ulysses : 6.02 — Einen Tag lang habe mit meiner Antwort an Jennifer 7 gewartet. Vor wenigen Stunden folgende kurze E‑Mail-Notiz: Liebe Jennifer, ich verstehe, dass Sie unruhig geworden sind. Bitte haben Sie etwas Geduld, ich weiß um Ihr Leid, ahne, was es bedeutet, wenn man nicht schlafen kann, weil Schritte von Menschen in nächster Nähe über die Decke spazieren. Man glaubt ihre Schatten zu sehen jenseits der Bastmatten, der Steine, der Hölzer. Wenn es einmal still ist, dann wartet man in dieser Stille auf das nächste Geräusch, das den Schlaf zerreißen wird, alles schon da todsicher in der Zukunft, all das Getöse, weil man an es denkt, weil es nicht anders sein kann, jede leise Erschütterung des Bodens eine Erschütterung der Welt, Erdbeben, Tragödie. Man möchte sich erheben, man möchte sich kämmen, Hemd und Hose sind bereits übergeworfen, so tritt man auf den Flur, um sich zur Beschwerde aufwärts zu begeben. Man klopft an eine Tür. Man sieht einen Schatten hinter dem Bullauge des Spions: BIST DU ALSO DA! Aber niemand öffnet die Tür. Auch nach Minuten des Wartens nicht. Und dann ist man doch noch eingeschlafen, meine liebe Jennifer 7, man schläft vor Erschöpfung, man schläft mit geöffneten Augen unter dem Schwanenhals. — Donnerstag. Leichter Regen. Es ist kalt geworden über Nacht. Noch immer habe ich keine Antwort auf die Frage gefunden, weshalb Kiemenmenschen, sobald sie schlafen oder sich küssen, Kopf nach unten in ihren Wasserwohnungen schweben. — stop
Aus der Wörtersammlung: op
jennifer 7
romeo : 6.25 — Gestern am späten Abend erreichte mich eine E‑Mail von einer Person namens Jennifer 7. Ich wunderte mich, dass dieses Schreiben nicht sofort in einem Spamordner verschwunden war, immerhin kenne ich niemanden, der diesen Namen trägt. Aber ich bin nun doch sehr froh, dass mich der kleine Brief aus der Ferne erreichte. Er war in englischer Sprache verfasst, und ich sitze noch immer vor ihm und überlege, was zu tun ist, was ich notieren soll, weil, das ist ganz sicher so, dass ich Jennifer 7 antworten sollte, morgen oder übermorgen. Vielleicht werde ich ihr eine Frage stellen, wo genau sie denn wohnt, in welcher Stadt, in welchem Haus, wie das Haus beschaffen ist, welcher Art Menschen in diesem Haus wohnen Tür an Tür. Jennifer 7 schrieb so: Lieber Mr. Louis, ich bin sehr müde, ich habe über eine ganze Woche lang kaum geschlafen, weil ich in einer Mietwohnung lebe im 22. Stock, was noch kein Grund ist nicht zu schlafen, aber ich arbeite nachts in einem Krankenhaus und trage sehr viel Verantwortung und muss schlafen am Tag. Neuerdings kann ich nicht schlafen, weil man mich nicht schlafen lässt. Wenn es den 23. Stock nicht geben würde, dann wäre dort nichts als ein Dach, auf dem ein paar Tauben sitzen würden und ich könnte schlafen, weil Vögel leise, behutsame, kultivierte Tiere sind. Nun aber ist das so, dass in den 23. Stock ein Mann und eine Frau eingezogen sind, Menschenpersonen, die sich nicht kümmern um den Lärm, den sie machen. Und so kann ich, das ist der Grund, nicht schlafen. Vorgestern war ich zum ersten Mal dort oben im 23. Stock, um mich vorzustellen. Ich habe mich gefürchtet. Der Mann war nicht zu sehen, dafür aber die Frau, sie stand auf Schuhen, mein Gott waren die wuchtig. Sie sagte, dass ich Pech haben würde, weil sie im Moment nicht arbeite, deshalb würde ich ihre Schritte hören und alles Weitere. Pech, sagte die Frau, Pech. Und so kann ich nicht schlafen. Ich höre ihre Schritte. Stündlich lassen sie irgendetwas fallen auf den schönen hölzernen Boden, oder sie schreien sich an, obwohl sie noch jung und frisch verheiratet sind. Das ist ein wirkliches Unglück, Mr. Louis, ich bin fast schon verzweifelt und so habe ich an Sie gedacht, weil Sie doch so schöne Käfer erfinden, die in Ohren wohnen, damit man nichts hören muss. Ob Sie mir wohl helfen, Mr. Louis! – stop
salamander
georges perec
tango : 22.01 — Folgendes. Immer gegen 8 Uhr in der Früh brechen wir auf, Georges und ich. Wir gehen ein paar Schritte über die Rue de Javel, nehmen die 6er-Metro durch den Süden, steigen dann um in Richtung Porte Dauphin, fahren mal unter, mal über der Erde im Kreis herum, bis es Abend oder noch später geworden ist. So kann man gut sitzen, zufrieden, durchgeschüttelt, Seite an Seite für viele Stunden, und Menschen betrachten, wie sie hereinkommen, Fahrgäste, wie sie im Waggon Platz nehmen, wie sie beschaffen sind, davon legen wir Verzeichnisse an, Georges ein Verzeichnis, und ich ein Verzeichnis. Weil es aber sehr schwer ist, ein Verzeichnis aller Erscheinungen eines Raumes anzulegen, der nicht gerade erfunden wird, eines Raumes, der sich fortbewegt, der betreten und verlassen wird von Menschen im Minutentakt, das Verzeichnis eines Raumes, dessen Fenster sich von Sekunde zu Sekunde neu bespielen, weil es also unmöglich ist, das Verzeichnis eines wirklichen Raumes anzulegen, machen wir das so: in der ersten Stunde des Reisetages notieren wir ein Verzeichnis der zugestiegenen Krawatten, in der zweiten ein Verzeichnis der Schuhe und der Strümpfe, ein Verzeichnis, sagen wir, der Gehwerkzeuge und ihrer Bekleidung, dann ein Verzeichnis der Haartrachten, der Taschen, der Methoden sich im fahrenden Zug einen sicheren Stand zu verschaffen, der Gesprächsgegenstände, der Art und Weise sich zu küssen, zu streiten, oder aber ein Verzeichnis abseitiger Gestalten, ein Verzeichnis der Diebe, der Bettler, der Posaunisten, der Verwirrten ohne Ziel, je ein Verzeichnis der Sprachen und kleiner Geschichten, die wir aus der allgemeinen Bewegung zu isolieren vermögen. Von Zeit zu Zeit, während wir so fahren und notieren, höre ich neben mir ein Lachen. Wenn Georges lacht, hört sich das an, als habe er einen Vogel verschluckt, als lache er nur deshalb, weil er Mademoiselle Moreau wieder freilassen wolle. Dann weiß ich, Georges hat etwas gefunden, das er mir abends in irgendeinem Café, wenn wir fertig, wenn Papier und Strom zu Ende sind und unser beider Köpfe so voll, dass sich nichts mehr in ihnen aufbewahren lässt, vortragen wird, – „Auf Krawatte gelb, zehnzwei, lebende Ameise, argentinisch, kreuz und quer. Der Codename Servals war Louviers“, sagt Georges und hebt sein Glas. Fünf Gläser Pastis, fünf Gläser Wasser, – dann sind wir wieder leicht geworden, und weil die Luft warm ist, weil Mai ist, nehmen wir den letzten Überlandzug nach Norden oder den 11er nach Süden, dorthin, wo die Feuernelken blühn, und wenn es endlich Morgen geworden ist, steigen wir um, öffnen die Fenster und fahren nach Westen in unserer Windmaschine spazieren. Der Regen schlägt uns ins Gesicht und wir sehen Gewitter aufsteigen und Schwefel vom Himmel kommen und weißes Licht, das die Landschaft entzündet. So haben wir schon sehr schöne Gedanken über das Feuer gefangen und über das Schlagzeug in diesem gewaltigen Raum, der über uns hängt, einem Raum, dessen zentrales Verzeichnis von nicht menschlichen Maßen ist, sodass wir bald nur schweigen und auf entfernte Menschen schauen, auf Szenen im rasenden Vorüberkommen, auf Filme, die in unseren Hin und Her hastenden Augen derart kurze Filme sind, dass sie einer Fotografie sehr nahe kommen, nicht mehr Film sind und noch nicht ganz unbewegt. Es ist ganz so, als würden wir an einer gewaltigen Aufnahme der Zeit vorüber kommen, an einer Fotografie, deren Gegenwart wir nicht berühren, weil wir nicht aussteigen können, ohne das Leben zu verlieren, weil wir zu schnell, weil wir in einer anderen Zeit sind. — stop / koffertext
im parc jarry
zählmarken No 1 und No 2
sierra : 16.52 — Bei der Behörde für Wortverwertung meldete sich am Telefon eine weibliche Stimme. Die Stimme sprach so leise, dass ich zunächst glaubte, in mein Telefongerät hineinrufen zu müssen, um die Stimme auf der anderen Seite der Leitung erreichen zu können. Worum es denn gehe, wollte man wissen. Ich antwortete, dass es darum gehen würde, dass ich im Moment versuchte zu verstehen, wo genau ich jene kleinen Zählprogrammmaschinen in meine Texte einzubauen habe, damit sie von Ihnen, von der Wortverwertungsbehörde, mit der ich gerade spreche, wahrgenommen und als gültig bewertet werden könnten. Ein Gespräch entwickelte sich. Das Gespräch dauerte fünf Minuten. Im Verlaufe dieses Gespräches wurde meine Stimme leiser und leiser, die Stimme auf der anderen Seite der Leitung lauter und lauter. Jetzt, da das Gespräch oder die Unterhaltung zu einem Ende gekommen ist, meine ich Folgendes verstanden zu haben: Wenn ich einen Text notiere, der eine Gedankenbewegung nachvollzieht, darf diese Gedankenbewegung nicht unterbrochen sein, also plötzlich das Thema wechseln oder den Eindruck vermitteln, als würde ein Teil der Denkbewegung fehlen, also eine durch Entfernung eines Textabschnittes künstliche Unterbrechung erfolgt sein, weswegen es sich nicht mehr um einen Text, also um einen Gedanken handeln würde, sondern um einen zweiten Text, also um einen zweiten Gedanken, der mit ersterem Gedanken in keiner Verbindung stehen würde, weshalb dieser zweite Text eine weitere, eine zweite Zählprogrammmaschine in Form eines Codes benötigen würde, um als eine Einheit wahrgenommen zu werden. Des Weiteren ist mir deutlich geworden, dass ein Gedanke nicht begleitet sein darf, von weiteren Gedanken, die an etwas anderes denken, während sich der erste Gedanke im Hintergrund weiterbewegt, um anderer Stelle wieder hervorzukommen. Ich habe nun zunächst einen kleinen Knoten im Kopf. Fünf Gramm. — stop
brooklyn
schneefliegen
nordpol : 1.15 — Eine bislang unbekannte Fliegengattung soll unlängst in den Bergen Tibets entdeckt worden sein. Es handelt sich um Schneefliegen, die über einen außerordentlich feinen Pelz verfügen. Dieser Pelz nun, man würde in ihm zunächst ein evolutionäres Handicap unter Flugtieren vermuten, ist trotz seiner Dichte von außerordentlicher Leichtigkeit. Es wird berichtet, dass einige der Schneefliegen auf geheimen Wegen nach Europa transportiert worden sind, wo man sie eingehend untersuchte. Sie vermehren sich selbst in gewöhnlichen Kühlschränken bei Licht mit rasender Geschwindigkeit. Wovon sie sich ernähren, ist bisher nicht bekannt, aber dass man ihnen den Pelz vom Leib reißen kann mit äußerst feinen Werkzeugen ist sicher. Über die Fabrikation von Fliegenpelzmänteln wird ernsthaft nachgedacht, über Fliegenpelzmützen, Fliegenpelzhandschuhe und weitere Gegenstände zur Erwärmung menschlicher Existenz. — stop
dampfende ohren
alpha : 6.55 — Ich forsche gern in meinem digitalen Analyseprogramm nach Fragen an Suchmaschinen, die zu meiner Particlesarbeit führten. Merkwürdige, verrückte, poetische Sentenzen sind zu finden. In der vergangenen Woche zum Beispiel folgende: meine schreibmaschine schreibt buchstaben übereinander . kleine rote fliegen in der küche . käfer der auf unserem körper wohnt . lustige geschichten über ohren . ägyptisches frauzeichen mit flügeln . schimpansen im weltall . schlafende elefanten . männer mit kleinen köpfen . ist albert sanchez pinol ein mann . louis’ lichtgeschichte. stop — Über Nacht ist es kalt geworden. An der Straßenbahnhaltestelle beobachte ich einen älteren Herrn, aus dessen Ohren Dampf zu treten scheint. Man könnte sagen, es handelt sich um den ersten rauchenden Kopf, den ich in meinem Leben persönlich gesehen habe. Als ich näher herantrete, erkenne ich, dass sich in den Ohren des dampfenden Herrn je ein Tier befand. Ich fragte, ob ich vielleicht einmal genauer betrachten dürfte, was dort in seinen Ohren existiert. Weil der alte Mann nichts hörte, trug ich mein Anliegen in Zeichensprache vor. Er schien mich zu verstehen und neigte unverzüglich seinen Kopf, sodass ich eine gute Aussicht hatte auf das rechte seiner Ohren. Tatsächlich waren dort Augen und Zangen eines Käfers zu erkennen. Als ich mich näherte, zog sich das Wesen ein wenig in die Tiefe des Ohres zurück, das von weißem flaumigen Haar besetzt war, wie von einem kostbaren Pelz. Der dünne Faden des Käferatems, den ich kurz zuvor beobachtet hatte, war nun gut zu sehen, aber ich konnte nicht eindeutig identifizieren, woher der Atem des Käfers eigentlich kam, wo der Atem, der in der kalten Luft kondensierte, den Käferkörper präzise verließ. Noch ehe ich meine Frage zur Konstruktion des Käfers stellen konnte, war der alte Herr in eine Straßenbahn gestiegen und davongefahren. — Dienstag. — stop.
dos passos’ lesebrille
delta : 22.01 — In dem Moment, da ich beim Augenoptiker meinen Wunsch nach einer Lesebrille vorgetragen hatte, war ich etwas verlegen gewesen, als ob ich plötzlich uralt geworden sei und etwas an Bedeutung verloren hätte. Ich sagte nun zu dem Mann, der hinter dem Tresen stand: Hören Sie, ich benötige eigentlich noch keine Brille. Ich sehe, glaube ich, noch gut nach nah und fern. Aber ich möchte gerne dieses Buch hier lesen. Ich legte John Dos Passos’ Roman Manhattan Transfer auf den Tresen ab, genauer gesagt, Dos Passos’ Roman in der deutschen Taschenbuchausgabe des Rowohlt Verlages, ein Buch, dem sofort anzusehen ist, dass man Papier sparen wollte, eine ehrenwerte Handlung, um Urwälder vor der Vernichtung zu bewahren, das ist denkbar. Man kann sich das so vorstellen: Die Zeichen, die im Körper des Buches zu finden sind, sind äußerst klein geraten, alle Zeilen liegen dicht zueinander und spannen sich tatsächlich fast vollständig vom linken bis zum rechten Rand der Seite. Es ist ein dicht bedrucktes Buch, eine beinahe dunkle Erscheinung. Können Sie mir eventuell mit einer passenden Brille weiterhelfen, fragte ich den Optiker vorsichtig. Wissen Sie, wie ich bereits erwähnte, ich benötige eigentlich noch keine Brille! Der Optiker nahm also das Buch in die Hand, wog es hin und her, öffnete es, warf einen kurzen Blick auf die erste Seite des Romans und lächelte, ich sollte ihm folgen. Im Magazin, – es war ein großes, erhebliches, ja ein bedeutendes Warenlager -, führte er mich Schubladenwände entlang, die bis unter die Decke reichten, es roch sehr gut, etwas nach Alkohol und etwas nach feinen Motorölen. Nach einer Weile blieb er stehen und deutete auf eine der Schubladen. Dort stand, gleichwohl in sehr kleiner Schrift geschrieben: Dos Passos / Manhattan Transfer. Wie er nun die Schublade öffnete, lagen dicht an dicht einige schöne Lesebrillen in verschiedenen Farben und Größen und Formen. Über Dos Passos’ Brillenschublade war ein Fach mit der Beschriftung: Samuel Beckett / Gesammelte Romane zu erkennen. Gleich rechts davon lagerten Ulysses’ Brillen. – stop