echo : 1.58 — Vor längerer Zeit einmal wollte ich ein Haus besuchen, das die Fotografin Alice Austen viele Jahre ihres Lebens bewohnte. Ich erinnere mich, es war ein bitterkalter Tag gewesen, Schnee bedeckte Staten Island, und die Luft war so eisig, dass selbst die Möwen nicht zu fliegen wünschten. Vermutlich deshalb, weil es so kalt gewesen war, blieb ich an der Railway Station Clifton im Zug, anstatt auszusteigen und ein paar Meter zu Fuß zu Austens Haus zu gehen. Ich fuhr weiter bis nach Tottenville, wo der Zug eine halbe Stunde wartete, um dann dieselbe Strecke zurückzufahren. Ein Angestellter der Bahngesellschaft dampfte wie eine Lokomotive über den Bahnsteig von Waggon zu Waggon, er schlug Eis von den Trittbrettern des Zuges. Als wir uns wieder in Bewegung setzten, ließ er sich auf eine Bank fallen und schlief sofort ein. Auch auf meinem Rückweg zum Fährschiffterminal stieg ich in Clifton nicht aus, es war noch immer stürmisch, und ich vergaß das Haus, das ich besichtigen wollte, und Alice Austen, die tausende Fotografien Manhattans zu einer Zeit angefertigt hatte, da das Fotografieren noch Mut, Kraft und Ausdauer erforderte. Gestern habe ich ein wenig Zeit auf der Suche nach ihr verbracht. Sie soll als einzige Frau der Insel Besitzerin eines Automobils gewesen sein. Auf einer Fotografie ist ihre Lebensgefährtin Gertrude Tate zu sehen, wie sie stillhält. Die junge Frau sitzt auf einer Veranda, die heute noch existieren soll, umgeben von Blumen, einer Wildnis so wild, dass sie die nahe Küste verbirgt. Auf einer weiteren Fotografie, die ich noch nicht kenne, soll Alice Austen an derselben Stelle im Alter von 26 Jahren zu sehen sein, auch sie sitzend, eine Selbstaufnahme, unter einem Strauß Blumen verborgen ein Gummiball gefüllt mit Luft, die sie mittels einer kräftigen Bewegung ihrer Hand durch einen Schlauch zu ihrer Kamera gepresst haben musste, um die Lichtaufnahme auszulösen. Ein Geräusch vielleicht, wie ein Atemzug möglicherweise, oder ein Seufzen. — stop
Aus der Wörtersammlung: insel
holly
remington : 18.05 — Ich träumte, von einer Staten Island Fähre auf das offene Meer hinaus getragen worden zu sein. An Bord des Schiffes waren zahlreiche Menschen gewesen, sie fotografierten einander, manche lasen in einer Zeitung, andere tranken Kaffee aus Pappbechern oder telefonierten. Niemand schien sich zu wundern, dass die Fähre, hinsichtlich einer üblichen Reisedauer von 25 Minuten, nicht landete. Stunden vergingen. Einmal fegte ein Sturm über das Schiff hinweg, hunderte Möwen flatterten kreischend über die Decks. Irgendwann schlief ich ein, und ich träumte, als ich erwachte, eine Frau habe mir gegenüber Platz genommen. Ich meine, mich an ihren Namen erinnern zu können, ich glaube, sie hieß Holly. In diesem Augenblick, als ich die Augen öffnete, transferierte sie einen Text mittels eines Pinsels auf ein quadratisches Blatt Papier, das von mindestens 50 cm Durchmesser gewesen war. Sie trug eine Sonnenbrille sowie einen Sommerhut auf dem Kopf, außerdem ein helles Kleid, auf welchem vereinzelt Kirschen aufgedruckt worden waren, und schwere Wanderschuhe, deren Schnürsenkel sie nicht verknotet hatte. Von einer Sekunde zur anderen Sekunde schlief auch Holly ein, ihr Kopf neigte sich zur Seite, kurz darauf glitt das Papier, das sie beschriftet hatte, von ihren Schenkeln und landete vor mir auf dem Boden, sodass ich lesen konnte, was Holly notierte: Lesemaschine No. 82 / Dachgarten, 75, Greenwich Avenue Manhattan [ Schlüssel : Mrs. M. Linneker — 8. Stock ] > Die Geschichte von den Papiertierchen. Handzeichnung, ca. 68 pt: Man stelle sich einmal vor, Papiertierchen existierten in unserer Welt. Nicht etwa Tierchen, die aus Papier gemacht oder vergleichbarer Ware, sondern tatsächliche Lebewesen, die so ausgedacht sind, dass sie sich zu Formen versammeln, die einer Papierseite ähnlich sind. Weil diese Lebewesen, wie ich sie mir gerade male, sehr klein sein sollten, sagen wir in der Fläche so groß wie die Spitze einer Nadel, würde ein Maschinenbogen von nicht weniger als zwei Millionen Individuen nachgebildet sein. Jedes Papiertierchen, sichtbar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikroskops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier weiteren Tierchen, die es schon immer kennt, mittels feinster Tentakeln zu verbinden oder zu befreunden, und zwar nur mit diesen, sodass man von eindeutiger Ordnung sprechen könnte, nicht von einer beliebigen Anordnung. Ja, jedes der kleinen Wesen für sich spricht von einem ureigenen Ort, den es niemals vergisst. Sobald alles schön zu einer Seite geordnet ist, werden mit Licht, mit einem Lichtstift genauer, Zeichen gesetzt auf das lebende Papier, indem man leichter Hand wie mit einem Füller schreibt. Wird ein schneeweißes Tierchen berührt vom notierenden Licht, nimmt es sogleich die schwarze Farbe an und verbleibt von diesem Schwarz, bis es von weiterem Licht berührt werden könnte, einem Licht natürlich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lampe das Zeichen der Nacht sofort über die Landschaft der filigranen Körper schreiben würde. Ich hatte, während ich diesem Gedanken noch auf einer gewöhnlichen Computerschreibmaschine folgte, die Idee, dass sie vielleicht alle sehr schreckhaft sind, also zunächst unvollkommen oder wild, dass sie, zum Beispiel, wenn ein Feuerwehrauto in ihrer Nähe vorüber kommen sollte, sofort auseinander fliegen in Panik, sich verstecken, um jedes für sich oder in größeren Gruppen an den Wänden meiner Zimmer zu sitzen. Vielleicht lungern sie auch auf Kaffeetassen herum oder in den Haarblättern eines Elefantenfußbaumes, ja, das ist gut denkbar. Ich werde dann warten, ruhig und gelassen warten, bis sie sich wieder beruhigt haben werden und zurückkommen, sagen wir nach einer Stunde oder zwei. Dann weiter schreiben oder lesen oder denken. Und jetzt habe ich einen Knoten im Kopf, sollte bald einmal wach werden. — stop
san lorenzo de esmeraldas
kilimandscharo : 6.55 — Am Samstag der vergangenen Woche erreichte mich eine Warensendung, die in einem Dorf namens San Lorenzo de Esmeraldas bereits im Juli aufgegeben worden war. Die kleine Ortschaft liegt nahe der Grenze zu Kolumbien im Dschungel unweit der Pazifikküste, lange Nächte, feuchte Luft, kreischende Tamarine. Das Päckchen, ich hatte lange darauf gewartet, enthielt ein Kästchen von Holz in der Größe einer Zigarrenschachtel, das mittels eines blauen Gummiriemens verschlossen wurde. Ich stellte das Kästchen auf meinen Schreibtisch ab, um es vorsichtig zu öffnen. Feiner, heller Sand wurde sichtbar, Sand, so fein wie gemahlener Kampot-Pfeffer. Bald arbeitete ich mich mit einem Pinsel vorsichtig in die Tiefe voran, bis ich auf zwei Körper stieß. Es handelte sich um Käferwesen, die deshalb etwas Besonderes darstellten, weil sie je über zwei Köpfe verfügten und über sechs Fühler, die im Moment meiner Besichtigung nicht im Geringsten auf meine Gegenwart reagierten. Nach einer halben Stunde, ich hatte die Käfer bis dahin liebevoll betrachtet, waren endlich Lebenszeichen zu erkennen, die Fühler der Käfer bewegten sich, und ich hob sie aus ihrem Sandbett und sie schlugen mit den Flügeln, als wollten sie mich begrüßen. Ihre Körper waren weich, sie bebten, und sie verströmten einen feinen Duft, der mich an Mandeln erinnerte. Zur ersten Probe setzte ich einen der Käfer an mein linkes Ohr, und der Käfer drang unverzüglich in mich ein, sehr behutsam, bis ich bemerkte, dass seine Fühler mein Trommelfell betasteten. Kurz darauf weitete sich sein Körper, ich hörte ihn knistern, bis er meinen Gehörgang vollständig füllte. Ein Pochen war zu vernehmen, das mich müde werden ließ. Kaum hatte ich den zweiten Käfer in das andere meiner Ohren gesetzt, schlief ich ein. Zwölf Stunden lang schlief ich tief und fest, meine Stirn ruhte auf dem Schreibtisch. Als ich erwachte, hatten sich beide Käfer wieder in ihr Sandbett zurückgezogen. Es ist jetzt früher Morgen. — stop
nordseebild
himalaya : 0.58 — Eine Postkarte, die mich gestern erreichte, zeigt die Fotografie einer Insel. Die Aufnahme wurde aus großer Höhe, vermutlich aus einem Flugzeug, aufgenommen. Ein reetgedecktes Haus. Und Schafe. 12 dunkelhaarige und 21 hellhaarige Schafe. Auf einem Pfad, der zu einem Ladungssteg führt, ein Mann neben einem Fahrrad. Er blickt vielleicht auf das Meer. Weder die Farbe des Fahrrades noch das Alter des Mannes ist zu erkennen, der Mann könnte eine Frau sein. Auf der Rückseite der Postkarte wurde mit ungelenken Schriftzeichen eine Botschaft notiert: Liebe Aka, es ist hier sehr schön. Es ist 25 °C. Das Wasser ist 15 °C. Wir waren natürlich drin. Euer J. – Eine Anschrift fehlte. — stop
valletta : west street
nordpol : 2.54 — Gestern Abend erreichte mich eine E‑Mail von Georges. Er schreibt: Mein lieber Louis, wie ich durch die Stadt Valletta schlenderte, bemerkte ich in der West Street nahe St. Lucia eine kleine Werkstatt. Sie war düster, aber gerade noch hell genug, dass ich ein Mädchen erkennen konnte, das an einem Tisch saß, sie schien Hausaufgaben zu machen. Ich richtete meine Kamera auf das Mädchen, um es zu fotografieren, da hob sie den Kopf und sah mich an, mit einem freundlichen Blick. Ich fragte, ob ich eintreten dürfe. Es war ein wirklich düsterer Ort, das Licht der Straße erreichte gerade noch den Tisch, auf dem das Schulheft des Mädchens lag, und es war kühl, und es ging ein leichter Wind. In der Tiefe des Raumes erkannte ich einen weiteren Tisch, der von einer Glühbirne beleuchtet wurde, die ohne Schirm von der Decke baumelte. Hinter dem Tisch hockte ein dunkelhäutiger, alter Mann mit weißem Haar. Ich grüßte auch in seine Richtung. Als ich mich gerade herumdrehen wollte, um auf die Straße zurückzukehren, schaltete der Mann einen gläsernen Leuchtglobus an. Ein schönes blaues und gelbes Licht von Meeren und Wüsten strahlte in den Raum, vor dessen Wänden Regale bis zur Decke ragten. Dort warteten weitere Erdkugeln, es waren einige Hundert bestimmt. Ich bemerkte, dass der Mann auf dem Tisch Gläschen mit Farbe zu einer Reihe abgestellt hatte, er selbst hielt einen feinen Pinsel und ein Messer mit einer winzigen Klinge in der Hand. Außerdem ruhte der Globus vor dem Mann auf dem Kopf, vielleicht deshalb, weil er einmal aus seiner Fassung genommen und augenscheinlich herumgedreht worden war, der Südpol befand sich im Norden, der Nordpol im Süden der leuchtenden Kugel, an welcher der Mann mit seinen Werkzeugen arbeitete. Es war eine Arbeit für ruhige Hände. In dem Moment, als ich näher gekommen war, nahmen sie gerade die Entfernung des Schriftzuges Cape Town vor, der selbst auf dem Kopf stehend in das Blau des Meeres jenseits des afrikanischen Kontinentes reichte. Aus nächster Nähe nun beobachtete ich, wie der alte Mann die Spuren, die die Radierung des Schriftzuges erzeugt hatte, mit blauer Farbe füllte. Immer wieder prüfte er indessen den Ton der Pigmente, in dem er eine Lupe in sein linkes Auge klemmte. Er schien weitgehende Erfahrung in dieser Arbeit gesammelt zu haben, seine Hände bewegten sich schnell, es roch nach Terpentin, und der Mann hauchte gegen das Meer, wohl um seine Trocknung zu beschleunigen. Dann begann er zu schreiben, er schrieb Cape Town, er schrieb die Wörter so, dass sie richtig herum vor unseren Augen erschienen. Ich erinnere mich an ein Motorrad, das auf der Straße vorbei knatterte. Das Mädchen hatte seine Schulhefte geschlossen und war ins Licht der Sonne getreten. Plötzlich war es verwunden. — stop
manhattanstunde
ulysses : 1.58 — Ich stelle mir eine handliche Box vor, nicht größer als eine Streichholzschachtel. Wenn ich diese Box öffnete, würde 1 Stunde der Stadt New York in ihr festgehalten sein, jeder Mensch und jeder seiner Atemzüge, Gedanken, Gespräche und Wünsche. Auch alle großen und kleinen Häuser, Straßen, Züge wären versammelt, das Licht und seine Schatten, Vögel und Wolken, das Wasser der Flüsse, das Meer, das Lachen der Kinder, und jede der Beckettgestalten, die mir begegnen, wohin ich auch geh. Könnte zufrieden bald in einem Park sitzen und warten, 1 Stundenzeit in der Hosentasche. Auf dem Tisch eine Traube, mein Blick ruht sich aus. Dann wieder gehen, Stunde um Stunde gehen und schlafen, schauen und zugleich nicht schauen, kurze Blicke, Sekundenbilder, Augen geschlossen, Blicke durchs transparente Lid abends auf der großen alten Brücke mit der blätternden rostigen Haut, das Vibrieren der Schritte, der Stimmen auf hölzernen Stegen von Insel zu Insel. — stop
von ohren
nordpol : 2.08 — Montag. Friedvolle Nacht, sofern ich meine Fenster schließe, meine Telefone, den Fernsehapparat, das Radio und meinen Router ausschalte, und mich mit nichts als mit Buchstaben beschäftige. Ich entdeckte bei den Gebrüdern Grimm 320 Wörter in der Umgebung des Wortes Ohr. Würde ich dieses Wort und seine zentrale Bedeutung nicht kennen, würde ich vermuten, dass es sich um ein bedeutendes Wort, eine bedeutende Eigenschaft oder einen bedeutenden Gegenstand handeln könnte. Schöne Wortlebewesen darunter, welche tatsächlich existieren. Eines aber habe ich höchstpersönlich erfunden. Auch dieses Wort existiert fortan als ein Wort unter den Öhrenwörtern: Ohrbacken Ohrberge Ohrbommel Ohrbrausen Ohrbusch Ohrenaffe Ohrenbläser Ohrengeflüster Ohrengel Ohrgewölbe Ohrengift Ohrenläpplein Ohrenperle Ohrenraupe Ohrensucht Ohrentaucher Ohrenteufel Ohrenzeuge Ohrenzirpe Ohrfasan Ohrfeige Ohrgäbelein Ohrgang Ohrgedächtnis Ohrgegend Ohrkruspel Ohrlillitaner Ohrküssen Ohrlippe Ohrlitze Ohrenlos Ohrmuschelstein Ohrpinsel Ohrrose Ohrschallen Ohrspritze Ohrsteinchen Ohrringen Uhrwerk — stop
Viktoria og Marit Ansethmoen
sierra : 6.50 — Ich beobachtete einen älteren Mann, der auf einer Fahrt von Manhattan nach Staten Island Schriftzeichen in die hölzerne Sitzbank einer Fähre gravierte. Ein kalter Wintertag, der Mann war sportlich gekleidet, rote Windjacke, Lapplandmütze, Wanderschuhe, dazu Fäustlinge, die seine kräftigen Hände schützten. Er war überhaupt von mächtiger Statur gewesen. Ich hatte die Vorstellung, dass es sich um einen Norweger oder Finnen gehandelt haben könnte. Als der Mann das Schiff betrat, folgte ich ihm, setzte mich in seiner Nähe nieder. Leichter Seegang, die Scheiben des unteren Decks waren von der Salzgischt geblendet, draußen bedeckte eine Eiskruste die Promenade der Fähre. Während der Überfahrt, da ich den alten Mann beobachtete, spielten ein paar schwarzhäutige Jungs wunderbar scheppernden Blues auf Metallgitarren. Eine Handvoll Schulkinder tollten herum. Das Horn des Schiffes grüßte in die Luft der Upper New York Bay wie immer. Da begann der alte Mann vor meinen Augen mit einem Klappmesser seine Arbeit. Er verfügte über eine schöne Schrift. Während er arbeitete, schien er keinen Blick für seine Umgebung zu haben, er machte das so wie einer, der meint, er sei nicht sichtbar, solange er fest an seine Unsichtbarkeit glaubt. Eine gute Viertelstunde schnitzte er vor sich hin. Dann packte er sein Messer in seinen Rucksack und verließ das Schiff mit allen anderen Passagieren. Kaum waren wir an Land, stellte ich mich in die Warteschlange Richtung Manhattan, um sofort wieder zurück auf dasselbe Schiff zu gelangen, mit dem ich zur Insel hin gefahren war. Nur wenige Minuten später nahm ich genau an der Stelle Platz, an der der Mann gearbeitet hatte. Auf dem Boden des Schiffes lag ein Häufchen dunkler Späne, in den Sitz eingraviert ein Name: Viktoria og Marit Ansethmoen. Dem Namen folgte eine Ziffer: No 7563. Diese Ziffer, und den dazugehörigen Namen, entdeckte ich gestern in einem Notizbuch wieder, das ich damals geführt hatte während winterlicher Fahrten auf Staten Island Fähren. Noch immer weiß ich nicht, was diese Zahl bedeuten könnte, und warum der alte Mann den Namen einer Frau in die Sitzbank des Schiffes eingetragen hatte. Heute Nacht die Vorstellung, ich könnte meinen Text in die norwegische Sprache übersetzen lassen, um ihn der digitalen Sphäre zu übergeben: Alter Manhattanmann, melden Sie sich bitte. Code: Viktoria og Marit Ansethmoen / No 7563 — stop
auf ellis island
echo : 6.27 — An einem schwülwarmen Tag besuchte ich Ellis Island. Gewitter waren aufgezogen, der Himmel über Manhattan bleigrau. Trotzdem fuhren kleine weiße Schiffe von Battery Park aus los, um Besucher auf die frühere Quarantäneinsel zu transportieren. Ehe man an Bord gehen konnte, wurde jeder Passagier sorgfältig durchsucht, Taschen, Schuhe, Computer, Fotoapparate. Ein griechischer Herr von hohem Alter musste mehrfach durch die Strahlenschleuse treten, weil das Gerät Metall alarmierte. Er schwitzte, er machte den Eindruck, dass er sich vor sich selbst zu fürchten begann, auch seine Familie schien von der ernsten Prozedur derart beeindruckt gewesen zu sein, dass ihnen ihr geliebter Großvater unheimlich wurde. Die Überfahrt dauerte nur wenige Minuten. Es begann heftig zu regnen, das Wasser wurde grau wie der Himmel, Pusteln, Tausende, blinkten auf der Oberfläche des Meeres. Im Café des Einwandermuseums kämpften hunderte Menschen um frittierte Kartoffeln, gebratene Hühnervögel, Himbeereis, Sahne, Bonbons. Ihre Beute wurde in den Garten getragen. Dort Sonnenschirme, die der Wind, der vom Atlantik her wehte, davonzutragen drohte. Am Ufer eine herrenlose Drehorgel, die vor sich hin dudelte, Fahnen knallten in der Luft. Über den sandigen Boden vor dem Zentralhaus tanzten handtellergroße Wirbel von Luft, hier, genau an dieser Stelle, könnte Mary Mallon im Alter von 15 Jahren am 12. Juni 1895 sich ihre Füße vertreten haben, ehe sie mit Typhus im Blut nach Manhattan einreisen durfte. Ihr Schatten an diesem Tag in meinen Gedanken. Ein weiteres Gewitter ging über Insel und Schiffe nieder, in Sekunden leerte sich der Park. Dann kamen die Möwen, große Möwen, gelbe Augen, sie raubten von den Tischen, was sie mit sich nehmen konnten. Wie ein Sturm gefiederter Körper stürzten sie vom Himmel, es regnete Knochen, Servietten, Bestecke. Unter einem Tisch kauerte ein Mädchen, die Augen fest geschlossen. – stop
hummingbird
echo : 22.01 — Spätnachmittags höre ich zwei Männer im Treppenhaus. Sie arbeiten sich sehr langsam zu mir unter das Dach hinauf, fluchen, machen immer wieder Pausen. Ich erkenne eine kräftige Hand, die sich am Treppengeländer festhält. Nach einer halben Stunde sind sie angekommen, tragen gemeinsam ein Päckchen, das nicht größer ist, als ein Behälter für Kinderschuhe. Als ich meine Hände ausstrecke, wollen sie mir das Päckchen nicht übergeben, es sei zu schwer, sie treten in die Wohnung ein und stellen das Päckchen auf meinen Küchentisch. Tatsächlich ist ein knarrendes Geräusch zu vernehmen, als würde der Tisch Mitteilung machen. Das Päckchen ist so schwer, dass es sich mit dem Tisch zu verbinden scheint. Also beuge ich mich über den Tisch und schnüre das Päckchen auf. Briefmarken, Vogelgemälde, sind zu erkennen, handschriftlich wurde mit großen Buchstaben mein Name aufgetragen, kein Absender, aber ein Stempel der Marshallinseln. Ich erinnere mich, dass sich in dem Päckchen eine metallene Dose befand. In den Deckel der Dose eingestanzt, folgender Schriftzug: hummingbird T778X / puzzle 100000 pieces. Kleine, mit bloßem Auge kaum noch zu unterscheidende Teilchen, die wie eine Flüssigkeit wirkten, befanden sich in dem Transportbehälter. Ich holte einen Löffel und schöpfte einige Teilchen heraus, schüttete sie auf den Tisch und begann sie unter meinem Mikroskop zu drehen und zu wenden. Ich wusste in diesem Moment, ich träumte, dass ich nun sofort für immer verschwinden könnte. — stop