Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 1546, Luftfahrt — 2101, Automobile — 62742 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 6, 19. Jahrhundert – 23, 20. Jahrhundert – 1055 , 21. Jahrhundert — 732 ], physical memories [ bespielt — 387, gelöscht : 5 ], Lichtfangmaschine [ Linhof Technika II : 1 ], Öle [ 0.2 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 23, Kniegelenke – 8, Hüftkugeln – 431, Brillen – 1186 ], Schuhe [ Größen 28 – 39 : 354, Größen 38 — 45 : 1258 ], Kühlschränke [ 77 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 3, mit Taucher – 88 ], Engelszungen [ 124 ] — stop
Aus der Wörtersammlung: licht
fingerknospen
india : 6.32 — Meine Schreibmaschine ist ein merkwürdiges Ding. Sie ist flach und sie verfügt über einen Bildschirm und außerdem über einen lichtempfindlichen Sensor, der ins Innere meiner Schreibmaschine zu melden scheint, ob Tag ist oder Nacht, ob Helle oder Dunkel. Ich habe soeben eine Viertelstunde nach der Position dieses Sensors gesucht, zunächst mittels meiner Augen selbst, etwas später mit einer Lupe, je ohne eine beweiskräftige Spur aufnehmen zu können. Es ist Samstag. Ich mag das Wort Samstag gut leiden. Gerade fällt mir ein, dass ich bald ein weiteres Jahr gelebt haben werde, ohne einen Finger verloren oder um einen Finger zugenommen zu haben. Oft, so auch heute, habe ich mich gefragt, wie sich ein nachwachsender Finger zunächst bemerkbar machen würde? Würde sich neben einem bereits existierenden Finger eine Fingerknospe bilden, die nach und nach sich zu einem vollständigen Fingerglied erheben würde? Oder würde sich vielleicht einer meiner älteren Finger in seiner Mitte teilen? Das sind sehr interessante Fragen, die vielleicht ein wenig unheimlich zu sein scheinen. Vor wenigen Stunden, das geht mir nicht aus dem Kopf, habe ich am Flughafen mit einem jungen Mann gesprochen, der in einem Waschraum stand und eine sehr traurige Geschichte erzählte. Manchmal musste er weinen. Seine Augen röteten sich und er beugte sich rasch über das Waschbecken und begann sein Gesicht mit Wasser zu benetzen. Dann richtete er sich auf, erzählte weiter und weinte erneut, um sich wiederum über das Waschbecken zu beugen bis er so nass geworden war, dass er stehenblieb und erzählte und weinte zur gleichen Zeit, ohne sich noch verbergen zu wollen. — stop
atem
tango : 6.52 — In der vergangenen Nacht von 2 bis 3 Uhr habe ich mir eine Passage der Kleinen Erinnerungen José Saramago’s laut vorgelesen, und zwar in der Art und Weise langsamen Ausatmens. Das ist folgendermaßen vorzustellen: Ich fasste das erste Wort der ersten Zeile des kleinen Textes ins Auge, schöpfte Luft so tief ich konnte und begann zu lesen. Ich sprach zunächst laut: Manchmal frage ich mich, ob bestimmte Erinnerungen wirklich meine eigenen sind oder vielleicht eher fremde, in denen ich unbewusst mitgespielt habe. Ich las so lange ich konnte, ich las, ohne zu atmen, ich las, bis ich alle Luft verloren hatte. Im ersten Versuch kam ich 11 Zeilen weit. Das war natürlich nicht befriedigend. Also setzte ich noch einmal von vorn an, ich hatte eine entspannte Position des Sitzens eingenommen und füllte meine Brust mit Luft und begann zu sprechen. Dieses Mal las ich mit leiser Stimme, wie geflüstert. Ich kam exakt 1 Zeile, also 55 Zeichen weiter. Kurz darauf war zu beobachten gewesen, wie ich mich rücklings auf mein Sofa legte und denselben Text noch einmal hauchte. Das liegende atemlose Lesen ermöglichte nun eine weitere Zeile à 55 Zeichen. Ich machte also kleine Fortschritte in dieser Kunst des Lesens, ich vermochte bald die Zeile 14 des kleinen Textes zu erreichen in einem Zustand, da ich Wort für Wort noch mitdenken konnte. Nach einer Stunde des Übens hörte ich für diese Nacht auf, um in der kommenden Nachtzeit fortzufahren. – stop
zeitjazz
sierra : 3.32 — An einer anderen Stelle habe ich bereits von meinem Wunsch erzählt, man möge auf meiner letzten Ruhestätte einmal ein Windrad errichten. Ich hatte notiert, das Rad, indem es rotierte, könnte Strom erzeugen. Mittels eines Kabels würde dieser Strom zu einer Batterie unter die Erde geführt und ein Musikabspielgerät in Bewegung gesetzt, um etwas Charlie Parker oder Benny Goodman zu spielen. Eine faszinierende Vorstellung immer noch, eine Idee, die mich in Gedanken jedes Mal gegen einen Zeitraum führt, der nicht ganz einfach vorzustellen ist, weil ich in ihm nicht wirklich vorkommen werde, es sein denn als eine Person, die man zu den Toten zählt. Man wird vielleicht irgendwann einmal sagen, dieser hier, der dort unter Erde liegt, war einer, der zur Lebenszeit die Idee verfolgte, ein Windrad auf seinem Grab zu errichten. Sein Name ist Louis gewesen, er konnte sich vorstellen, wie das Windrad sich drehen wird und Strom erzeugen, aber er konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie es sein wird, in der Nähe dieses Windrades ohne Leben zu sein. Gerade fällt mir ein, dass ich einmal hörte, es werde vielleicht bald möglich sein, das Wissen, das Bewusstsein, das Wesen einer Person in das digitale Gehirn eines Computers zu übertragen. Demzufolge ist denkbar geworden, neben organischen Bestandteilen eines Verstorbenen sein Bewusstsein beizusetzen und mittels eines Windrades mit Strom zu versorgen. Wenn nun Windstille herrschte, würde das Bewusstsein schlafen, und wenn es stürmisch geworden ist, da draußen, da oben im Herbst, beispielsweise, würde es im rasenden Denken vergehen vor Glück. – Es ist kurz nach drei Uhr. Automobile der Polizei schleichen in Kolonnen mit Blaulicht durch die Straße, in der ich wohne. — stop
rund um das müllnerhorn
sierra : 0.02 — Den halben Abend mit der Überlegung zugebracht, was ein moderner Kentaur, ein Kentaur unserer Tage, der in der Gegend um das Müllnerhorn in einem Laubwald unter Buchen, Eichen und Lindenbäumen leben könnte, zum Frühstück gerne zu sich nehmen würde. Wie im Flug ist die Zeit vergangen, ein Zustand leichter Selbstvergessenheit. Ich habe mir zunächst Dunkelheit vorgestellt, Dämmerung, dann, in diesem glimmenden Licht des nahenden Tages, die Umrisse eines Kentaur von zierlicher Gestalt, wie er noch schlafend seitlich auf etwas Moos gebettet liegt und träumt. Kaum sichtbare Atmung, die Hände, lose gefaltet, ruhen auf der Brust, ein Auge leicht geöffnet, peitschende Bewegung der weißhaarigen Spitze seines Schwanzes. Von einem ersten Sonnenstrahl berührt, setzt er sich auf, reibt sich das Fell, kurz darauf eine schwungvolle Bewegung und schon steht der Kentaur auf seinen vier Beinen. Ein wunderbar blauer Himmel über ihm, ein Himmel, den man sofort für ein gestürztes Meer halten könnte, ein Meer ohne Wind, ruhig, da und dort eine Wolke von Fisch. Jetzt liegt der Kentaur wieder seitlich auf dem Boden, seinen schönen Kopf auf eine Hand gestützt, nascht er von einem Häufchen Beeren, blättert in einem ramponierten Telefonbuch der Stadt Chicago, liest den ein oder anderen Namen laut vor sich hin, einmal eine Himbeere, dann wieder einen Namen. Ja, ich ahnte, Kentauren bevorzugen vielleicht wilde Waldhimbeeren zum Frühstück. Und nun, es ist kurz nach Mitternacht, stellt sich die Frage, ob es Kentauren möglich ist, Bäume zu besteigen? — stop
für h.d.
schirmsamenwölkchen
echo : 0.03 — Ich träume zur Zeit von Blumen. Sie liegen in Bergen herum, Blütenberge, solche Blumen. Gestern, das habe ich nicht geträumt, war ich auf dem Friedhof und habe das Grab meines Vaters besucht. Ich hatte einen Zollstock bei mir, um eine Vorstellung aus der Luft zu holen, die Vorstellung eines Windrades, das ich einmal für meinen Vater bauen werde. Viele Menschen waren auf dem Friedhof unterwegs, manche trugen Gießkannen, andere Windlichter oder Blumen in kleinen Töpfen, Hornveilchen, Ringelblumen, Vergissmeinnicht. Es war ein ganz normaler Tag gewesen. Ich glaubte, beobachten zu können, dass manche der Menschen sich noch nicht ganz sicher fühlten in der neuen Umgebung ihres Lebens, andere begrüßten einander, winkten sich über die Reihen der Gräber hin zu. Einige knieten, wühlten mit bloßen Händen in der dunklen Erde. Eine Frau, sie war von zwergenhaftem Wuchs, überquerte eine Wiese voller Löwenzahn. Unter ihren Füßen stiegen Schirmsamenwölkchen auf. Sie ging so langsam, das heißt, mit derart kleinen Schritten, dass sie sich zunächst kaum zu bewegen schien. Ihr Gesicht war dem Boden zugewandt, weil sich ihr Rücken, wohl unter der Wirkung der Zeit, gekrümmt hatte. Als sie das Grab erreichte, das zu ihr gehörte, war dort ein ebenso kleiner, gebückter Baum zu erkennen, ein Baum, der die Gestalt der alten Frau nachzuahmen schien. — Ob vielleicht Kakteen existieren, die im Norden, die auch im Winter blühen und gedeihen? — stop
seelenkästchen
zoulou : 0.02 — Ich balanciere das Kreuz, das aus Eisen gedreht wurde, im Zug zwischen den Händen. Wunderschöne weiße Berge am Horizont, entlang der Strecke blühen Apfelbäume. Der Mann, der sich das Kreuz ansehen will, ist Künstler. Er arbeitet ausschließlich an Kreuzen. Das Kreuz meines Vaters soll kostbar, soll über 200 Jahre alt sein, wird er bald erzählen, wir haben es in Südtirol auf einem Schuttberg gefunden. In der Halle flackern offene Feuer. Es ist still. Ein paar Fliegen sind im warmen Licht in der Luft zu erkennen und die Hand des Schmiedes, klein und weich. Sie fährt die feinen Schmucklinien des Kreuzes entlang, da und dort fehlen Spitzen. Jede der fehlenden Spitzen wird geschätzt, wie sie wohl ausgesehen haben mag und was sie vielleicht kosten wird. Es ist nicht das Material, sagt der Mann, es ist heutzutage die Zeit, verstehen Sie, die Arbeitszeit. Er öffnet behutsam die Tür eines Gehäuses, das sich im Zentrum des Kreuzes befindet. Jetzt schließt er es wieder, tritt einen Schritt zur Seite und erkundigt sich, ob ich den wisse, dass dieses Gehäuse, ein sogenanntes Seelenkästchen sei, ein Ort, an dem sich die Seele eines verstorbenen Menschen ausruhen könne, bis sie weiter himmelwärts aufsteigen würde. Eine wundervolle Erfindung. Es ist für mich die erste Begegnung mit einer Form, die eine konkrete Vorstellung der Größe einer Menschenseele sofort entstehen lässt. Ich sage zu dem Mann, der dicht neben mir steht, dass sie doch kleine Wesen sind, die Seelen der Menschen. Und dann gehe ich wieder. Es ist schon halber Nachmittag. – stop
koffer unsichtbar
echo : 0.03 — Mein Vater war ein Liebhaber technischer Messgeräte. Er notierte mit ihrer Hilfe Dauer und Kraft des Sonnenlichts beispielsweise, das auf den Balkon über seinem Garten strahlte. Die Temperaturen der Luft wurden ebenso registriert, wie die Menge des Regens, der in den warmen Monaten des Jahres vom Himmel fiel. Selbst die Bewegungen der Goldfische im nahen Teich wurden verzeichnet, Erschütterungen des Erdbodens, Temperaturen der Prozessoren seiner Computermaschine. Es ist merkwürdig, beinahe täglich gehe ich zurzeit auf die Suche, weil wieder irgendeine dieser Messapparaturen einen piepsenden Ton von sich gibt, als ob mein Vater mittels seiner Maschinen noch zu mir sprechen würde. Indessen habe ich seit zwei Tagen Kenntnis von einer Fotografie, die mich neben meinem sterbenden Vater zeigt. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervor gespäht. Jetzt ist mir warm, wenn ich das Bild betrachte. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit gefürchtet habe. Weinen und Lachen falten sich, wie Hände sich falten. Mutter irrt zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie irgendeine unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. — stop
von den glücksgeräuschen der froschvögel
ulysses : 4.18 — Früher Morgen. Windstille. Licht noch schwach. Die Luft ist kühl geworden über die Nacht. Vor dem Teich im Garten die Spuren meiner Füße im Gras. Am Ufer des kleinen Sees ruht ein Molch, äußerst langsam geht sein Herzschlag, da muss doch ein Geräusch zu hören sein. Ich erinnere mich, gestern wurde die Entdeckung eines neuen Teilchens im Atom bekannt gegeben. Das Teilchen trägt den Namen: Xi_b^0. Hätte ich von seiner Entdeckung nicht gelesen, wäre ich in der Beobachtung meiner Hand, die auf meinem Knie ruht, nicht so aufmerksam wie an diesem frühen Morgen. Ich frage mich, wie viele Teilchen der Bezeichnung Xi_b^0 sich in meiner halbschlafenden Hand wohl befinden mögen, wie alt sie sind und woher sie vielleicht gekommen waren. Es ist still am Morgen heute. Die Amseln schlafen noch. Ein Wasserläufer überquert den Teich. In diesem Moment bemerke ich ein ballonartiges Wesen, das hoch über mir am Himmel schwebt. Es nähert sich langsam, in dem es tiefer kommt. Das Wesen ist hell, es ist weiß, es verfügt über Flügel, die sich sehr schnell bewegen, Fühleraugen, wie die Augen der Lungenschnecken, es ist ein Vogel. Der Vogel scheint den See unter ihm aufmerksam zu betrachten. Jetzt öffnet sich sein Bauch an erdnaher Stelle, ein Mund spitzt seine fahlrosa Lippen, Beutel fallen heraus aus diesem Mund, sie schlagen hohe Wellen im Teich. Der Molch verschwindet im Gras, Wasserläufer, die bewegungslos an Seerosenblattspitzen dämmerten, flitzen auf und davon. Jene Beutelchen, das kann ich von meiner Position aus gut erkennen, die aus dem Vogel herausgefallen sind, haben sich geöffnet, Kaulquappen, tausende, schwärmen nach allen Richtungen aus. Noch immer schwebt der Vogel über mir über dem See über der Wiese. Ein faszinierendes Geräusch ist von seinem Körper her zu vernehmen, ein Hupen, das Trompetengeräusch eines Zwergelefanten. Es ist nun denkbar, dass ich als erster Mensch die Glücksgeräusche der Froschvögel wahrgenommen habe. — stop
für meine Mutter,
für meinen Vater
subnautilus aquarius
himalaya : 0.05 — Nach vielstündiger, konzentrierter Arbeit ist die Erfindung einer weiteren Gattung schaukelnder Perlboote endlich denkbar geworden. Subnautilus aquarius, Geschöpf reinen Wunsches. Wesentliche Merkmale kurz notiert: Perlboote der Gattung Subnautilus aquarius leben ausschließlich in Süßwasserumgebung, vornehmlich in flachen Gewässern, das heißt, in Gewässern bis fünf Meter Tiefe. Temperaturen jenseits 30° Celsius (doch unter 40° Celsius) sind Voraussetzung, um höheres Alter erreichen zu können. Größe in Reife: 150 mm. Gassteuerung sowohl auf als auch abwärts. Äußere Hülle: Aragonit. Innere Hülle: Perlmutt. Fangarme: 120. Perlboote der Gattung Subnautilus aquarius gebieten weiterhin über die Fähigkeit, Licht zu erzeugen in vielfältigen Farben. Algen (5 bis 8 Gramm pro Tag), aber auch Schuppen menschlicher Haut, werden bevorzugt aus dem Wasser genommen. Man kann hören. — stop