delta : 12.22 UTC — Eine Frau sitzt neben einem Tisch auf einem harten Stuhl. Ihr rechter Arm liegt auf dem Tisch, eine Ärztin misst den Blutdruck. Es ist still in dem Zimmer in diesem Augenblick. Nur das Motorengeräusch des Messgerätes, das Luft in eine Manschette pumpt, die um den Arm der Frau gelegt wurde, brummt als hockte ein große träumende Fliege unter dem Tisch. Dann ist die Fliege plötzlich still und die Ärztin notiert einige Zahlen und nickt mir zu, ohne etwas zu sagen. Als ich mich zu der Frau setze, weicht sie auf dem Stuhl kaum merklich zurück. Ich frage: Wollen Sie vielleicht Tee? — Die Frau schüttelt den Kopf und lächelt. Darf ich Ihnen ein oder zwei Fragen stellen? — Wieder lächelt die Frau. Sie ist scheu. Aber sie will nicht zeigen, dass sie scheu ist, so könnte das sein. Ein seltsamer Moment, alles im Zimmer scheint zu schweben, der Tisch, die Stühle, die Menschen. Ich weiß, dass die Frau, deren Blutdruck gemessen wurde, aus der Ferne gekommen ist, so fern ist das Land, von dem sie gekommen ist, dass ein Jahr vergehen würde, ehe man dieses Land zu Fuß erreichte. Es ist ein Wunder, dass sie meine Sprache versteht, immer wieder denke ich, wie gut, dass Menschen in der Lage sind, die Sprachen anderer Menschen zu erlernen. Und wie sie jetzt lächelt, ich meine, noch nie zuvor ein derart mutiges Lächeln gesehen zu haben, während die Ärztin etwas getrocknetes Blut von ihrem Hals tupft. Behutsam wird eine kleine Wunde versorgt, die unter dichtem Haar im Verborgenen liegt. Die Ärztin nimmt sich viel Zeit, sie geht hinter der verletzten Frau in die Hocke und beginnt leise zu sprechen. Sie sagt: Das ist merkwürdig! Und noch einmal sagt sie: Das ist merkwürdig. Wie sie sich wieder aufrichtet, macht sie ein sehr ernstes Gesicht. Bald kniet sie vor der verletzten Frau auf dem Boden, nimmt eine Hand der Frau und drückt sie fest: Machen sie sich keine Sorgen, das ist nur eine kleine Wunde, die Blutung ist längst gestillt. Die Ärztin, die etwas schwitzt, sieht der mutig lächelnden Frau in die Augen. Plötzlich fragt sie: Sind Sie geschlagen worden? Sofort nickt die Frau, ihr Gesicht scheint zu leuchten, und noch einmal nickt sie und sagt mit heller Stimme: Ja. Und die Ärztin fragt: Sie wissen, von wem sie geschlagen wurden? — Ja, antwortet die Frau ein zweites Mal, das weiß ich. Die Ärztin erhebt und wendet sich wieder dem Ort zu, da die Frau am Kopf verletzt wurde. Erneut geht sie in die Hocke und betrachtet die Verletzung auf das Genaueste. Behutsam fährt sie der Frau über das Haar, sie scheint eine weiterführende Untersuchung vorzunehmen. Und wie sie so arbeitet, schließt die verletzte Frau ihre Augen, als wollte sie vielleicht verbergen, was sie fühlte. So, mit geschlossenen Augen, sagt sie plötzlich mit fester Stimme: Ich würde doch gerne einen Tee trinken! — Das ist gut, antworte ich und stehe auf. Die Ärztin ist indessen mit ihrer Untersuchung zu Ende gekommen, sie setzt sich auf den freigewordenen Stuhl und stellt mit nüchterner Stimme fest: Sie sind nicht zum ersten Mal geschlagen worden! — Die Frau nickt wortlos. Und die Ärztin sagt: Sie sind oft geschlagen worden! Immer wurden Sie auf den Kopf geschlagen, kann das sein? — Wieder nickt die Frau und beginnt zu weinen. — stop
Aus der Wörtersammlung: gesicht
nuevo mundo
lima : 12.15 UTC — Ich stelle mir einen Film vor, ein mediales Arche Noah Prinzip, jedes Lebewesen unseres Planeten wäre darauf verzeichnet, jede Pflanze, auch das mikroskopisch Kleinste, Mikroben, Bakterien, Viren. In kürzeste Schnittfolgen müsste dieser Film zerlegt sein, um in menschlicher Lebenszeit je betrachtet werden zu können. Welches Lebewesen könnte auf dem letzten verfügbaren Bild des Filmes zu sehen sein? — stop
im aufzug : zwei hände
charlie : 10.02 UTC — Die plötzliche Langsamkeit meines Denkens im Gespräch mit Menschen, die die Sprache meines Denkens nicht oder nicht wirklich gut verstehen. Unverzügliche, intensive Suche nach Möglichkeiten einfacher Darstellung, oder gar die Erfindung einer individuellen, einer in diesem Moment des Verständigungsversuches wirksamen Zeichensprache, Radare, die anstrengend sind wie Springseiltraining an Ort und Stelle. Einmal begegnete ich einem Mann in einem Aufzug. Sein Gesicht war entstellt, er mochte mich nicht ansehen, er schimpfte lautstark mit seiner Hand. Plötzlich hörte ich Sätze, die an mich gerichtet waren. Als ich dem scheuen Mann antwortete, sprach ich, eine vorsichtige Geste, gleichwohl in die Richtung meiner eigenen rechten Hand, sodass unsere Hände zu Telefonen wurden. — stop
im central park
nordpol : 20.05 UTC — Ich war spazieren an einem windigen Tag. Wie ich unter dem Regenschirm westwärts ging, beobachtete ich meine Schuhe, die sich vorwärts bewegten, als gehörten sie nicht zu mir. In diesem Moment hatte ich den Eindruck, durch den Central Park zu gehen. Das war nämlich so, dass ich an dem ersten Tag, den ich in der Stadt New York verbrachte, unter einem Regenschirm durch den Central Park wanderte und meine Schuhe beobachtete. Es war damals Mai und recht kalt gewesen. Von Zeit zu Zeit war ich stehen geblieben, um eines der Eichhörnchen zu betrachten, die groß sind in Nordamerika und ungestüm. Ich erinnerte mich noch gut an diesen Augenblick, da ich im Central Park spazierend wiederum eine Panthergeschichte erinnerte, die ich einmal notiert hatte über einen weiteren Park, in dessen Nachbarschaft ich lebe. In der Erinnerung an meinen Spaziergang in New York kehrte die Panthergeschichte zurück, ich drehte um und ging nach Hause, um nach der Geschichte zu suchen. Ich habe sie sofort gefunden. Panthergeschichte: Da ist mir doch tatsächlich ein junger Panther zugelaufen, ein zierliches Wesen, das mühelos vom Boden her auf meine Schulter springen kann, ohne dabei auch nur den geringsten Anlauf nehmen zu müssen. Seine Zunge ist rau, seine Zähne kühl, ich bin stark, auch im Gesicht, gezeichnet von seinen wilden Gefühlen. Der Panther schläft, unterdessen ich arbeite. So glücklich sieht er dort aus, auf der Decke unter der Lampe liegend, dass ich selbst ein wenig schläfrig werde, auch wenn ich nur an ihn denke, an das Licht seiner Augen, das gelb ist, wie er zu mir herüberschaut bis in den Kopf. Spätabends, wenn es lange schon dunkel geworden ist, gehen wir spazieren. Ich lege mein Ohr an die Tür und lausche, das ist das Zeichen. Gleich neben mir hat er sich aufgerichtet, schärft an der Wand seine Krallen, dann fegt er hinaus über die Straße, um einen vom Nachtlicht schon müden Vögel zu verspeisen. Daran sind wir gewöhnt, an das leise Krachen der Gebeine, an schaukelnde Federn in der Luft. Dann weiter die heimliche Route unter der Sternwarte hindurch in den Palmengarten. Es ist ein großes Glück, ihm beim Jagen zuhören zu dürfen. Ich sitze, die Beine übereinander geschlagen, auf einer Bank am See, schaue gegen die Sterne, und vernehme Geräusche der Wanderung des kleinen Jägers entlang der Uferstrecke. Ein Rascheln. Ein Krächzen. Ein Schlag ins Wasser. Wenn der Panther genug hat, gehen wir nach Hause. — stop
lichtzeituhr
ulysses : 3.28 UTC — Es ist spät, ich fahre mit dem Taxi. Ein Marder beobachtet, wie ich aus dem Wagen steige, er hockt auf dem Schalensitz einer Kinderschaukel im Park. Das Schlafzimmerfenster Mutters ist hell erleuchtet, das einzige Licht, das inmitten der Nacht noch brennt, vermutlich ist sie mit der Zeitung in der Hand eingeschlafen. Auf dem Tisch im Wohnzimmer ein Teller, auf dem Teller ruht ein Mohnkuchen, der noch warm ist. Ich lösche das Licht neben der schlafenden alten Dame, es ist kurz nach drei Uhr. Der Schalter der Lampe leise, sehr leise, ich würde beinahe sagen, der Schalter ist ein Schalter ohne Geräusch. Aber der Lichtwechsel selbst, wenn das Licht ausgeht, scheint ein geräuschvoller, heftiger Vorgang zu sein. Und ich denke noch, morgen, wenn es wieder hell geworden sein wird, am Nachmittag bei Kaffee und Mohnkuchen, werde ich Mutter eine Geschichte vorlesen, die sie nachdenklich stimmen könnte. Die Geschichte, die ich im Jahr 2015 notierte, geht so: Liesl, die vor wenigen Tagen 85 Jahre alt wurde, erzählte von einer Zeitschaltuhr, die ihr Sohn gleich neben ihrem Bett anzubringen wünschte. Er habe, hatte ihr Sohn berichtet, nachts immer wieder einmal wahrgenommen, dass Liesl einschlafen würde, ohne ihre Nachttischlampe gelöscht zu haben, er sei dann, ob des Lichtscheins, den er vom Schlafzimmer der Mutter her kommen sah, aufgestanden und habe sich vorsichtig an ihr Bett begeben und das Licht gelöscht. Einmal habe er überlegt, ob er nicht das Gesicht seiner schlafenden Mutter, wie zum Beweis fotografieren sollte, ein so helles Gesicht, dass man sich kaum vorstellen konnte, das Gesicht einer tatsächlich Schlafenden zu betrachten. Das war vor sechs Jahren gewesen. Damals habe sie ihrem Sohn gesagt, dass sie keine Zeitschaltuhr neben sich wünsche, sie sei doch kein Aquarium, habe sie gesagt, lieber schlafe sie im strahlenden Licht der Nachtlampe ein, plötzliche Dunkelheit, um Himmelswillen, nein. Ihr Sohn reiste wieder ab. Liesl erzählte, dass sie mit ihm nie wieder über Zeitschaltuhren gesprochen habe, unlängst aber, in einer Septembernacht, sei dann plötzlich das Licht ausgegangen um 1 Uhr, sie habe geschimpft und sei dann vorsichtig aus dem Bett gestiegen, sei auf Knien durch das stockdunkle Zimmer gekrochen zu einem Lichtschalter hin, der sich auf dem Flur befand, auch da war kein Licht gewesen, Donnerwetter! — stop
as-sidr
seltsam
ulysses : 1.18 — Wie ist es möglich, Geschichten zu erzählen, die seltsam sind, ohne sofort selbst für seltsam oder merkwürdig oder gar gefährlich gehalten zu werden, da doch diese merkwürdigen Geschichten in meinem Kopf entstehen? Ich habe L. von Esmeralda erzählt, dass Esmeralda eine Schnecke sei, die in meiner Wohnung lebe, als wäre sie eine Katze, dass ich das kleine Tier füttern würde, dass ich meine Wohnung im Winter beheize, auch wenn ich nicht anwesend sei, damit Esmeralda nicht frieren möge. Liebe L. sagte ich, ich wäre niemals auf die Idee gekommen, mir aus freien Stücken eine Schnecke zu kaufen oder aber zur Sommerzeit in einem Garten einzufangen, nein, niemals, wenn nun jedoch eine Schnecke als Geschenk, als kostenfreie Offerte auf postalischem Wege zu mir reiste, warum sollte ich das Geschenk zurückweisen, warum nicht einen Versuch unternehmen, ein guter oder vorzüglicher Schneckenhalter zu werden? Wir werden es versuchen, sagte ich zur Schnecke kurz nachdem sie angekommen war. Jahre sind seither vergangen, Esmeralda scheint mit ihrem Leben in meiner Wohnung einverstanden zu sein. Einmal öffnete ich die Tür zum Treppenhaus und wartete. Ein anderes Mal öffnete ich ein Fenster und wartete wiederum einige Zeit, Esmeralda blieb oder kehrte zurück. Es stellt sich nicht zum ersten Mal die Frage: Wie alt werden Schnecken? Ist Esmeralda nicht vielleicht bereits viel zu alt, um noch als gewöhnliche Schnecke betrachtet werden zu können? — stop
oft habe man tage lang gewartet
nordpol : 2.58 — Von ihrer Zeit, die sie als Flüchtlingskind auf dem Land verbrachte, erzählt Mutter immer wieder gern. Sie hatten genug zu essen, weil sie und ihre Schwestern bei einer Bauernfamilie wohnten. Wenn der Vater am Wochenende zu Besuch kam, ahnte sie nichts von Tieffliegerangriffen auf Züge, mit welchen der Vater reiste, aber an seine staubigen Anzüge, weil er sich auf den Boden werfen musste. Die brennende Stadt München, obwohl in großer Entfernung liegend, war im Schein der Feuer damals am Horizont zu erahnen gewesen, wie Abendrot inmitten der Nächte. Dann das Warten auf eine Nachricht am nächsten Morgen. Oft habe man tagelang gewartet. Sie selbst habe zweimal einen Bombenangriff auf München erlebt, das war zu Beginn des Luftkrieges. Sie habe sich nicht gefürchtet, es sei vielmehr spannend gewesen, mit ihren Nachbarn und anderen Leuten so eng in einem Keller zu sitzen. Es gab Pralinen für die Kinder und einen Geschichtenerzähler. Ein Jahr später sei ihre große Schwester nach einem Angriff lange Zeit verschüttet gewesen und deshalb für Wochen verstummt. In dieser Zeit habe sie gehört, dass die Schollwöcks abgeholt worden seien, sie könne nicht sagen, weshalb sie als Kind schon wusste, dass das Abholen etwas Schreckliches gewesen sein musste für die, die abgeholt wurden. Sie habe beobachtet, dass die Abgeholten niemals wiedergekommen seien, und dass von ihnen bald nicht mehr gesprochen wurde. Das alles habe sie als Kind schon so bemerkt, weil Kinder sehr viel mehr bemerkt haben, als die Erwachsenen vielleicht glaubten. Dass die Eltern in der Wohnung vor dem Krieg das Hitlerbild immer umgedreht haben, davon durfte sie nicht erzählen, in der Schule nicht und auch anderswo nicht. Einmal sei sie vom Land her wieder in die zerstörte Stadt zurückgekommen, es war ein nebliger Tag gewesen, sie habe zunächst gedacht, es sei der Nebel, aber das Haus, in dem sie und ihre Schwestern aufgewachsen waren, existierte nicht mehr. Damals würden sie Bisamratten gegessen haben, die schmeckten sehr gut, und der Vater sei gelb geworden im Gesicht, weil seine letzte Niere langsam versagte. In dieser Zeit habe der Vater ihr viel von der Welt erzählt, wie sie funktioniert, er sei verstört gewesen, dann sei er gestorben. — stop
eine wiederholung
romeo : 0.22 — In wenigen Stunden werde ich den Versuch unternehmen, einen Tiefflug über Staten Island hin, den ich mittels einer Drohne im Januar 2015 unternommen hatte, zu wiederholen, und zwar möglichst präzise auf den Spuren Samuels, der noch immer nicht verschwunden ist. Ob das möglich sein wird? Ich notierte: Während der Recherche im Internet nach Propellerflugmaschinen, die von Hand zu bedienen sind, entdeckte ich eine Leihstation für Drohnenvögel nahe des St. George Ferry Terminals, und zwar in der Bay Street, Hausnummer 54. Obwohl ich mich in Mitteleuropa befand, musste ich, um Kunde werden zu können, keine weiteren Angaben zur Person hinterlegen als meine Kreditkartennummer, nicht also begründen, weshalb ich den kleinen Metallvogel, sechs Propeller, für drei Stunden nahe der Stadt New York ausleihen wollte. Auch erkundigte sich niemand, ob ich überhaupt in der Lage wäre, eine Drohne zu steuern, seltsame Sache. Ich bezahlte 24 Dollar und startete unverzüglich mithilfe meiner Computertastatur vom Dach eines flachen Gebäudes aus. Ich flog zunächst vorsichtig auf und ab, um nach wenigen Minuten bereits einen Flug entlang der Metrogeleise zu wagen, die in einem sanften Bogen in Richtung des offenen Atlantiks nach Tottenville führen. Ich bewegte mich sehr langsam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die ferne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bildschirm war gut zu erkennen, ich vermochte selbst Gesichter von Reisenden hinter staubigen Fensterscheiben passierender Züge zu entdecken. Nach einer halben Stunde erreichte ich Clifton, niedrige Häuser dort, dicht an dicht, in den Gärten mächtige, alte Bäume, um nach einer weiteren Viertelstunde Flugzeit unter der Verranzano-Narrows Bridge hindurchzufliegen. Nahe der Station Jefferson Avenue wurde gerade ein Feuer gelöscht, eine Rauchsäule ragte senkrecht hoch in die Luft, als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steuerte in derselben Höhe wie zuvor, der Lower Bay entgegen. Am Strand spazierten Menschen, die winkten, als sie meinen Drohnenvogel oder mich entdeckten. Als ich etwas tiefer ging, bemerkte ich in der Krone eines Baumes in Ufernähe ein Fahrrad, des Weiteren einen Stuhl und eine Puppe, auch Tang war zu erkennen und vereinzelt Vogelnester. Es war später Nachmittag geworden jenseits des Atlantiks, es wurde langsam dunkel. — stop