marimba : 0.55 — Sie singen wieder! Vielleicht haben Sie nie aufgehört. Teheran bei Nacht. Auch Persiankiwi und Fereshteh Ghazi, die für lange Zeit verstummten, senden auf Position Twitter. Der Eindruck, ein Film, der im Sommer 2009 angehalten wurde mit extremen Mitteln staatlicher Gewalt, setze sich langsam erneut in Bewegung. stop. Das Schweigen. stop. Die Stille. stop. 18 Monate. stop. stop. / 26. juni 2009 : F. erzählt von Nächten, die er vor 30 Jahren in den Straßen und auf den Dächern über der Stadt Isfahan verbrachte. Das Rufen tausender Stimmen: Allah-o-Akbar. Wir haben das erfunden, um den Schah zu vertreiben, auch ältere Menschen konnten sich in dieser Weise bemerkbar machen. Wir kämpften für Demokratie, hörten BBC, um herauszufinden, ob irgend jemand wahrnimmt, was mit uns geschieht. Kannst Du verstehen, wie ich mich jetzt fühle? – Furchtbar wurden sie betrogen, eine Generation im Exil. – Kurz nach Mitternacht. Fereshteh Ghazi, junge Journalistin, notiert: Tonight, like past nights, the chants of “Allah-o-Akbar” were heard on roof tops of Tehran & other cities. Seit Tagen schreibt sie sich die Finger wund. Persiankiwi aber, dessen Zeichen ich viele Stunden lang auf dem Bildschirm erwartete, ist verstummt. Vorgestern noch Zeilen auf Twitter folgende: > just in from Baharestan Sq – situation today is terrible – they beat the ppls like animals 3:34 PM Jun 24th I see many ppl with broken arms/legs/heads – blood everywhere – pepper gas like war 3:35 PM Jun 24th
they were waiting for us – they all have guns and riot uniforms – it was like a mouse trap – ppl being shot like animals 3:53 PM Jun 24th saw 7/8 militia beating one woman with baton on ground – she had no defense nothing – sure that she is dead 3:55 PM Jun 24th so many ppl arrested – young & old – they take ppl away – we lose our group 3:59 PM Jun 24th ppl run into alleys and militia standing there waiting – from 2 sides they attack ppl in middle of alleys 4:01 PM Jun 24th all shops was closed – nowhere to go – they follow ppls with helicopters – smoke and fire is everywhere 4:03 PM Jun 24th phone line was cut and we lost internet – getting more difficult to log into net 5:05 PM Jun rumour they are tracking high use of phone lines to find internet users – must move from here now 5:09 PM Jun 24th reports of street fighting in Vanak Sq, Tajrish sq, Azadi Sq – now – Sea of Green – Allah Akbar 5:14 PM Jun 24th in Baharestan we saw militia with axe choping ppl like meat – blood everywhere – like butcher – Allah Akbar – 5:16 PM Jun 24th they catch ppl with mobile – so many killed today – so many injured – Allah Akbar – they take one of us – 5:18 PM Jun 24th Lalezar Sq is same as Baharestan – unbelevable – ppls murdered everywhere – 5:19 PM Jun 24th they pull away the dead into trucks – like factory – no human can do this – we beg Allah for save us – 5:23 PM Jun 24th Everybody is under arrest & cant move – Mousavi – Karroubi even rumour Khatami is in house guard – 5:28 PM Jun 24th we must go – dont know when we can get internet – they take 1 of us, they will torture and get names – now we must move fast – 5:34 PM Jun 24th thank you ppls 4 supporting Sea of Green – pls remember always our martyrs – Allah Akbar – Allah Akbar – Allah Akbar 5:36 PM Jun 24th Allah – you are the creator of all and all must return to you – Allah Akbar 5:39 PM Jun 24th
Aus der Wörtersammlung: not
motel chronicles
~ : louis
to : Mr. Shepard
subject : MOTEL CHRONICLES
Eine Depesche, verehrter Mr. Shepard, an diesem frühen Morgen in Europa. Bei Ihnen da drüben in Amerika wirds gerade dunkel werden. Notiere begeistert, dass ich Ihre Motel Chronicles geöffnet habe. Obwohl äußerst müde gewesen, las ich eine Halbstunde voran, ohne eine Pause einzulegen. Ihre präzise Sprache, die leicht ist wie Bimsstein, vulkanisch, von Zeithöhlen durchwachsen. Ob es vielleicht möglich ist, ihre Geschichten zu nehmen, um sie in eines der Bücher zu übertragen, die ich erfinde für Nachtpersonen, oder eine Zeile nur wie diese, da das Glück fällt auf die linke Seite des Zufalls? Vielleicht werden Sie fragen, welche Eigenschaften ein Nachtbuch von Tagebüchern unterscheiden. Nun, ein Nachtbuch gebietet über wanderndes Licht in seinen Zeichen, welches müde Leser kaum merklich weiter lockt. Sobald sich nämlich studierende Augen schließen, leuchtet das Licht im nächsten Zeichen, im nächsten Wort voraus, sodass man nicht aufhören möchte, diesem Licht durch die Zeilen zu folgen. Eine Verführung, das könnte sein, ein Appell des Buches, das in den Buchstabensensoren, das Augenlicht der Lesenden zu spüren vermag. Eines dieser Nachtbücher könnte Ihres werden, lieber Mr. Shepard, Motel Chronicles, unsichtbare Zeichen des Tages, Licht in der Nacht. Erwarte Ihre Antwort oder Fragen mit Freude, wie auch immer sie sich für mich darstellen werden. Mit herzlichen Grüßen — Ihr Louis
gesendet am
17.02.2011
4.08 MEZ
1407 zeichen
kairobildschirm
sierra : 0.05 — Wie sich eine Welle vom Strand zurückzieht, entziehen sich die Geräusche des Tages nachtwärts den Straßen. Vielleicht ist die Stunde von 2 bis 3 Uhr die Stunde der leisesten Geräusche, oder aber jene Stunde von 3 bis 4 Uhr, da die Herzen der Schlafenden so vorsichtig schlagen, dass man sie zur Sicherheit wecken möchte. — stop. — Nachmitternachtstunden in Kairo, Ägypten. monasosh via twitter for blackberry : > 2 mins away from the square. U? — Common ppl, be nice, atleast give us a chance to feel happy abt the possibility of him stepping down even if the battle isn’t over yet. — BREAKING: New Facebook upgrade option is called Mubarak. You click on quit and nothing happens. — enta fi heliopolis? How many r u? — chants, everything is peaceful. — A group of protesters marched to the presedential palace in Heliopolis. All is peaceful & they r spending the night there. — I am hereinfront of TV building, a lot of ppl r still in Tahrir, maybe no one tweeting :) — Ppl are chanting “here are the liars” while pointing at ppl looking at us from the TV building. — Amazing energy, ppl just seem to recycle their anger into positive blasts of energy. Chants and drums & whistles all over.
interview tahrir square februar 2011 kurz vor ausbruch staatlicher gewalt gegen aktivisten/innen auf dem platz source : zero silence project
nachtbuch
olimambo : 5.15 — Regelmäßiges, stundenlanges Geräusch des Regens vergangene Nacht. Auch dann noch, während ich Duke Ellington hörte für eine Stunde, weil ich den Regen sehen konnte im Licht der Straßenlaternen und die Spur der Geräusche weiterdachte. Man sollte einmal ein Nachtbuch notieren, das nur vom Regen handelt, ein Buch der Regenschirme, ein Buch triefender Menschen, ein Buch der Schlauchboote, ein Buch, mit dem in der Hand man übers Wasser laufen könnte. Wenn es gelungen sein wird, würde man vielleicht bisweilen den Blick von beleuchteten Zeilen heben und sich wundern, weswegen man in einem Zimmer lesend unter einem Regenschirm Platz genommen hat. – stop
entfaltung
sierra : 22.15 — Sobald ich notiere, das ist merkwürdig, wild vor mich hin notiere, vermag ich zugleich über etwas nachzudenken, das mit dem, was ich notiere, scheinbar nicht in Verbindung steht. Es ist so, als würden die gedachten und sofort geschriebenen Wörter oder die Bewegungen meiner Hände, abseits gefaltete Gedanken öffnen, die nur in dieser Weise erreichbar sind, warum?
interview tahrir square februar 2011 kurz vor ausbruch staatlicher der gewalt gegen aktivisten/innen auf dem platz source : zero silence project
kairobildschirm
echo : 5.38 — Ich erinnere mich, dass ich im Schlaf zu mir sagte: Das will ich nicht weiter träumen. Unverzüglich wurde ich wach. – Schnee ist gefallen, ein weißes Tuch liegt auf den Bürgersteigen. Das Kairofenster flimmert seit bald vierzehn Stunden auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine. Kamelreiter prügeln auf Demonstrierende ein, Steine fliegen durch die Luft, Kühlschränke von Hausdächern, um Menschen zu töten. Mit der Dämmerung kommen Barrikaden, Ölfeuerflaschen, taumeln hin und her, brennende Autos, der hellgraue Rauch der Panzermotoren, die Stimmen der Kommentatoren, die Zahlen verletzter und getöteter Menschen melden. Auf dem Platz der Befreiung wird nach Steinen gegraben. Millimeter hohe Menschenfiguren schleifen liegende Millimeter hohe Menschenfiguren über den Boden. Reine Mordlust scheint ausgebrochen zu sein. – Es ist jetzt 5 Uhr und 30 Minuten. Seit drei Stunden wird scharf geschossen. Niemand weiß, woher die Schüsse kommen. Eine junge Frau, 24, die sich auf dem Platz befindet, erzählt weinend von Menschen, die soeben getötet wurden. Wie das möglich sein könne, dass die Welt nicht eingreife, dass keine Hilfe komme. We will not leaving this place. Sie nennt ihren Namen. — stop
kurzwelle
olimambo : 2.02 — Mitteleuropa. stop. Kurz nach Mitternacht. stop. Nachrichten aus Kairo. stop. Frauen und Männer stehen um ein Transistorradio versammelt. Man lauscht Kurzwellenfunksignalen, die im Raum zur Ionosphäre hin pendelnd um den Globus wandern. Ein Mann mittleren Alters befindet sich unter den Radiohörern. Viel kann ich über diesen Mann nicht sagen. Ich weiß, dass er deutscher Staatsbürger ist, Moslem, in einer peripheren Gegend Kairos geboren. Sein Name ist Belem und seine Stimme hell. Mit dieser seltsam hellen Stimme äußerte Belem unlängst während einer unserer zufälligen Begegnungen, wie wichtig es sei, dass Menschen sich respektvoll verständigen. Belem war mit einer deutschen Frau verheiratet gewesen, ihre gemeinsame Geschichte endete, weil seine Frau ihm nicht dienen wollte. Aber das ist schon lange Zeit her, Belem lebt jetzt allein. Er hinkt, wenn er geht, kaum merklich, weshalb ich mich einmal erkundigte, ob er vielleicht Schmerzen habe. Wie dieser freundliche Mann zögerte, daran erinnere ich mich gut, und wie er dann sein Hemd nach oben zog, um die Narbe einer Schusswunde zu zeigen, eine helle Stelle in der dunklen Haut nahe seines Nabels, eine Wirbelspirale nach innen gerichtet, mit einem sehnigen Knoten in der Tiefe zum Abschluss. Belem war von einer Polizeikugel getroffen worden, seither ist das eine Bein etwas langsamer als das andere Bein. Und das ist schon alles, viel oder wenig, was ich von Belem zu erzählen weiß in dieser Stunde kurz nach Mitternacht, vor einem Radiowellengerät stehend. Der kleine Kasten kracht und pfeift und knarzt und scheppert. — stop
sekundenromane : nachts
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : SEKUNDENROMANE : NACHTS
Für Stunden versucht, zwei Buchstaben zur selben Zeit auf elektrischer Schreibmaschine zu notieren, immer ist ein Zeichen um Bruchteile von Sekunden schneller als das andere Zeichen auf dem Bildschirm sichtbar geworden, niemals liegen sie übereinander. — Guten Abend, Ihr Zwei! Wenn Euch diese Nachricht erreichen wird, habe ich drei oder vier Tage bereits weitergelebt, das hoffe ich jedenfalls, bin glücklich mit sehr wesentlichen Fragen beschäftigt, die meine Wahrnehmung der Zeit betreffen oder die Wahrnehmung einer menschlichen Stimme im Schlaf, genauer, die Stimme eines schlafenden Menschen, in dem sie hörbar wird in den Ohren eines wachenden Menschen für Sekunden, Wortgeräusche, welche sehr viel mehr als nur ein Wort in sich bergen, eine ganze Geschichte vielleicht in jedem dieser Laute, wie sie zärtlich aus nächster Nähe zu mir durch den dunklen Raum geflogen kommen, unvergesslich und doch nicht wiederholbar, das Zirpen schnellster Erzählung, Romane in Sekundenzeit, dann wieder Atemzüge, Meldungen des Lebens. >
Ich hatte eine seltsame Idee, liebe Daisy, liebe Violet, ich überlegte, in dem ich nachtwärts mit meiner Stirn an einem sanftwarmen, an einem träumenden Rücken lehnend lauschte, ob ich nicht einen dieser besonderen Laute aufzeichnen und an Euch übermitteln könnte, dorthin wo man vielleicht zu spielen vermag mit der Geschwindigkeit der Zeit, wie sie sich bewegt, so dass Ihr mir bald einmal erzählen könntet, wovon gesprochen wurde in dieser einen oder anderen Sekunde, an die sich die Schlafende, nachdem sie erwachte, nicht erinnern konnte. Und so habe ich eine kleine Sammlung der Wortgeräuschromane für Euch aufgezeichnet. Ich bitte Euch herzlich, sie langsamer, sie lesbar zu machen für mich. Anbei, wie versprochen, eine Minute gefilmter Zeit vom Laufen über den East River von Brooklyn aus nach Manhattan. Euer Louis, cucurrucu, wünscht eine gute Nacht!
gesendet am
14.01.2011
22.08 MEZ
1785 zeichen
im halbschlaf
echo : 0.02 — Oder der Moment des Erwachens, ein Bild, das ich erinnern, das ich buchstabieren kann, jedes Geräusch in diesem Bild, das Licht, einen duftenden Wind oder Atem, eine Berührung, eine Stimme, einen ersten Gedanken, eine während der Nacht notierte Sorge. Aber der Moment, da ich zu schlafen beginne, ein stummer, ein weißer Ort, ein verborgenes Bild, das vorausgegangene Halbschlafbilder träumend zu verzehren scheint. — stop
manhattan : eine frau verschwindet und kehrt wieder
nordpol : 7.05 — Gestern Abend folgte ich mittels der Google-Earthmaschine einer besonderen Route durch das südliche Manhattan. Ich kannte diese Strecke, war dort im Spätsommer des vergangenen Jahres auf eigenen Füßen spaziert, war Malcolm Lowry auf der Spur gewesen, seinen enger und enger werdenden Kreisen, die den Schriftsteller ein halbes Jahrhundert zuvor in das Bellevue Hospital führten, wo er sich, in höchster Not befindlich, vom Schmerzmantel des Alkohols zu befreien suchte. Immer wieder hatte ich damals jene Gegend nahe des East River aufgesucht, sodass ich eine beinahe vertraute Umgebung in digitaler Weise berührte. Gegen Mitternacht dann, ich hatte die Third Avenue gekreuzt, bog ich nach Norden ab, erreichte 30 Minuten später die 70th Straße. Da war an einer Ecke ein kleiner Laden, an den ich mich erinnerte. Versuchte ihm näherzukommen, zoomte heran, aber dann überquerte ich im Sprung die Straße mittels einer zarten Bewegung der Mouse, bewegte mich im Kreis und bemerkte in diesem Augenblick, dass eine Frau mit Hund, die gerade noch die Straße in nächster Nähe überquert hatte, verschwunden war, indem ich die Kreuzung von Osten her betrachtete. Auch war die Straße dunkler geworden, als wäre kurz zuvor Regen gefallen oder die Dämmerung des Abends eingetroffen. Um ein paar weitere Meter gedreht, war die Frau dann wieder da gewesen und ihr Hund, den Schwanz erhoben, und die Straße trocken. Eine Kreuzung, so mein Eindruck, gefalteter Zeit. Ich muss das beobachten. — stop