tango : 2.28 — Gestern beobachtete ich einen Mann, wie er in einem Buch las. Er saß nahe einem Café im Flughafenterminal 1 auf seinem Koffer, lehnte mit dem Rücken an einer Wand, beide Füße fest auf dem Boden. Außerdem trug er einen breitkrempigen Hut von brauner Farbe auf dem Kopf und ein blaues Hemd, welches derart leuchtete, dass meine Augen bald schmerzten. Aber im Grunde war ich auf den Mann nicht wegen seiner äußeren Erscheinung aufmerksam geworden, es war die Methode, wie er die Erzählung The Price of Salt von Patricia Highsmith studierte. Ehe er nämlich eine neue Seite des Buches zu lesen begann, riss er diese nächste zu lesende Seite aus dem Körper des Buches heraus, führte sie nahe an seine Augen heran, las, drehte die Seite herum, las weiter, um kurz darauf die gelesene Seite in die Tasche seines Jacketts zu stopfen. Das Jackett beulte bereits auf beiden Seiten deutlich, weil das Buch bis zur Hälfte gelesen worden war. Genau genommen zerlegte der Mann das Buch, das er las, in seine papierenen Einzelteile, das Buch verschwand sozusagen unter seinen Händen, das waren übrigens winzige Hände, die Hände eines Kindes. Natürlich kann ich an dieser Stelle keine Aussage darüber machen, ob der Mann mit jedem der Bücher seines Lebens so gehandelt hatte. Wann war es gewesen, als er die erste Seite aus einem Buch entnahm? Und warum? Ich wollte den Mann fragen, aber irgendetwas hinderte mich daran, zu ihm zu gehen. Um kurz nach zwei Uhr stand ich auf und ging nach Hause. — stop
Aus der Wörtersammlung: papier
bambus
marimba : 3.58 — In einem Moment der Stille beobachtete ich vor wenigen Stunden ein Bücherregal, das in meinem Arbeitszimmer steht. Ich meinte, ein Geräusch wahrgenommen zu haben, in etwa hörte sich das so an, als würde man ein Ohr an ein Bambusrohr legen, durch welches Kieselsteine fallen. Zunächst meldete sich das Geräusch links oben unter der Decke, wo sich Bücher befinden, die ich nicht gelesen habe, wartende Bücher, sagen wir, Mahnende. Kurz darauf wanderte das Geräusch in die Mitte des Regals, Christoph Ransmayr klimperte, John Berger, Janet Frame, Antonio Tabucchi. Ich hatte für einige Minuten den Eindruck, das Geräusch oder seine Ursache könnte sich vervielfältigt haben. Wenn nun folgendes geschehen wäre, dass sich die Bücher meines Regals in Funkbücher verwandelten, in Bücher, die nur vorgeben, Bücher von Papier zu sein, in Bücher also, die über Seiten verfügen, die eigentlich Bildschirme sind, die man umblättern kann. Dann wäre denkbar, dass ich jenes typische Geräusch vernommen habe, das in genau dem Moment entsteht, da der Autor eines Buches mittels Funkwellen eine erneuerte Fassung seines Werkes in die Zimmer der Welt entsendet. Ich muss darüber nachdenken, was die Möglichkeit oder die Existenz der Funkbücher bedeuten würde für das Schreiben, für das Aufhören können, für Anfang und Ende einer Geschichte. Und wenn nun Jean Pauls Komet in meinem Zimmer rascheln würde, oder Dantons Tod, Georg Büchner? – Noch zu tun: Regenwörter erfinden. — stop
propellerfeige
delta : 2.38 — Wie man mit einem Stift eine Substanz zu einem Zeichen auf Papier setzt, wird mit dem Skalpell die Atmosphäre des Präpariersaales in einen Körper eingetragen. Zergliedern heißt zunächst, Räume zu schaffen für das Licht. — Oder das Denken. Wie man von Satz zu Satz Räume öffnet zu weiteren Gedanken, die bereits lange Zeit unbemerkt existiert haben könnten. Wörter, die sich wie Antennen in unbekannte Zimmer tasten. Propellerfeige. — stop
luftwesen
india : 0.14 — Kurz nach Mitternacht. Folgendes: Eine Drohne in der Gestalt eines Kolibris stationiert seit wenigen Minuten in einem Abstand von 1,5 Metern vor mir in der Luft. Sie scheint zu beobachten, wie ich gerade über sie notiere. Kurz zuvor war das kleine Wesen in meinem Zimmer herumgeflogen, hatte meinen Kakteentisch untersucht, meine Bücher, das Laternensignallicht, welches ich vom Großvater erbte, auch meine Papiere, Fotografien, Schreibwerkzeuge. Ruckartig verlagerte das Lufttier seine Position von Gegenstand zu Gegenstand. Ich glaube, in den Momenten des Stillstandes wurden Aufnahmen gefertigt, genau in der Art und Weise wie in diesem Moment eine Aufnahme von mir selbst, indem ich auf dem Arbeitssofa sitze und so tue, als ginge mich das alles gar nichts an. Von der Drohne, die ich versucht bin, tatsächlich für einen Kolibrivogel zu halten, war zunächst nichts zu hören gewesen, keinerlei Geräusch, aber nun, seit ein oder zwei Minuten, meine ich einen leise pfeifenden Luftzug zu vernehmen, der von den nicht sichtbaren Flügeln des Luftwesens auszugehen scheint. Diese Flügel bewegen sich so schnell, dass sie nur als eine Unschärfe der Luft wahrzunehmen sind. Ein weiteres, ein helles feines Geräusch ist zu hören, ein Wispern. Dieses Wispern scheint von dem Schnabel des Kolibris herzukommen. Ich habe diesen Schnabel zunächst für eine Attrappe gehalten, jetzt aber halte ich für möglich, dass der Drohnenvogel doch mit diesem Schnabel spricht, also vielleicht mit mir, der ich auf dem Sofa sitze und so tue, als ginge mich das alles gar nichts an. Ich kann natürlich nicht sagen, was er mitteilen möchte. Es ist denkbar, dass vielleicht eine entfernte Stimme aus dem Schnabel zu mir spricht, ja, das ist denkbar. Nun warten wir einmal ab, ob der kleine sprechende Vogel sich mir nähern und vielleicht in eines meiner Ohren sprechen wird. — stop
remington
whiskey : 1.28 — In der vergangenen Nacht träumte ich von einer Schreibmaschine. Diese Schreibmaschine verfügte über ein Band von roter und schwarzer Farbe sowie über einen Satz Hammerzeichen, die sich nur dann bewegten, wenn ich die Tasten mit großer Kraft in das mechanische Getriebe der Maschine drückte. Manchmal, während ich notierte, blieben einzelne der Tasten in der Tiefe hängen, als wollte die Schreibmaschine nicht von dem Zeichen lassen, das sie gerade noch auf das Papier gesetzt hatte. Eine Taste nach der anderen fiel aus, bis ich nur noch das Zeichen M bewegen konnte. Ich erinnere mich, in meinem wirklichen Leben tatsächlich eine Schreibmaschine wie die geträumte Schreibmaschine besessen zu haben. Sie stand lange Zeit auf meinem Schreibtisch, ich hob sie nur selten an, weil sie schwer gewesen war, 10 oder 15 Kilogramm. Es war eine Remington mit einem Farbband, trocken wie namibischer Wüstensand. Da niemand wusste, auf welchem Wege man an ein frisches Farbband gelangen konnte, erzeugte die Schreibmaschine zeitlebens kein sichtbares, aber tastbare Zeichen, und doch tippte ich manchmal auf der Maschine herum, als würde ich etwas aufschreiben, als würde ich üben, lautlose Musik, Gesten, stumme Gedanken. In meinem Traum der vergangenen Nacht wurde die Maschine unter meinen Händen immer kleiner, bis sie zuletzt verschwunden war. Ich habe dann noch etwas weiter geträumt. Ich war in einem U‑Boot unterwegs. Ich fuhr den Mississippi aufwärts. Das Wasser war dunkel. Ich beobachtete leuchtende Rinder, wie sie auf dem Grund des Flusses durch kniehohen Schlamm wateten. — stop
schachtelzimmer
echo : 0.02 — Julio Cortázar erzählt in seinem Kaleidoskop Reise um den Tag in 80 Welten eine Geschichte, in welcher eine Fliege von zentraler Bedeutung ist. Diese Fliege soll auf dem Rücken geflogen sein, als der Autor sie entdeckte, Augen nach unten demzufolge, Beinchen nach oben, ein für Fliegentiere nicht übliches Verhalten. Natürlich musste diese seltsame Fliege unverzüglich näher betrachtet werden. Julio Cortázar erfand deshalb ein Zimmer, in welchem die Fliege fortan existierte, und einen Mann, der die Fliege zu fangen suchte. Wie zu erwarten gewesen, war der Mann in seiner Beweglichkeit viel zu langsam, um die Fliege behutsam, das heißt, ohne Beschädigung, erhaschen zu können. Er bemühte sich redlich, aber die Fliege schien jede seiner Bewegungen vorherzusehen. Nach einer Weile machte sich der Mann daran, das Zimmer, in dem er sich mit der Fliege aufhielt, zu verkleinern. Er faltete Papiere zu Schachteln, die den Flugraum der besonderen Fliege allmählich derart begrenzten, dass sie sich zuletzt kaum noch bewegen konnte. Fliege und Fänger waren in einem lichtlosen Raum innerhalb eines Schachtelzimmers gefangen, daran erinnere ich mich noch gut, oder auch nicht, weil ich diese Geschichte bereits vor langer Zeit gelesen habe, immer wieder von ihr erzählte, weshalb sich die Geschichte verändert, von der ursprünglichen Geschichte entfernt haben könnte. Das Buch, in dem sie sich aufhält, befindet sich zurzeit außer Reichweite, aber ich werde die Geschichte so bald wie möglich überprüfen. Es ist eine kleine Geschichte, die behilflich sein könnte, schnelle Drohnenvögel einzufangen, wenn man ihrer Gattung einmal zufällig begegnen sollte oder von einer Mikrodrohne verfolgt sein würde. Ich glaube, ich habe noch etwas Zeit, das Jahr ist erst wenige Tage alt. — stop
robotslogfile
whiskey : 5.58 — Leroy schrieb mir einen Brief auf Papier. Er notierte: Lieber Louis, seit sechs Wochen nun bin ich online. Man kann mich lesen so oft und so lange man möchte, ohne einen Cent dafür bezahlen zu müssen. Das ist ein angenehmes Gefühl. Ich hatte dieses Gefühl so nicht erwartet. Manchmal sitze ich vor dem Bildschirm und beobachte meinen Text auf demselben Weg, den auch andere nehmen, um mich lesen zu können. Ich bin begeistert davon, dass ich dem Text nicht anzusehen vermag, ob ihn gerade in diesem Moment andere Augen betrachten, weil es doch derselbe Text mit demselben Ursprung ist. Ich werde noch dahinterkommen, bis dahin wundere ich mich weiter. Gestern war Singer zu Besuch, der sich auskennt in digitalen Dingen. Er fragte, ob ich ihm sagen könne, wie viele Menschen denn meine elektrischen Texte besuchten. Ich erzählte ihm, dass ich selbstverständlich Nachricht davon erhalten habe. Ich genieße, sagte ich, die Aufmerksamkeit einiger Leser in Island, Amerika, Togo, Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, China, England, Frankreich, Marokko, Spanien. Manche kommen häufig und lesen, sie kommen stündlich vorbei, auf die Sekunde genau, andere eher selten, als würde sie mich gelesen haben und sofort wieder vergessen. Ich holte uns am Kiosk eine Limonade, während Singer sich mit meinen Logfiles beschäftigte. Als ich zurückkam, hörte ich Singer lachen, in dem Moment genau, da ich die Tür öffnete, hörte ich Singer lachen. Dann hörte er auf, und wir sprachen über Kakteen und ihre Winterblüte, und dass er bald wieder für einige Monate nach Manarola reisen würde, wo es mild sei im Winter. Kurz darauf schlief ich ein. Ich erwachte vom Lärm vieler Stimmen. Auf der Straße liefen Menschen hin und her, es war früher Nachmittag, ich wusste, dass die Nacht für mich zu Ende war. Heute ist also Sonntag. Ich grüße Dich. Dein Leroy. — stop
innenohrmuscheln
echo : 6.22 — Ludwig, der mich gestern Abend besuchte, hatte einen kleinen Rausch mitgebracht, an dem wollte er weiter voran arbeiten. Er hatte darum eine Flasche billigen Cognacs in eine Papiertüte gesteckt, um sie den Abend über an seinem Bauch zu wärmen. Wenn er ab und zu einen Schluck aus der Flasche nahm, machte er seine Augen zu Schlitzen, er konnte dann nicht mehr sehen, obwohl er eigentlich nichts schmecken wollte. Es war ein lustiger Abend, einmal schlief Ludwig ein im Bad, ich weckte ihn und führte ihn zurück in die Küche. Das war gegen 22 Uhr gewesen. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt keine Beweise dafür finden, dass Ludwig mir noch immer zuhörte oder mich überhaupt noch hören konnte. Aber sich selbst schien er noch wahrnehmen zu können. Wörter entgleisten, die Sätze, die seine Geschichten erzählten, waren jedoch mittels Kombination verständlich. Um kurz vor Mitternacht berichtete Ludwig von einer Frau, die er einmal liebte. Sie wohnte lange Zeit in Lissabon, was sie dort machte, wovon sie lebte, wusste Ludwig nicht zu berichten, aber dass sie über besondere Ohren verfügte. In ihren Ohrmuscheln links und rechts sollen sich weitere kleine Ohrmuscheln befinden, exakt in derselben Form angelegt, nur eben kleiner. Aber nicht genug damit, wenn man mit einer Taschenlampe in die Innenohrmuscheln der Frau leuchtete, waren ein weiteres Paar noch kleinerer Ohrmuscheln zu entdecken. Das war eine seltene anatomische Erscheinung. Als ich wissen wollte, wie sich Ludwig implizierte Muschelformationen erklärte, war der verliebte Mann bereits eingeschlafen. Er saß vor meinem Küchentisch, die Flasche war geleert, der Kopf auf seine schmale Brust gesunken, so schlief er, ohne vom Stuhl zu fallen. Als ich am frühen Morgen die Küche betrat, saß er noch immer in dieser Haltung am Tisch. Beinahe hätte ich ihn für ein Kunstwerk gehalten, für eine bekleidete Gipsfigur: Trinkender Freund. Aber Ludwig atmete. Der Atem war flach. Es war ein Atem, der gerade noch zum Leben reichte. Ich musste Ludwig wecken, ich musste ihn wecken, um nicht schuldig zu werden. – Guten Morgen. Es ist Montag. — stop
analog
echo : 22.58 — In dem unterirdisch im Verborgenen liegenden Saal, von dem ich berichte, arbeiten 5756 Menschen. Gerade eben hat die Nachtschicht begonnen. Es ist feucht und warm, 36° Celsius, feiner warmer Regen hängt in der Luft, auch ein Rauschen vielfältiger Stimmen, die flüstern. Man sitzt vor kleinen Tischen, welche mit dem Boden verschraubt worden sind, wie auch die Stühle, auf welchen man arbeitet in allen möglichen Positionen. Über jedem der 5756 Tische befindet sich ein Körbchen, dort ruhen Briefe, die scheinbar endlos von der Decke wie vom Himmel fallen. Beobachtet man nun einen der Tische genauer und für eine gewisse Zeit, wird man bemerken, dass es sich bei der Arbeit der Menschen, die sich im Saal eingefunden haben, um die Arbeit des Brieföffnens handelt, keine körperlich schwere Arbeit, weil die Luft des Saales so feucht ist, dass sich die Briefumschläge in den Händen der arbeitenden Menschen wie von selbst öffnen wollen. Kaum liegen die Eingeweide eines der Briefe flach auf dem Tisch, werden sie fotografiert von allen Seiten her, um sodann wieder in ihren Umschlag gelegt und verschlossen zu werden. Eine Wolke von Klebstoff tritt zu diesem Zweck aus einer Düse, die sich je an der rechten Seite der Tische befindet, eine Art Rüssel, aus welchem kurz darauf ein heißer Luftstrom pfeift. Prüfende Blicke, ist alles so gefaltet und beschriftet wie vor der Öffnung gewesen? Und schon fällt der nächste Brief auf den Tisch, wird geöffnet, belichtet, verschlossen, in Form gepresst, Minute um Minute, ein Brief und noch ein Brief, gelesen wird an anderer Stelle, es ist viel zu warm hier, um noch studieren und nachdenken zu können, rasende Pulse. Da und dort fallen Sand, fallen glitzernde Papierherzen aus den geöffneten Kuverts, Schlüssel, Gebetsketten, Banknoten, Federn, digitale Speicherkärtchen, auf welchen, faszinierend, weitere geheime Schriftstücke zu entdecken sind. – stop / Versuchsanordnung
unter salzbäumen
tango : 2.02 — Im Traum sitze ich mit einem alten Mann an einem Tisch. Große Hitze auch im Schatten, den Salzbäume spenden. Wir trinken Kaffee und Wasser, das süß ist wie Honig. Der alte Mann trägt kakifarbene Shorts, seine Haut ist dunkel, gebrannt wie Kaffee, hellgrüne Augen. Eine Erscheinung, zahnlos, die nicht spricht, Haut und Knochen, aber ein Wesen von enormer Ausdauer. Ich höre, der alte Mann soll seit Jahren bereits vor diesem Tisch sitzen, ohne je aufgestanden zu sein. Papiere liegen auf dem Tisch und auf dem Boden. Sie sind beschriftet, kaum leserliche Zeichen. Vor dem Mann ruht ein kleines, schwer atmendes Notebook. Einmal blickt er auf den Bildschirm seiner Maschine, dann wieder auf ein Blatt Papier, das vor ihm liegt, und schreibt. Ameisen von Metall irren im Sand herum. Es gibt keinen Ton im Traum, wenn ich spreche, vernehme ich weder Gedanken noch Stimme. – stop