Aus der Wörtersammlung: kino

///

downtown manhattan : concerto No 5

2

nord­pol : 0.01 — Don­ners­tag, spä­ter Abend. Mrs. Lil­lue spielt Mozarts Vio­lin Con­cer­to No 5. Schwe­re Schnee­flo­cken schau­keln vom dunk­len Him­mel. Eisi­ge Käl­te da drau­ßen über der Upper Bay, in der War­te­hal­le Whi­te­hall Fer­ry Ter­mi­nal aber ist es warm und die Luft so tro­cken, dass Mrs. Lil­lue ihren Man­tel ablegt. Sie trägt jetzt ein dun­kel­grü­nes Kleid, das bis zum Boden reicht und feu­er­ro­te Turn­schu­he. Ein schwar­zer Jun­ge sitzt in ihrer Nähe auf sei­nem Bas­ket­ball und hört ihr zu mit erns­tem Gesicht. Kaum ein wei­te­rer Laut zu hören, obwohl hun­der­te Men­schen dar­auf war­ten, auf das nächs­te Schiff tre­ten zu dür­fen, das gleich anle­gen wird. In die­sem Moment nähert sich eine zier­li­che alte Frau der Künst­le­rin. Sie ist bei­na­he durch­sich­tig, so hell ihre Haut, so hell ihre Augen, und auch ihre Stim­me so hell, dass man sie kaum noch ver­neh­men kann. Sie will wis­sen, wie alt die  Gei­ge sei auf der Mrs. Lil­lue spielt? Wie sich die alte Frau soweit streckt bis sie auf den Spit­zen ihrer Zehen zu ste­hen kommt, um mit dem Rücken ihrer Hand über das Holz des Instru­ments zu strei­chen. — stop

ping

///

greenwich village : verschwinden

2

echo : 0.12 — New York ist ein aus­ge­zeich­ne­ter Ort, um unter­zu­tau­chen, zu ver­schwin­den, sagen wir, ohne auf­zu­hö­ren. Ich stell­te mir vor, wie ich in die­ser Stadt Jah­re spa­zie­ren wür­de und schau­en, mit der Sub­way fah­ren, auf Schif­fen, im Cen­tral Park lie­gen, in Cafés sit­zen, durch Brook­lyn wan­dern, ins Thea­ter gehn, ins Kino, Jazz hören, sein, anwe­send sein, gegen­wär­tig, ohne auf­zu­fal­len. Ich könn­te exis­tie­ren, ohne je ein Wort zu spre­chen, oder viel­leicht nur den ein oder ande­ren höf­li­chen Satz. Ich könn­te Nacht,- oder Tag­mensch sein, nie wür­de mich ein wei­te­rer Mensch für eine län­ge­re Zeit als für eine Sekun­de bemer­ken. Sehen und ver­ges­sen. Wenn ich also ein­mal ver­schwin­den woll­te, dann wür­de ich in New York ver­schwin­den, vor­sich­tig über Trep­pen stei­gen, jeden Rumor mei­den, den sen­si­blen New Yor­ker Blick erler­nen, eine klei­ne Woh­nung suchen in einer Gegend, die nicht all­zu anstren­gend ist. In Green­wich Vil­la­ge viel­leicht in einer höhe­ren Eta­ge soll­te sie lie­gen, damit es schön hell wer­den kann über  Schreib­tisch und Schreib­ma­schi­ne. Ich könn­te dann von Zeit zu Zeit ein Ton­band­ge­rät in mei­ne Hosen­ta­sche ste­cken und einen oder zwei mei­ner Tage ver­zeich­nen, nur so zur Vor­sicht, um nach­zu­hö­ren, ob ich nicht viel­leicht schon zu einer selbst­spre­chen­den Maschi­ne gewor­den bin. — stop
ping

///

raumstation

2

sier­ra: 11.50 — An die­sem Frei­tag­mor­gen, Nebel­schlei­er­wol­ken lun­gern über dem Tal der Salz­ach, konnt ich seit 47 Tagen erst­mals mit mei­ner rech­ten Hand wie­der mein rech­tes Ohr berüh­ren. stop. Ange­dockt. stop. Die Mel­dung gegen den Mit­tag zu, Neu­tri­nos auf unter­ir­di­schem Wege von Genf nach Rom sei­en schnel­ler geflo­gen als das Licht.

///

fasankino

2

tan­go : 0.02 — Ges­tern, Diens­tag, ist Ilse Aichin­ger 90 Jah­re alt gewor­den. Ich erin­ner­te mich an einen Text, den ich vor eini­ger Zeit bereits auf­ge­schrie­ben habe. Der Text scheint noch immer nah zu sein, wes­halb ich ihn an die­ser Stel­le wie­der­ho­len möch­te. Ich betrach­te­te damals, als ich den Text notier­te, eine Film­do­ku­men­ta­ti­on. Es war ein frü­her Mor­gen und ich fuhr in einem Zug. Immer wie­der spul­te ich, Zei­chen für Zei­chen ver­mer­kend, was ich hör­te, den Film zurück, um kein Wort des gespro­che­nen Tex­tes zu ver­lie­ren oder zu ver­dre­hen. Und so kam es, dass auch Ilse Aichin­ger, von einem unru­hi­gen Gelei­se geschüt­telt, immer wie­der auf dem hand­tel­ler­gro­ßen Bild­schirm unter spa­zie­ren­den Men­schen vor mir auf­tauch­te, indem sie von ihrer Kino­lei­den­schaft erzähl­te: Wenn ich mich recht erin­ne­re, hör­te ich in mei­ner frü­hen Kind­heit eine älte­re Frau zu einer ande­ren sagen: – Es soll jetzt Ton­fil­me geben. – Das war ein rät­sel­haf­ter Satz. Und es war einer von den ganz weni­gen rät­sel­haf­ten Sät­zen der Erwach­se­nen, die mich nicht los­lie­ßen. Eini­ge Jah­re spä­ter, ich ging schon zur Schu­le, sag­te die jüngs­te Schwes­ter mei­ner Mut­ter, wenn wir an den Sonn­ta­gen zu mei­ner Groß­mutter gin­gen, bei der sie leb­te, fast regel­mä­ßig am spä­ten Nach­mit­tag: > Ich glaub, ich geh jetzt ins Kino. < Sie war Pia­nis­tin, unter­rich­te­te für kur­ze Zeit an der Musik­aka­de­mie in Wien und übte lang und lei­den­schaft­lich, aber sie unter­brach alles, um in ihr Kino zu gehn. Ihr Kino war das Fasan­ki­no. Es war fast immer das Fasan­ki­no, in das sie ging. Sie kam frös­telnd nach Hau­se und erklär­te meis­tens, es hät­te gezo­gen und man kön­ne sich den Tod holen. Aber sie ließ ihr Fasan­ki­no nicht, und sie hol­te sich dort nicht den Tod. Den hol­te sie sich, und der hol­te sie gemein­sam mit mei­ner Groß­mutter im Ver­nich­tungs­la­ger Minsk, in das sie depor­tiert wur­den. Es wäre bes­ser gewe­sen, sie hät­te ihn sich im Fasan­ki­no geholt, denn sie lieb­te es. Aber man hat kei­ne Wahl, was ich nicht nur bezüg­lich des Todes, son­dern auch bezüg­lich der Aus­wahl der Fil­me zuwei­len bedaue­re, wenn mei­ne liebs­ten Fil­me plötz­lich aus den Kino­pro­gram­men ver­schwin­den. Obwohl ich es ger­ne wäre, bin ich lei­der kei­ne Cine­as­tin, son­dern gehe sechs oder sie­ben­mal in den­sel­ben Film, wenn in die­sem Film Schnee fällt oder wenn die Land­schaf­ten von Eng­land oder Neu­eng­land auf­tau­chen oder die von Frank­reich, denen ich fast eben­so zuge­neigt bin. Ilse Aichin­ger : Mitschrift

///

time

pic

fox­trott : 0.28 — Merk­wür­dig, die Wahr­neh­mung der Zeit. Wenn ich kei­ne Zeit habe, kann ich die ver­ge­hen­de Zeit nicht bemer­ken, weil ich mich so schnell bewe­gen muss von einem Ort zum ande­ren, von Gespräch zu Gespräch, von Auf­ga­be zu Auf­ga­be, dass ich etwas spä­ter viel­leicht mei­nen möch­te, ich hät­te nicht exis­tiert. Auch dann, wenn ich traue­re, habe ich kei­ne Zeit, sagen wir, kei­ne wirk­li­che Zeit, weil ich aus mei­nem übli­chen Leben her­aus gefal­len bin. Ich ste­he zum Bei­spiel in einer U‑Bahn und unter­hal­te mich, ich lache, ich stel­le Fra­gen, und doch bin ich an einem ganz ande­ren Ort, spre­che mit der Ver­gan­gen­heit, viel­leicht mit einem Men­schen, von dem ich weiß, dass ich ihn nie wie­der berüh­ren wer­de, von dem ich hof­fe, dass er noch irgend­et­was zu hören ver­mag, indem ich mich zu ihm spre­chend an ihn erin­ne­re. Ich ver­wei­le also in die­ser selt­sa­men Zeit der Ver­gan­gen­heit, einer suchen­den Zeit, die des­halb zeit­los ist, weil sie sich wie­der­ho­len will, weil sie kei­nen Fort­gang kennt. Manch­mal sit­ze ich irgend­wo in einem Cafe, einer Biblio­thek, im Zug, im Kino oder einem Thea­ter her­um, ich schau auf die Uhr. Ich sage: Beweg Dich! 

ping

///

die alte margareta spricht vom sterben

2

nord­pol : 18.15 — Nach­mit­tag. Wol­ken tief. Regen heut aus nächs­ter Nähe auf mei­nen Schirm her­ab. Auch von der Sei­te her Trop­fen, die so leicht sind, dass sie mit mei­nem Atem zurück gegen den Him­mel flie­gen. Mit Schreib­ma­schi­ne sitz ich und beob­ach­te ein hand­li­ches Kino. Dort das Gesicht einer uralten Frau. Sie heißt Mar­ga­re­ta, die Mar­ga­re­ta aus Wien. Mar­ga­re­ta ist 91 Jahr alt. Von einem bösen Krebs schwer gezeich­net, spricht sie im Ster­be­hos­piz in einer hei­te­ren Wei­se Gedan­ken in die Kame­ra, die mich berühr­ten, als ich sie zum ers­ten Mal hör­te, so dass ich mir vor­ge­nom­men hat­te, jeden ihrer Sät­ze in einer eige­nen Text­spur fest­zu­hal­ten. Heu­te nun ist Margareta’s Tag. Immer wie­der hal­te ich den Film an und notie­re Wort für Wort was Mar­ga­re­ta zum Ster­ben sagt: Ich glaub’s nicht gar so. Ich glaub’s nicht, dass man in den Him­mel kommt. Weil, mit was soll man denn? Ja, mit der See­le, nicht! Die See­le kommt in den Him­mel. Ja, aber wer ist denn die See­le? Das weiß man dann auch nicht. Ich sag das nur, weil Sie mich gefragt haben. Weiß ich nicht, wie das dann geht! Ich hab eine Cou­si­ne gehabt, die war sehr christ­lich. Wenn die nur ein­mal nicht in die Kir­che gegan­gen war, aber sie hat mir gesagt damals, sie war ein 18er Jahr­gang, ich bin ein 14er, mein Bru­der war ein 17er, und sie hat gesagt: Das glaub ich nicht, dass es nach dem Tod noch was gibt. Sie meint halt, dass wenn man stirbt, dass es dann aus ist. Ich weiß es auch nicht. Aber ich schla­fe jetzt auf die Nacht ein, und in der Früh werd ich mun­ter, das hab ich jetzt drei Mal schon gemacht, da den­ke und da träu­me ich gar nichts, so rich­tig nichts. Dann denk ich mir, siehst du, so wär das Ster­ben. Aber es ist halt so. Nein, so rich­tig weiß ich es nicht. Aber ich bin ja schon knapp davor. Mit 91 sind Sie knapp vor dem Ster­ben. Müs­sen Sie ja sein. — Mar­ga­re­ta hebt einen klei­nen Löf­fel vom Tisch. - Mein Gott, gar nichts essen möch­te ich am Liebsten.
ping

///

vögel

pic

echo : 6.05 — Eine Frau, sehr alt, sitzt in einem ver­wüs­te­ten Zim­mer auf dem Boden. Ihr Gesicht ist ver­letzt, das lin­ke Auge erblin­det, eine tief­blaue, geschwol­le­ne Wun­de. Dann ist eine Stra­ße zu sehen. Auto­mo­bi­le fah­ren im Schritt­tem­po schwer bepackt nach Nor­den oder Süden. Ein Hub­schrau­ber der rus­si­schen Armee jagt über die­se Stra­ße hin, als wür­de ein Kino­film gedreht. Ich schal­te das Fern­seh­ge­rät aus, schlie­ße die Woh­nungs­tür und tre­te vor das Haus. Vögel pfei­fen, immer pfei­fen im Som­mer Vögel, wenn ich auf die Stra­ße tre­te, auch ges­tern, als woll­ten sie mir etwas sagen. Viel­leicht woll­ten sie sagen, dreh dich um, setz Dich an Dei­ne Schreib­ma­schi­ne, denk nach, ver­su­che her­aus­zu­fin­den im Sucher Dei­nes Sea­m­on­key­brow­sers was dort geschieht vor den kau­ka­si­schen Ber­gen. Ges­tern, nach­mit­tags, habe ich mich also doch auf den Weg gemacht, um in einem Waren­haus ein wei­ßes Hemd zu kau­fen. Zwei Stun­den spä­ter saß ich im Café vor einer Tas­se Scho­ko­la­de und notier­te war­um ich wegen aus­ge­dehn­ter Beob­ach­tungs­tä­tig­keit schei­ter­te in dem Ver­such ein wei­ßes Her­ren­hemd zu kau­fen. — stop

ping

///

tabucchi

2

3.18 — Neh­men wir ein­mal an, es wür­de ein Zeit­raum jen­seits des uns bekann­ten Lebens­zeit­rau­mes exis­tie­ren, ein Zeit­ort, an dem wir unbe­grenzt anwe­send sein dürf­ten, ein Ort wei­ter­hin, von dem aus wir in unse­re ver­gan­ge­nen Leben schau­en und zurück füh­len könn­ten, in dem wir die Fil­me geleb­ter Tage betrach­te­ten, neh­men wir also an, die­ses Kino exis­tier­te, dann soll­te ich mich bemü­hen, Gedan­ken wie Erleb­nis­se zu ver­zeich­nen, sodass sie spä­ter gleich­wohl als Fil­me zu besich­ti­gen wären. — stop

ping

///

cinema

pic

12.52 — Neh­men wir ein­mal an, jen­seits der uns bekann­ten Lebens­zeit­räu­me wür­de eine Zeit exis­tie­ren, ein Zeit­ort, an dem wir unbe­grenzt anwe­send sein könn­ten, eine Gegend wei­ter­hin, von der aus wir in ein ver­gan­ge­nes Leben zurück­schau­en und rei­sen könn­ten, indem wir Fil­me geleb­ter Tage betrach­te­ten. Neh­men wir also an, die­ses Kino wür­de exis­tier­ten, dann soll­te ich von die­ser Stun­de an, — nicht eine Minu­te soll­te ich ver­schwen­den -, Fil­me von star­kem Licht ver­zeich­nen, Gedan­ken wie Erleb­nis­se behan­deln, sodass sie spä­ter gleich­wohl als Fil­me zu besich­ti­gen wären. Ich set­ze mich also in eine U‑Bahn oder in einen Park oder vor mei­nen Schreib­tisch und mache je einen Film für spä­ter nur mit dem Kopf. — stop

ping

///

ilse aichinger

pic

5.38 — Es soll jetzt Ton­fil­me geben. — Das war ein rät­sel­haf­ter Satz. Und es war einer von den ganz weni­gen rät­sel­haf­ten Sät­zen der Erwach­se­nen, die mich nicht los­lie­ßen. Eini­ge Jah­re spä­ter, ich ging schon zur Schu­le, sag­te die jüngs­te Schwes­ter mei­ner Mut­ter, wenn wir an den Sonn­ta­gen zu mei­ner Groß­mutter gin­gen, bei der sie leb­te, fast regel­mä­ßig am spä­ten Nach­mit­tag: > Ich glaub, ich geh jetzt ins Kino. < Sie war Pia­nis­tin, unter­rich­te­te für kur­ze Zeit an der Musik­aka­de­mie in Wien und übte lang und lei­den­schaft­lich, aber sie unter­brach alles, um in ihr Kino zu gehn. Ihr Kino war das Fasan­ki­no. Es war fast immer das Fasan­ki­no, in das sie ging. Sie kam frös­telnd nach Hau­se und erklär­te meis­tens, es hät­te gezo­gen und man kön­ne sich den Tod holen. Aber sie ließ ihr Fasan­ki­no nicht, und sie hol­te sich dort nicht den Tod. Den hol­te sie sich, und der hol­te sie gemein­sam mit mei­ner Groß­mutter im Ver­nich­tungs­la­ger Minsk, in das sie depor­tiert wur­den. Es wäre bes­ser gewe­sen, sie hät­te ihn sich im Fasan­ki­no geholt, denn sie lieb­te es. Aber man hat kei­ne Wahl, was ich nicht nur bezüg­lich des Todes, son­dern auch bezüg­lich der Aus­wahl der Fil­me zuwei­len bedaue­re, wenn mei­ne liebs­ten Fil­me plötz­lich aus den Kino­pro­gram­men ver­schwin­den. Obwohl ich es ger­ne wäre, bin ich lei­der kei­ne Cine­as­tin, son­dern gehe sechs oder sie­ben­mal in den­sel­ben Film, wenn in die­sem Film Schnee fällt oder wenn die Land­schaf­ten von Eng­land oder Neu­eng­land auf­tau­chen oder die von Frank­reich, denen ich fast eben­so zuge­neigt bin. Ilse Aichin­ger : Mitschrift

ping