Aus der Wörtersammlung: luft

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im zug kürzlich

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india : 0.12 – Ein Mäd­chen, das mög­li­cher­wei­se gera­de erst spre­chen lern­te, in einer Spra­che, die ich nicht ver­ste­he, steht im Zug vor mir. Ich notie­re auf ein Blatt Papier, als ich die klei­ne Per­son bemer­ke. Ich sage: Hel­lo! Sofort schließt das Mäd­chen die Augen, bleibt aber wie ange­wur­zelt vor mir ste­hen. Weni­ge Meter ent­fernt sit­zen zwei Frau­en und vier Män­ner, sie tra­gen Ano­raks, die zu groß sind, die Frau­en außer­dem Kopf­tü­cher und Hand­schu­he, obwohl es im Zug warm ist. Sie schei­nen müde zu sein, nie­mand spricht. Einer der Män­ner beob­ach­tet mich, ein ruhi­ger, auf­merk­sa­mer, freund­li­cher Blick, ich den­ke noch, was sieht er in mir, da öff­net das klei­ne Mäd­chen sei­ne Augen wie­der, schaut mich an, kein Lächeln, als ich eine Hand hebe und win­ke. Ein Gesicht, blass, fast weiß, tie­fe, dunk­le Rin­ge unter den Augen, die glän­zen. Was haben die­se Augen gese­hen in den ver­gan­ge­nen Wochen, Mona­ten, Jah­ren, viel­leicht Men­schen, die tot sind, wie sie auf einer Stra­ße lie­gen, eine Hand der Mut­ter, die  Augen des Mäd­chens bede­cken im Moment ein­stür­zen­der Häu­ser, Luft vol­ler Flie­gen unter einem Zelt­dach, das nächt­li­che Meer, schrei­en­de Men­schen vor Sta­chel­draht bewehr­ten Toren, rasen­de Schä­fer­hun­de, die in Ungarn gebo­ren wor­den sind? – Ein Kind will sehen. So fängt es immer an, auch damals fing es so an. Ein Kind woll­te sehen. / Juli­an Bar­nes Arthur & Geor­ge – stop
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abschnitt neufundland

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Abschnitt Neu­fund­land mel­det fol­gen­de gegen Küs­te gewor­fe­ne Arte­fak­te : Wrack­tei­le [ See­fahrt – 108, Luft­fahrt — 322, Auto­mo­bi­le — 16], Gruß­bot­schaf­ten in Glas­be­häl­tern [ 18. Jahr­hun­dert — 17, 19. Jahr­hun­dert – 75, 20. Jahr­hun­dert – 988, 21. Jahr­hun­dert — 532 ], Trol­ley­kof­fer [ blau : 143, rot : 643, gelb : 88, schwarz : 1734 ] phy­si­cal memo­ries [ bespielt — 1186, gelöscht : 34 ], See­not­ret­tungs­wes­ten : [ 1801 ], Amei­sen [ Arbei­ter ] auf Treib­holz [ 1453 ], Brumm­krei­sel : 5, Öle [ 0.06 Ton­nen ], Matrosch­ka — Pup­pen von Bir­ken­holz : 5, Pro­the­sen [ Herz — Rhyth­mus­be­schleu­ni­ger – 77, Knie­ge­len­ke – 345, Hüft­ku­geln – 16, Bril­len – 6754 ], Halb­schu­he [ Grö­ßen 28 – 39 : 133, Grö­ßen 38 — 45 : 766 ], Plas­tik­san­da­len [ 1562 ], Kühl­schrän­ke [ 1 ], Tele­fo­ne [ 874 ], Pup­pen­köp­fe [ 102 ] Gas­mas­ken [ 2 ], Tief­see­tauch­an­zü­ge [ ohne Tau­cher – 3, mit Tau­cher – 1 ], Engels­zun­gen [ 56 ] | stop |

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nazamins schwester

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echo : 5.08 — Ich träum­te von merk­wür­di­gen Tie­ren, die sehr flach sind und weich und außer­dem schön gestal­tet. Wenn man eines die­ser Tie­re auf einem Tisch in der Wirk­lich­keit vor sich lie­gend betrach­ten könn­te, wür­de man viel­leicht die Ähn­lich­keit zu Brief­mar­ken erken­nen, so wie wir sie als Kin­der ent­de­cken und zu sam­meln begin­nen. Tat­säch­lich han­delt es sich bei jenen Tie­ren, wel­che ich träum­te, um Brief­mar­ken­tie­re, die leicht sind, man­che tra­gen die Zeich­nung wei­te­rer Tie­re auf ihrem Kör­per, Zebras oder Schmet­ter­lin­ge oder Sing­vö­gel sind häu­fig auf ihrem Rücken zu erken­nen. An einem ihrer gezahn­ten Rän­der sit­zen sehr klei­ne Augen fest, dort soll sich gleich­wohl ein Mund befin­den, der feins­te Stäu­be aus der Luft ent­nimmt, Pol­len­sa­men, Bak­te­ri­en, Spo­ren jeder Art, davon ernäh­ren sich Brief­mar­ken­tie­re vor­nehm­lich, es sein denn, sie wer­den mit feins­tem Puder­zu­cker vor­sätz­lich gefüt­tert. Brief­mar­ken­tie­re sol­len dort zu erwer­ben sein, wo man auch her­kömm­li­che Post­wert­zei­chen bestel­len kann, sie sind zunächst nicht so preis­wert wie das papie­re­ne Mate­ri­al, dafür mehr­fach ver­wend­bar. Um einen Brief mit einem Brief­mar­ken­tier zu ver­se­hen, legt man das betref­fen­de Schrift­stück im Kuvert auf einen Tisch, setzt nun behut­sam eines der Brief­mar­ken­tie­re an geeig­ne­te Stel­le, näm­lich genau dort­hin, wo nor­ma­ler­wei­se papie­re­ne Brief­mar­ken auf­zu­tra­gen sind, und schon wird man beob­ach­ten, wie sich das Brief­mar­ken­tier mit sei­nem neu­en Zuhau­se ver­bin­det, es schmiegt sich an und ist fort­an vom Brief nur noch mit­tels Gewalt zu tren­nen. Wie es jetzt leuch­tet, wie es sei­ne wun­der­ba­ren Far­ben zeigt, wie es mit Mus­tern spielt und mit Bil­dern, die zu Fil­men wer­den, zu Geschich­ten, die das Brief­mar­ken­tier irgend­wo gelernt haben muss. Und wenn nun der Brief auf die Rei­se geht, reist das Brief­mar­ken­tier mit ihm mit, und bleibt dem Brief so lan­ge ver­bun­den, bis der Brief geöff­net wird. In die­sem Moment der Öff­nung löst sich das Brief­mar­ken­tier von sei­nem Brief, der nun nicht mehr sein Brief sein kann. Es ist kaum zu glau­ben, aber es ist wahr, ich hab’s geträumt, das Brief­mar­ken­tier segelt sogleich durch die Luft davon, es ist schnell unter­wegs, schnell wie ein Zug­vo­gel kehrt es zu sei­nem Absen­der zurück, Tage oder auch Wochen ist es unter­wegs, Schwär­me von Brief­mar­ken­tie­ren wur­den bereits in gro­ßer Höhe über dem Erd­bo­den beob­ach­tet. Zu Hau­se end­lich ange­kom­men, lun­gern sie dann gern an den Fens­tern und war­ten. stop. Ende mei­nes Trau­mes. stop – Naza­mins Schwes­ter wur­de am ver­gan­ge­nen Sams­tag in den Ber­gen nahe Sem­din­li ver­mut­lich von tür­ki­scher Mili­tär­po­li­zei getö­tet. Naza­mins Schwes­ter wird nie wie­der erwa­chen. – stop

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5 Uhr 8

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echo : 5.08 — Ich kom­me nie­mals auf die Idee, Men­schen, die wach sind, mit­tels mei­ner Gedan­ken anzu­spre­chen, aber wenn sie schla­fen, war­um? — stop

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im winterzimmer

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oli­mam­bo : 2.15 — Als der jun­ge Mann nach lan­ger Zeit tie­fen Schla­fes erwach­te, begann er zu erzäh­len, er hat­te, wäh­rend er von Maschi­nen im Leben fest­ge­hal­ten wur­de, wäh­rend er uner­reich­bar gewe­sen war für die Stim­men ihn pfle­gen­der und besu­chen­der Men­schen, viel erlebt. Nein, sag­te er, dass wir mit ihm gespro­chen haben, habe nicht gehört. Er sag­te, er habe aber vom Win­ter geträumt, dass Win­ter gewor­den sei, Schnee auch in sei­nem Zim­mer, Schnee, der von der Decke sei­nes Zim­mers rie­sel­te, Schnee­men­schen wür­den ihn gefüt­tert haben und in sei­nem Bett her­um­ge­dreht. Maschi­nen von Eis ver­sorg­ten ihn mit Luft, das habe er genau­es­tens beob­ach­tet, und er habe das Pfei­fen von Eis­or­geln gehört, zwit­schern von Eis­vö­geln und das Tuten von Eis­lo­ko­mo­ti­ven, die immer wie­der ein­mal aus ihren Schlo­ten schmut­zig qual­mend durch sein Zim­mer don­ner­ten, sodass sein Bett hin und her schwank­te, als befän­de er sich auf hoher See. Das alles erzähl­te der erwa­chen­de jun­ge Mann uner­müd­lich, ohne eine Pau­se zu machen, er beweg­te den Mund, er hör­te sich spre­chen, aber die Maschi­ne, die noch immer mit ihm atme­te, die ihre Schläu­che zu sei­nem Hals hin­be­weg­te, trans­pa­ren­te, feuch­te Roh­re von fei­ner Haut, mach­te ihn stumm. Über­haupt war der jun­ge Mann noch etwas ver­wirrt, sodass wir die­se Geschich­te ganz sicher bald noch ein­mal zu erzäh­len haben. — stop

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von zeitungen

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india : 3.18 — Mor­gens liegt die Tages­zei­tung wie ein Wun­der vor der Tür, an jedem der Tage einer Woche, nur an Sonn­ta­gen nicht. Es exis­tie­ren Win­ter­zei­tun­gen, die von Schnee bedeckt sind, und Som­mer­zei­tun­gen, wel­che küh­ler sind als die Mor­gen­luft, außer­dem Herbst­zei­tun­gen und Früh­lings­zei­tun­gen. Herbst­zei­tun­gen sind von Blät­tern bedeckt, feucht vom Nebel der Mor­gen­stun­den, feucht wie Früh­lings­zei­tun­gen, die nur feucht sind, aber nicht von Blät­tern bedeckt. Alle die­se Zei­tun­gen sind schwe­re Objek­te in den Hän­den einer alten Frau. Es ist immer­zu sehr viel gesche­hen seit der Zei­tung des Tages zuvor, und auch jene frü­he­re Zei­tung war schwer gewe­sen, weil viel gesche­hen war in der Zeit, als die alte Frau im Gar­ten arbei­te­te. Ja, das Gehen fällt nicht mehr so leicht, und auch das Lesen nicht. Es geschieht so viel, sagt die alte Frau, und sie mein­te viel­leicht, dass zu viel geschieht, dass die Zei­tung zu schwer gewor­den ist, für ihre alten Hän­de. Und sie sagt, dass sie nicht alles, was in der Zei­tung geschrie­ben steht, lesen kön­ne, sie sagt das so, als ob sie mein­te, es sei zu viel in der Zei­tung geschrie­ben, das sie nicht lesen wür­de, sie sei der Zei­tung nicht län­ger wür­dig, wes­we­gen wir nun hof­fen und dar­über nach­den­ken, was viel­leicht zu tun ist in die­ser Zeit, das die papie­re­nen Zei­tun­gen zu schwer gewor­den sind. — stop

oqaatsut

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oqaatsut

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hima­la­ya : 2.03 — Ges­tern erreich­te mich eine Nach­richt Opal­kas. Er mel­de­te sich aus einem grön­län­di­schen Städt­chen, wel­ches an der West­küs­te der Insel liegt. Er notier­te: Lie­ber Lou­is, bei dich­tem Schnee­trei­ben mit Pro­pel­ler­flug­zeug in Oqaats­ut ein­ge­trof­fen. Fischer Roon, der mich vom Flug­platz abhol­te, erzähl­te, es sei glück­li­cher­wei­se nicht wirk­lich Win­ter gewor­den, — 7 °C, hef­ti­ge Win­de vom Meer, viel Schnee, haus­ho­he Wehen, fast dun­kel. Gegen Abend zu, im Schein der Lam­pen einer Schnee­rau­pe, besuch­ten wir einen Strand. Unter der dich­ten Haut von fei­nem Schnee waren noch Spu­ren eines gestran­de­ten Wals zu erken­nen, Rudi­men­te sei­nes Schä­del­kno­chens, Tei­le der Wir­bel­säu­le. Das Eis weit drau­ßen, das sich hef­tig beweg­te, don­ner­te zu uns her­über, es ist wun­der­bar, der Boden zit­ter­te und mein Atem pul­sier­te unter dem Ein­druck zar­ter Luft­druck­wel­len. Ich wer­de Dir in den kom­men­den Tagen eine Ton­auf­nah­me der Eis­meer­ge­räu­sche anfer­ti­gen, auch Du wirst ver­mut­lich begeis­tert sein. Lid­vi­en, die im Magen des Wals jenen Rech­ner ent­deck­te, den ich für Dich unter­su­chen wer­de, wird bald ein­tref­fen. Sie soll das Gerät bereits geöff­net und eine Indi­zie­rung der Datei­en vor­be­rei­tet haben. Bald Nacht, lie­ber Lou­is, wünsch Dir eine gute Zeit, freu mich, dass J. bald wie­der auf­wa­chen wird. Dein Opal­ka. — stop
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kapillare

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char­lie : 2.56 — Eine beun­ru­hi­gen­de Wahr­neh­mung, sobald ich auf Posi­ti­on Face­book notie­re, notie­re ich in ein und dem­sel­ben sozia­len Netz­werk, in wel­chem Kämp­fer des Isla­mi­schen Staa­tes mehr oder weni­ger offen gleich­falls notie­ren. Oder Per­so­nen mit deut­scher oder schwei­zer oder öster­rei­chi­scher Staats­bür­ger­schaft, die schein­bar bei vol­lem Ver­stand unter ihren bür­ger­li­chen Namen dazu auf­ru­fen, Geflüch­te­te bei­spiels­wei­se an die Wand zu nageln. Als wür­de ich die­sel­be Raum­luft atmen. Digi­ta­le Nähe. Eine Chan­ce stil­ler Beob­ach­tung viel­leicht oder aber der Ver­neh­mung. Noch zu tun in die­ser Nacht: Fra­gen erfin­den. — stop

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giuseppi

9

oli­mam­bo : 2.05 — Eine Schwe­fel­wol­ke, von Feu­er­wer­kern über dem Fluss an den Him­mel gesetzt, walzt nachts durch mein Arbeits­zim­mer. Ich war­te in die­sem Moment vor dem Bild­schirm und tele­fo­nie­re und beob­ach­te zur glei­chen Zeit, wie mein Ver­schlüs­se­lungs­pro­gramm mel­det, eine ent­fern­te Com­pu­ter­ma­schi­ne habe in den ver­gan­ge­nen 5 Minu­ten ver­sucht, mei­nen Basis­schlüs­sel her­aus­zu­fin­den. Ich erhal­te 1218 War­nun­gen inner­halb 1 Minu­te per E‑Mail zuge­stellt. Und wäh­rend ich von Giu­sep­pi Logan (Hört ihm zu!) erzäh­le, dem ich, ohne es zu bemer­ken, im Jah­re 2010 im Thomp­kins Squa­re Park per­sön­lich begeg­net sein könn­te, geht das immer wei­ter so fort, in klei­ne­ren Pake­ten tref­fen rasend schnell alar­mie­ren­de E‑Mails bei mir ein. In die­sem Moment könn­te ich wirk­lich nicht sagen, ob ich nicht viel­leicht träu­me, was ich vor mir auf dem Bild­schirm beob­ach­te. Vor­hin zähl­te ich Mari­en­kä­fer nahe der Lam­pen. Zur­zeit leben 22 Per­sön­lich­kei­ten in mei­ner Woh­nung, 1 Käfer sitzt schon seit Stun­den auf dem Gehäu­se Esme­ral­das fest. — stop

nach­rich­ten von esmeralda »

giuseppi

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Nie­mand klang in einem Ensem­ble so wie Giu­sep­pi [Logan]. Bei sei­nem Spiel hielt er sei­nen Kopf weit zurück; dazu erklär­te er: „Auf die­se Art ist mei­ne Keh­le weit offen“, so konn­te er mehr Luft ein­zie­hen. Er spiel­te in einem Umfang von vier Okta­ven auf dem Alt­sa­xo­phon. Was ihn als Impro­vi­sa­tor von ande­ren unter­schied, war die Art, wie er sei­ne Noten plat­zier­te und damit einen bestimm­ten Klang schuf, dem die ande­ren der Grup­pe dann folg­ten. Sei­ne Stü­cke waren aus die­sem Grund sehr attrak­tiv; Giu­sep­pi hat­te sei­ne ganz eige­nen Ansich­ten über Musik …“ – Bill Dixon

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kubatajo

9

romeo : 5.20 — Küh­le Luft, gnä­di­ges Tier, fließt über den Boden. Zwei Tau­ben sit­zen auf dem Fens­ter­brett und spä­hen ins Zim­mer. Irgend­wo im Süden süd­lich wer­den sich in die­sem Augen­blick hung­ri­ge gro­ße Men­schen und hung­ri­ge klei­ne Men­schen durchs Unter­holz der Berg­wäl­der schla­gen. Unlängst erzähl­te vom Bild­schirm her ein älte­rer Herr zu Buda­pest, er kön­ne SIE nicht mehr sehen, Flüch­ti­ge, man soll­te ihnen in die Bei­ne schie­ßen, dann wür­den sie nicht wie­der kom­men. Und ich dach­te, der­art prä­zi­se hat er bereits Kör­per­or­te der Ver­wun­dung vor­aus­ge­dacht, dass er kon­kret wer­den kann. Wie­der Wör­ter erfun­den: jusi­be­ba babu­ke­le bife­ri­gu jaba­bu­ba kuba­ta­jo ribe­ju­mu gocubobu kub­ex­e­bu sopi­ja­be bibu­je­bi. stop — 5 Uhr 15: Miles Davis / John Col­tra­ne — Paris 1960 — stop
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