­ten, auf wei­te­re Hin­wei­se die­ser Art zu ver­zich­ten, da ich leb­lo­se Köp­fe nicht wei­ter besich­ti­gen möch­te, sie wir­ken so hilf­los, müde, und ent­setzt von der unge­heu­ren Gewalt, die in der letz­ten Sekun­de ihres Lebens auf sie wirk­te. Ich weiß, Du kannst selbst nicht damit nicht auf­hö­ren, Du zählst mensch­li­che Köp­fe ohne Leib, Du ver­gleichst leb­lo­se Gesich­ter, Du sicherst Bewei­se, ich neh­me an, Du wirst Dich in die­ser Arbeit weni­ger hilf­los füh­len. Wie trau­rig, dass noch immer kei­ne Nach­richt von Julia bei Dir ein­ge­trof­fen ist, kei­ne Spur in der Wüs­te, kein Hin­weis, es ist eine Tra­gö­die. Viel­leicht willst Du mich ein­mal besu­chen! Wir könn­ten spa­zie­ren, Du könn­test mir erzäh­len, ich könn­te Dir zuhö­ren. Im bota­ni­schen Gar­ten wird gera­de der Honig der Wild­bie­nen geern­tet. Herz­li­che Grü­ße sen­det Dir Dein Lou­is – stop
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unordentliches kind

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india : 0.58 — Unor­dent­li­ches Kind: Jeder Stein, den es fin­det, jede gepflück­te Blu­me und jeder gefan­ge­ne Schmet­ter­ling ist ihm von Anfang an schon Samm­lung, und alles, was es über­haupt besitzt, macht ihm eine ein­zi­ge Samm­lung aus. An ihm zeigt die­se Lei­den­schaft ihr wah­res Gesicht, der in den Anti­qua­ren, For­schern, Bücher­nar­ren nur noch getrübt und manisch wei­ter­brennt. Kaum tritt es ins Leben, so ist es Jäger. Es jagt die Geis­ter, deren Spur es in den Din­gen wit­tert. Sei­ne Noma­den­jah­re sind Stun­den im Traum­wald. Dort­her schleppt es die Beu­te heim, um sie zu rei­ni­gen, zu fes­ti­gen, zu ent­zau­bern. Sei­ne Schub­la­den müs­sen Zeug­haus und Zoo, Kri­mi­nal­mu­se­um und Kryp­ta wer­den. Auf­räu­men hie­ße einen Bau ver­nich­ten voll sta­che­li­ger Kas­ta­ni­en, die Mor­gen­ster­ne, Stan­ni­ol­pa­pie­re, die ein Sil­ber­hort, Bau­klöt­ze, die Sär­ge, Kak­teen, die Totem­bäu­me und Kup­fer­pfen­ni­ge, die Schil­der sind. Wal­ter Ben­ja­min. Ein Pfiff. — stop

monroenote



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