nordpol : 15.15 UTC — Merkwürdig: Im Notieren kommen Gedanken und Fragen wie Vogelschwärme heran, zunächst kommt ein Gedanke allein und setzt sich und wartet und schaut mich an. Dann kommt der nächste Gedanke, der schon zu Zweit ist. — In der vergangenen Nacht träumte ich von mir selbst. Ich saß in einem Rollstuhl mit vielen weiteren alten Menschen in einem Saal groß wie der Wartesaal eines Metropolenbahnhofes. Immerzu wollte ich telefonieren, ein klingelndes Telefon war zwar sichtbar, aber nicht erreichbar. Ich hörte meine Stimme. Sie rief: Nun rufen Sie doch endlich Monsieur Proust an, haben Sie denn seine Nummer nicht! Eine junge, betörend schöne Frau beugte sich zu mir hinunter. Sie sagte: Louis, bitte, es ist jetzt wirklich genug, wir haben den Vormittag über versucht Herrn Proust zu erreichen, er nimmt den Hörer nicht ab. Aber der Balzac ruft andauernd an, wollen sie nicht endlich dran gehen! — Heut Regen, nasse Vögel überall. — stop
Aus der Wörtersammlung: klingel
raymond carver goes to hasbrouck heights / 3
sierra : 5.12 UTC — Es ist Samstag und ich habe gerade eine Meldung gelesen, die mir ein Programm meines Particles-Servers sendete, es habe nämlich irgendein Mensch, der nahe oder in Washington D.C. leben soll, einen Text besucht, der von Raymond Carver erzählt. Ich las meinen Text nach längerer Zeit wieder einmal mit älter gewordenen Augen. Und ich dachte mir, dass ich im Grunde nicht sicher sein könne, ob ein menschliches Wesen meinen Text in der Weite des World Wide Web entdeckte, oder ob eine Maschine mein Particles besuchte, die einer Spur von Schlüsselwörtern folgte. Der Text, der am 12. Dezember 2014 notiert wurde, geht so: Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich mich gestern, während ich einen Bericht über Untersuchungen der CIA-Folterpraktiken durch Ermittler des US-Senats studierte, an eine kleine Stadt erinnerte, die ich vor wenigen Jahren einmal von Manhattan aus besuchte. Ich las von Schlafentzug, von Waterboarding, von sehr kleinen, dunklen Kisten, in welche man Menschen tagelang sperrte, von Lärm, von russischem Roulette und plötzlich also erinnerte ich mich an Oleanderbäume, die ich gesehen hatte in Hasbrouck Heights an einem sonnigen Tag im Mai, an ihren Duft, an einen glücklichen Abend am Strand von Coney Island, an ein Jazzkonzert nahe der Strandpromenade. Ich notierte damals: Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincolntunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
von wörtern von ohren
sierra : 18.28 — Es donnert, heult, brüllt, zischt, pfeift, braust, saust, summet, brummet, rumpelt, quäkt, ächzt, singt, rappelt, prasselt, knallt, rasselt, knistert, klappert, knurret, poltert, winselt, wimmert, rauscht, murmelt, kracht, gluckset, röcheln, klingelt, bläset, schnarcht, klatscht, lispeln, keuchen, es kocht, schreien, weinen, schluchzen, krächzen, stottern, lallen, girren, hauchen, klirren, blöken, wiehern, schnarren, scharren, sprudeln. Diese Wörter und noch andere, welche Töne ausdrücken, sind nicht bloße Zeichen, sondern eine Art von Bilderschrift für das Ohr. — G.C.Lichtenberg / stop
apfel
echo : 0.10 UTC — Ich hatte an einem Abend der vergangenen Woche mein Fernsehgerät ausgeschaltet, war in die Küche getreten, um Schnecke Esmeralda zu beobachten, wie sie einen Apfel zunächst umrundete, sich dann aufrichtete samt ihres Gehäuses und auf den Apfel kletterte. Eine Bewegung, die geradezu waghalsig anmutete. Es regnete. Ich wurde schläfrig. Um kurz vor Mitternacht klingelte das Telefon. Jemand war in der Leitung, sprach aber nicht, atmete nur. Ich hörte eine Weile zu, und ich dachte, dass Atem eine schöne Sprache ist, aber auch etwas unheimlich. Also kehrte ich zu Esmeralda zurück, die nun auf dem Apfel hockte als wäre der Apfel ein Stuhl oder ein Sofa. Wie so häufig nachts, las ich Esmeralda einen verschlüsselten Nachrichtentext vor. Ich habe nämlich bemerkt, dass Esmeralda sehr aufmerksam wird, sobald ich ihr kryptische Texte vortrage, erstaunlich, da Schnecken doch gehörlos sein sollen. In diesem Fall, es war nicht leicht gewesen, las ich T.C.Boyle: Nfjof muvoh jtu tfis foutdijfefo- bcfs xbt oýu{u ft@ Jdi cjo gýs Gsbvfosfdiuf/ Jdi cjo gýs Vnxfmutdivu{/ Jdi cjo gýs Nvmujlvmuvsbmjtnvt/ Jdi cjo gýs Cjmevoh/ Ejf wjfmfo Nfotdifo bvt efs Bscfjufslmbttf- ejf jdi lfoof- tjoe qpmjujtdi sbejlbm boefsfs Botjdiu bmt jdi/ Ejf VTB tjoe fjo hftqbmufoft Mboe/ Jdi lpnnf tfmctu bvt efs Bscfjufslmbttf- voe jdi mfcf fjofo hspàfo Ufjm nfjofs [fju jo efo lbmjgpsojtdifo Cfshfo- xp wjfmf tphfoboouf Sfeofdlt mfcfo/ Jdi mjfcf ejftf Nfotdifo- wjfmf wpo jiofo tjoe joufmmjhfou voe fjogýimtbn/ Bcfs jo qpmjujtdifo Gsbhfo ibcfo tjf tjdi usbvsjhfsxfjtf hbo{ voe hbs nbojqvmjfsfo mbttfo/ Ebcfj xfsefo hfsbef tjf ejf Pqgfs wpo Usvnqt Qpmjujl tfjo voe bn nfjtufo voufs jis {v mfjefo ibcfo/ Xfoo qsjwjmfhjfsuf Bnfsjlbofs xjf jdi ovs hfnåà jisfo xjsutdibgumjdifo Joufsfttfo hfxåimu iåuufo- eboo iåuufo xjs Usvnq hfxåimu- xfjm fs ejf Tufvfso tfolfo xjmm voe ebgýs tpshu- ebtt xjs votfs Hfme cfibmufo/ Bcfs jdi xåimf efo Lboejebufo- efttfo Ibmuvoh jdi gýs sjdiujh ibmuf- voe ojdiu efo- efs njs Qspgju csjohu/ Jdi cjo Qbusjpu/ — stop
ABOUT ESMERLADA / ENDE
eine telefongeschichte
himalaya : 17.50 UTC — Gestern klingelte mein Telefon, nein, wirklich, mein Telefon meldete nicht nur einen Anruf, es klingelte tatsächlich, weil ich einen Signalton eingestellt hatte, der einem Klingelton der Telefone meiner Kindheit sehr ähnlich ist. Mein Telefon vermag gleichwohl zu zwitschern oder zu summen oder zu trompeten wie Elefanten sprechen, aber wenn mein Telefon klingelt in der Weise meiner Kindheit, mag ich das am liebsten, oder wenn es Benny Goodman spielt, aber dann gehe ich nicht dran, dann hebe ich nicht ab, dann höre ich zu und tanze ein wenig in der Wohnung herum bis die Vögel an mein Fenster klopfen: Louis komm, die Arbeit wartet! — Gestern also klingelte mein Telefon. B. mein Patenkind, war in der Leitung, und ich freute mich sehr, weil ich ein halbes Jahr nichts von ihr gehört hatte. Kannst du dich erinnern an unsere Affengeschichte? Oh, ja sagte B., da hab ich mich gefürchtet, da war ich noch klein. Es ist interessant, fuhr sie fort, ich fürchte mich vor der Geschichte noch immer, obwohl ich schon erwachsen geworden bin. B. erzählte noch ein wenig von Berlin und von New York, und als sie aufgelegt hatte, suchte ich nach einer Notiz der Affengeschichte, die schon so lange Zeit in der Vergangenheit liegt, dass B. bald selbst einmal von Affen erzählen wird. Die Geschichte geht so: Einmal, frühmorgens, kam ein schläfriges Mädchen zu mir in die Küche, setzte sich auf meine Knie und sagte: Du, Louis, ich muss Dir was erzählen. Ein Mann lebt in Amerika. Er lässt sich seinen Kopf abnehmen und auf einen Affen verpflanzen. – Warum, fragte ich, will der Mann das tun? – Bei dem Mann lebt nur noch der Kopf, antwortete das Mädchen und gähnte. – Warum nur noch der Kopf, fragte ich. – Er ist gelähmt. – Und der Affe? – Der Affe nicht. – Was geschieht mit dem Kopf des Affen? – Weiß nicht, sagte das Mädchen, und stürmte davon. — stop
unterwegs in den wolken
kilimandscharo : 5.28 — Das ist schon seltsam, wie die alte Dame zum ersten Mal in ihrem Leben vorsichtig hinter einem Leichtgewichtrollator spaziert. Sie trägt Lederhandschuhe, vermutlich weil sie zur Maschine, die helfen soll, ihren Gang zu stabilisieren, einen gewissen stofflichen Abstand einzuhalten wünscht. Sie scheint sich zu fürchten, ernst schaut sie gegen den Boden. Möglicherweise fürchtet sie, mit den Rädchen und Gestängen aus Carbon in ihrer nächsten Nähe verwachsen zu müssen. Gern würde sie weiterhin auf ihren eigenen Beinen allein, die sie schon so lange Zeit kennt, Schritt für Schritt Wege bestreiten, die ihr vertraut sind, das Laub der Buchen, der Kastanien auf der Straße, wie schön, ein Teppich, Schnecken da und dort, die sich herbstlich langsam fortbewegen scheinbar ohne Ziel. Es ist feucht an diesem Morgen, Wolken berühren den Boden, auf den die alte Dame wenige Tage zuvor noch stürzte, einfach so stürzte, ohne einen Grund und ohne wieder aufstehen zu können, unerhört, so ein Schlamassel. Hundert Meter weit ist sie schon gelaufen, da entdeckt sie eine Klingel an ihrem Gefährt, das so leicht ist, dass sie es mit einer Hand anheben und für eine Weile in der Luft festhalten kann. Ja, Kraft in den Armen, aber die Beine sind unsicher geworden, vielleicht deshalb, weil sie hinter dieser Maschine herlaufen müssen. Für einen Moment bleibt die alte Dame stehen. Es wird ganz still in diesem Augenblick. Sie beugt sich zur Klingel herab, und schon ist ein helles Geräusch zu hören, ein angenehmes Geräusch, zweifach ist es zu hören. — stop
papiere
marimba : 5.02 — Auf einer Briefmarke sind deutlich Menschen zu erkennen, die im Wasser schweben. Sie bewegen sich langsam, grüßen oder alarmieren mit winkenden Bewegungen ihrer Arme und Hände, drei Gestalten, drei Personen. Der Brief, auf dem das merkwürdige Postwertzeichen vor längerer Zeit augenscheinlich mit Speichel befestigt worden war, ruht auf meinem Küchentisch. Dort herrscht Unordnung, weil ich für Unordnung sorgte. Am Freitag habe ich mit der Unordnung angefangen, indem ich meine alte mechanische Schreibmaschine zerlegte. Zunächst entfernte ich das Gehäuse der Schreibmaschine, dann die Tastatur, kurz darauf die Papierwalze der Schreibmaschine, sowie eine Klingel, deren Geräusch ich mit der Methode des Schreibens zu früheren Zeiten verbinde. Sie war gedacht, wenn ich mich recht erinnere, den schreibenden Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass das Ende der Zeile, an der er gerade arbeitete, bald erreicht sein wird, auch damals ging man schon davon aus, dass Menschen existieren, die während des Schreibens insbesondere ihre Hände betrachten, Finger, wie sie über die Tastatur hüpfen, so dass sie das Papier, das sie beschreiben, überhaupt nicht wahrnehmen, weshalb sie versäumen könnten, den Papierwalzenschlitten der Schreibmaschine zurückzusetzen, um einen weitere Zeile zu beginnen. Während ich die Maschine zerlegte, bemerkte ich, dass jedes ihrer Einzelteile in weitere Einzelteile zerlegt werden konnte. Bald arbeitete ich mit einer Lupe, bald waren Schrauben, Streben, metallene Häute von einer Kleinheit, dass ich fürchtete, ich könnte sie versehentlich atmend zu mir nehmen. Ich arbeitete Stunde um Stunde voran, ohne daran zu denken, einen Plan zu fertigen, der mich in die Lage versetzen würde, die zerlegte Schreibmaschine wieder zu einer vollständigen funktionierenden Einheit zu fügen. In dieser Zeit der Auflösung, lag der Brief winkender Briefmarkenmenschen in nächster Nähe. Eine wundervolle blaue Briefmarke, auf einem Brief, den ich zur Zeit noch immer nicht geöffnet habe, ich nehme an, weil ich noch ein wenig weiter schlafen will. — stop
gelb
nordpol : 0.12 — Wie gut, dass digitale Suchmaschinen existieren, die in der Lage sind, diesen Ort : particles : zu durchsuchen, sobald ich eine Frage an ihn richte, zum Beispiel, wie oft ich das Wort Blau verwendet habe in den vergangenen Jahren ( : 53 Mal ), oder das Wort Rot ( : 35 Mal ), das Wort Orange ( : 10 Mal, eher selten ), auch mit dem Wort Gelb war ich sparsam gewesen ( : 18 Mal ). Als ich das Wort Gelb, die Häufigkeit seines Vorkommens prüfte, erinnerte ich mich an einen wunderbaren Text, Uwe Johnsons Brief aus New York, in dem das Wort Gelb eine hervorragende Rolle spielt. Der Text beginnt so: Über was hier anders ist / in New York im Staat New York / weißt du es ist eine von jenen Städten in die die westberliner Zeitungsverleger kleine Klingeln aus Porzellan schicken an Familien denen ein Angehöriger umgebracht wurde bei dem Versuch Angehörige anderer Familien umzubringen / in Vietnam das ist noch hinter der Türkei / ein Brief über was hier anders ist über einen Unterschied / Ende der Überschrift // Gelb, zum Beispiel / Gelb ist hier anderswo / ich meine die ganze Farbenfamilie / was noch gelb ist oder so nahe an Gelb wie Ocker oder Kanarienvogel oder überhaupt alles im Bereich zwischen Rot und Grün / nicht nur any of the colors normally seen when the portion of the physical spectrum of wave lengths 571,5 to 578,5 millimicrons employed as a stimulus wie Webster sagt / sondern auch was mal gelb war / Gelb ist hier anderswo / nicht nur im Ei in den Mongolen in der Gelbsucht in Schwämmen Schmetterlingen Butterblumen / nie so viel Gelb gesehen wie hier … / — stop. Ich habe diesen Text in dem Buch Eine Literarische Landkarte entdeckt, das von Hans Magnus Enzensberger im Jahr 1999 herausgegeben wurde. Gleich werd ich mich an meinen Schreibtisch setzen und mit Bleistift ausgerüstet, das Wort Gelb zu zählen beginnen. — stop
paris : 5 minuten
sierra : 3.15 – Der junge Mann will wissen, ob ich vielleicht gerade Nachrichten lese, die von der Stadt Paris erzählen. Sein Gesichtsausdruck, indem er auf mein Mobiltelefon deutet, ist ernst. Ich wohne in Paris, sagt er, ich bin dort aufgewachsen, ich studiere in Deutschland, ich habe versucht meinen Großvater zu erreichen, aber er meldet sich nicht, ich komme nicht durch, ich bin so aufgeregt, auch meine Freundin ist verschwunden. Wir stehen am Bahnhof, warten auf einen Zug, der in Richtung des Flughafens fährt. Es ist kurz nach Mitternacht. Auf dem Mobiltelefon des jungen Mannes wird von achtzehn Todesopfern berichtet, auf meinem sind bereits über vierzig Menschen gestorben. Der junge Mann läuft immer wieder einmal einige Meter den Bahnsteig entlang, schaut auf sein Telefon, hält es an sein Ohr, kommt wieder zu mir zurück, fragt, ob ich etwas Neues in Erfahrung bringen konnte. Ich sage: Ich glaube, für Frankreich wurde gerade der Ausnahmezustand erklärt. Oh Gott, antwortet der junge Mann, was ist nur geschehen! Er steht ganz still vor mir, schaut mich an. Wir kennen uns eigentlich nicht sehr gut. Fünf oder sechs Minuten Zeit sind vergangen, seit der junge Mann fragte, ob ich Nachrichten lese, die von der Stadt Paris erzählen. Plötzlich klingelt sein Telefon. – stop
raymond carver goes to hasbrouck heights / 2
zoulou : 3.55 — Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich mich gestern, während ich einen Bericht über Untersuchungen der CIA-Folterpraktiken durch Ermittler des US-Senats studierte, an eine kleine Stadt erinnerte, die ich vor wenigen Jahren einmal von Manhattan aus besuchte. Ich las von Schlafentzug, von Waterboarding, von sehr kleinen, dunklen Kisten, in welche man Menschen tagelang sperrte, von Lärm, von russischem Roulette und plötzlich also erinnerte ich mich an Oleanderbäume, die ich gesehen hatte in Hasbrouck Heights an einem sonnigen Tag im Mai, an ihren Duft, an einen glücklichen Abend am Strand von Coney Island, an ein Jazzkonzert nahe der Strandpromenade. Ich notierte damals: Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincolntunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop