Aus der Wörtersammlung: rinne

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wintermütze

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kili­man­dscha­ro : 8.55 — Seit Tagen fra­ge ich mich, wel­chen Anblick ich dar­ge­bo­ten haben könn­te, nar­ko­ti­siert, ich, Lou­is, über vier Stun­den Zeit im chir­ur­gi­schen Saal auf einem Tisch. Habe ich gespro­chen? Habe ich mich aus eige­ner Kraft bewegt? Wenn ich sage: Mei­ne schla­fen­den Augen, spre­che ich von Augen, die ich nie gese­hen habe. Kann mich an den Moment des Schla­fens nicht erin­nern, als ob die­ser Moment nie exis­tier­te. Möch­te bald mei­nen, unter Nar­ko­se unsicht­bar gewor­den zu sein. Statt­des­sen war ich sicht­bar, wie ich zuvor nie sicht­bar gewe­sen bin. Mein Ellen­bo­gen, von meh­re­ren Sei­ten her geöff­net, aus­ge­leuch­tet, dar­ge­legt. Einer der Chir­ur­gen, die ope­rier­ten, erzähl­te, man habe, sobald Kap­sel, Bän­der, Mus­keln, Seh­nen sor­tiert und genäht wor­den waren, alle übli­chen Bewe­gun­gen eines Ellen­bo­gen­ge­lenks erfolg­reich aus­pro­biert, ich sol­le mir kei­ne Gedan­ken machen, ich kön­ne bald wie­der schrei­ben von Hand, essen, mei­ne Win­ter­müt­ze auf­set­zen. Im Janu­ar spä­tes­tens das beid­hän­di­ge Wer­fen schwe­rer Kof­fer üben. — stop

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PRÄPARIERSAAL : cerebum

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nord­pol : 8.02 — TONAUFNAHME / Mai 2005 — Yomo : Als wir das Gehirn ent­nah­men, haben wir uns zunächst kei­ne Gedan­ken dar­über gemacht, was für ein fas­zi­nie­ren­des Teil des mensch­li­chen Kör­pers wir gera­de in der Hand hiel­ten. Wir hat­ten das näm­lich so ver­stan­den, dass die Stu­die­ren­den das Gehirn selbst ent­neh­men dür­fen und wir haben das dann auch gemacht. Aber bald haben wir fest­ge­stellt, dass die Assis­ten­ten, nicht die Stu­die­ren­den, das an den ande­ren Tischen mach­ten. Wir hat­ten bei der Ent­nah­me einen Feh­ler gemacht und das Gehirn an der fal­schen Stel­le durch­trennt. Wir waren sofort damit beschäf­tigt, zu über­le­gen, was wir jetzt machen sol­len, um kei­nen Ärger zu bekom­men. Wir haben des­halb in die­ser Situa­ti­on nicht so sehr an das Gehirn gedacht. Zum Glück kam dann aber eine net­te Assis­ten­tin und hat das Gehirn voll­stän­dig ent­nom­men, ohne uns wei­ter Vor­wür­fe zu machen. Sie fand unse­re Art der Ent­nah­me fast noch bes­ser als die vor­ge­ge­be­ne Metho­de, da man vie­le Struk­tu­ren sehen konn­te, die wir anders nicht gese­hen hät­ten. Wir waren auf jeden Fall ziem­lich froh, dass wir kei­nen Ärger bekom­men haben. Ich habe erst etwas spä­ter ein beson­de­res Gefühl gespürt, als ich das Gehirn in den Hän­den hat­te. Viel­leicht lag das auch dar­an, dass wir uns am Anfang auch noch gar nicht so genau mit dem Gehirn aus­kann­ten. Ein paar Din­ge über das Gehirn wuss­te ich zwar schon aus der Schu­le, aber wie genau es auf­ge­baut ist, aus wie vie­len Struk­tu­ren das Gehirn besteht und was man alles an einem Gehirn sehen kann, das habe ich erst in der Ana­to­mie gelernt. So wur­de das Gehirn im Lauf Zeit zu einem immer inter­es­san­te­ren und fas­zi­nie­ren­de­ren Kör­per­teil für mich. An dem Tag, als wir die Sul­ci mit bun­ten Fäden aus­le­gen soll­ten, hat­te ich das Gehirn dann län­ger in der Hand. Das ist jener Tag, an den ich mich beson­ders inten­siv erin­nern kann, da ich ein beson­de­res Gefühl hat­te, als ich das Gehirn in der Hand gehal­ten habe. Ich war ein wenig glück­lich und stolz auch, denn wer hat schon die Mög­lich­keit ein Gehirn in der Hand zu hal­ten. Für mich war kaum vor­stell­bar, dass die­se Struk­tur in mei­ner Hand ein­mal so vie­le und wich­ti­ge Auf­ga­ben erfüllt hatte.

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bojen

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romeo : 0.03 — Für die­sen Tag, es ist der 4. Novem­ber, habe ich mir vor­ge­nom­men, kein Wort auf­zu­schrei­ben, son­dern alles das, was ich mir den­ke, alles was zu mir her­ein­fällt, im Kopf auf­zu­be­wah­ren. Ich soll­te unver­züg­lich eine Metho­de ent­wi­ckeln, jeden Gedan­ken oder jede Erin­ne­rung, die mir wich­tig zu sein scheint, mit einer Boje zu ver­se­hen, die ich wie­der­fin­den wer­de und damit den Gedan­ken, der an ihr befes­tigt ist. – Null Uhr und fünf Minu­ten: Ich schal­te jetzt die Schreib­ma­schi­ne aus. — stop

ping

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fasankino

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tan­go : 0.02 — Ges­tern, Diens­tag, ist Ilse Aichin­ger 90 Jah­re alt gewor­den. Ich erin­ner­te mich an einen Text, den ich vor eini­ger Zeit bereits auf­ge­schrie­ben habe. Der Text scheint noch immer nah zu sein, wes­halb ich ihn an die­ser Stel­le wie­der­ho­len möch­te. Ich betrach­te­te damals, als ich den Text notier­te, eine Film­do­ku­men­ta­ti­on. Es war ein frü­her Mor­gen und ich fuhr in einem Zug. Immer wie­der spul­te ich, Zei­chen für Zei­chen ver­mer­kend, was ich hör­te, den Film zurück, um kein Wort des gespro­che­nen Tex­tes zu ver­lie­ren oder zu ver­dre­hen. Und so kam es, dass auch Ilse Aichin­ger, von einem unru­hi­gen Gelei­se geschüt­telt, immer wie­der auf dem hand­tel­ler­gro­ßen Bild­schirm unter spa­zie­ren­den Men­schen vor mir auf­tauch­te, indem sie von ihrer Kino­lei­den­schaft erzähl­te: Wenn ich mich recht erin­ne­re, hör­te ich in mei­ner frü­hen Kind­heit eine älte­re Frau zu einer ande­ren sagen: – Es soll jetzt Ton­fil­me geben. – Das war ein rät­sel­haf­ter Satz. Und es war einer von den ganz weni­gen rät­sel­haf­ten Sät­zen der Erwach­se­nen, die mich nicht los­lie­ßen. Eini­ge Jah­re spä­ter, ich ging schon zur Schu­le, sag­te die jüngs­te Schwes­ter mei­ner Mut­ter, wenn wir an den Sonn­ta­gen zu mei­ner Groß­mutter gin­gen, bei der sie leb­te, fast regel­mä­ßig am spä­ten Nach­mit­tag: > Ich glau­be, ich gehe jetzt ins Kino. < Sie war Pia­nis­tin, unter­rich­te­te für kur­ze Zeit an der Musik­aka­de­mie in Wien und übte lang und lei­den­schaft­lich, aber sie unter­brach alles, um in ihr Kino zu gehen. Ihr Kino war das Fasan­ki­no. Es war fast immer das Fasan­ki­no, in das sie ging. Sie kam frös­telnd nach Hau­se und erklär­te meis­tens, es hät­te gezo­gen und man kön­ne sich den Tod holen. Aber sie ließ ihr Fasan­ki­no nicht, und sie hol­te sich dort nicht den Tod. Den hol­te sie sich, und der hol­te sie gemein­sam mit mei­ner Groß­mutter im Ver­nich­tungs­la­ger Minsk, in das sie depor­tiert wur­den. Es wäre bes­ser gewe­sen, sie hät­te ihn sich im Fasan­ki­no geholt, denn sie lieb­te es. Aber man hat kei­ne Wahl, was ich nicht nur bezüg­lich des Todes, son­dern auch bezüg­lich der Aus­wahl der Fil­me zuwei­len bedaue­re, wenn mei­ne liebs­ten Fil­me plötz­lich aus den Kino­pro­gram­men ver­schwin­den. Obwohl ich es ger­ne wäre, bin ich lei­der kei­ne Cine­as­tin, son­dern gehe sechs oder sie­ben­mal in den­sel­ben Film, wenn in die­sem Film Schnee fällt oder wenn die Land­schaf­ten von Eng­land oder Neu­eng­land auf­tau­chen oder die von Frank­reich, denen ich fast eben­so zuge­neigt bin. Ilse Aichin­ger: Mitschrift

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kapselbäume

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lima : 0.03 – Fens­ter von opa­k­em Licht. Bäu­me drau­ßen im Park vor dem Prä­pa­rier­saal selbst nicht zu sehen, nur ihre Schat­ten, die sich im Wind beweg­ten. Der Ein­druck, jene Schat­ten­bäu­me han­del­ten aus eige­ner Kraft, Mus­keln unter der Rin­de, Seh­nen, Gelen­ke, Kap­seln, Bän­der. Sche­men zwei­er Eich­hörn­chen hüpf­ten von Ast zu Ast. Ich beob­ach­te­te eine Idee, wäh­rend ich über Kopf­hö­rer die Qua­li­tät einer Ton­band­auf­nah­me kon­trol­lier­te. Eine Stim­me. Die Stim­me eines jun­gen Man­nes. Er sag­te: Ich hielt im Traum einen Kehl­kopf in der Hand, der lei­se pfiff. Ich kann mich an ein paar sehr schrä­ge Töne erin­nern, an eine vibrie­ren­de Bewe­gung auf mei­ner Hand­flä­che, als ob dort ein Fal­ter sehr rasch mit sei­nen Flü­geln auf und ab schla­gen wür­de. : pau­se 2 sec : Manch­mal habe ich am hell­lich­ten Tag Vor­stel­lun­gen, Tag­träu­me­rei, mei­ne Hän­de, zum Bei­spiel, auf dem Lenk­rad mei­nes Autos, ohne Haut.  –  Sams­tag. Wol­ken­lo­ser Him­mel. Count Basie. — stop

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sekundenzeit

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india : 10.01 — Ich habe eine lus­ti­ge Geschich­te mit mir selbst erlebt. Ich stand in einem Gar­ten am spä­ten Abend und ver­such­te, indem ich mich kon­zen­trier­te, die Umris­se mei­nes Kör­pers wahr­zu­neh­men, nicht die Umris­se einer bestimm­ten, einer aus­ge­wähl­ten Regi­on mei­nes Kör­pers, son­dern die Umris­se mei­nes Kör­pers ins­ge­samt. Plötz­lich mein­te ich, mich in einem Film zu befin­den, einem Film, der sich sehr lang­sam beweg­te, mit einem Bild pro Jahr­hun­dert, sagen wir, sodass ich mich nicht erin­nern konn­te, über­haupt schon ein­mal in Bewe­gung gewe­sen zu sein. Auch der wol­ken­lo­se Him­mel über mir hat­te sich noch nie zuvor bewegt, und die gefro­re­nen Blät­ter der Bäu­me und ihre Nacht­schat­ten. Wie ich in die­ser Wei­se ver­harr­te und mich in die Vor­stel­lung der Bewe­gungs­lo­sig­keit ver­tief­te, für einen Moment der Ein­druck, Minu­ten­zeit wahr­neh­men zu kön­nen. — stop

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segelfalterschatten

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romeo : 8.15 — In einem Pro­to­koll der Goo­g­le­such­ma­schi­ne fin­de ich den Hin­weis, dass ich am 3. Mai 2007 nach einer Foto­gra­fie des Dich­ters Julio Cor­ta­zar gesucht haben soll, dann, erfolg­los, nach einem Segel­fal­ter­schat­ten der Gat­tung Iphicli­des poda­li­ri­us 5, nach Spu­ren Patrick Modia­nos, nach Schi­mä­ren und Match­box­au­to­mo­bi­len. Kei­ne Erin­ne­rung an den Aus­gangs­punkt mei­ner Suche. — stop

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naturbeobachtung

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india : 8.12 — Sagen wir so, sagen wir: Savan­ne. Sagen wir: Abend. Sagen wir: vor­schrift­li­che Zeit. Dort – zwei Män­ner. Der eine der bei­den Män­ner liegt auf dem Rücken. Die­ser Mann, von Staub bedeckt, – ein toter Mann. Sein Bauch ist geöff­net. Viel­leicht ist der Mann gestürzt, viel­leicht wur­de der Mann von einem Raub­tier ange­fal­len. Der zwei­te vor­ge­stell­te Mann kniet vor dem Toten und betrach­tet die Wun­de. Nun zieht die­ser Mann sei­ne Waf­fe und hebt einen Lap­pen Haut zur Sei­te. Er setzt das Werk­zeug in der Wun­de an und schnei­det so lan­ge in die Mus­ku­la­tur des Bau­ches, bis die Bauch­höh­le des Toten offen liegt. Eine Ges­te der Unter­su­chung, eine Ges­te des Ein­drin­gens, der Inva­si­on, eine vor­sich­ti­ge Bewe­gung ohne ein bestimm­tes Ziel. Da ist der Wunsch, Tie­fe zu gewin­nen, Unsicht­ba­res, Ver­deck­tes, Unbe­kann­tes sicht­bar zu machen. Viel­leicht wird sich die­ser Mann zunächst von dem Toten ent­fer­nen, viel­leicht des­halb, weil eine wei­te­re Raub­kat­ze sich nähert. Viel­leicht wird der Mann, aus der Erin­ne­rung her­aus, den Umriss eines Man­nes, der tot ist, in eine Fels­wand rit­zen. Viel­leicht wird er in die­sen Umriss eines Man­nes, der steht oder liegt, die Form eines Organs ein­tra­gen, – genaue Lage, exak­te Grö­ße. Die Abbil­dung eines Organs, für des­sen Exis­tenz zum Zeit­punkt der Ent­ste­hung weder ein Zei­chen noch ein Begriff erfun­den wur­de. — stop

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schnecken

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echo

~ : oe som
to : louis
sub­ject : SCHNECKEN
date : sept 24 11 7.12 p.m.

Frü­her Abend, ruhi­ge See. Möwen, die unser Schiff wie eine Insel bewoh­nen, krei­sen dicht über dem Was­ser. Gera­de eben mel­de­te Noe, zwei Schne­cken näher­ten sich sei­nem Gesicht. Er müs­se jetzt vor­sich­tig sein, um sie nicht zu ver­let­zen, soll­ten sie in sei­nen Mund gelan­gen. Noe wohl­auf. Seit zwei Wochen sen­den wir Jazz, wann immer Noe Jazz zu hören wünscht. Wir haben zunächst Char­lie Par­ker gela­den, das mach­te ihn ner­vös, weil er sich nicht bewe­gen kann im Tau­cher­an­zug, im Rhyth­mus, der schnell geht, ruhe­los. Wir pro­ben, for­schen nach sanf­te­ren Takes. Er kön­ne, das sei neu, berich­tet Noe, wenn er das Wort Regen lese, sich das Geräusch des Regens nicht län­ger in Erin­ne­rung rufen, als wür­de sich das Wort Regen nach und nach ent­lee­ren. Wir haben ver­spro­chen, Regen für ihn auf­zu­zeich­nen und in die Tie­fe zu schi­cken. Ges­tern, als wir nachts allei­ne mit­ein­an­der spre­chen konn­ten, wünsch­te Noe, dass ich ihm das Schiff beschrei­be, unter wel­chem er schwebt. Er sei glück­lich, sag­te Noe, aber er seh­ne sich nach einer Uhr. — Dein OE SOM

gesen­det am
24.09.2011
1143 zeichen

oe som to louis »

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mantelstille

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ubu : 15.07 – Vor weni­gen Tagen habe ich einen Spa­zier­gang durch die Stadt unter­nom­men am hell­lich­ten Tag. Alles beweg­te sich, auch die Stra­ßen, Häu­ser, Brü­cken beweg­ten sich unter den Hän­den der Arbei­ter und ihren häm­mern­den Werk­zeu­gen. In einem Park wur­den Bäu­me gefällt, bil­li­ge Jazz­mu­sik in Waren­häu­sern, Stra­ßen­fe­ger trie­ben mit Wind­ma­schi­nen Blät­ter und Papie­re vor sich her, unauf­hör­li­cher Lärm von Ecke zu Ecke. Plötz­lich, so im Gehen, ver­such­te ich mir Stil­le vor­zu­stel­len. Ich dach­te, dass ich, wenn ich den Ein­druck von Stil­le erin­nern könn­te, den Lärm um mich her­um ver­ges­sen könn­te, sozu­sa­gen Nicht­hö­ren, weil das eigent­li­che Echo­ge­räusch des Lärms, das schmerzt, im Kopf ent­steht, ein Geräusch, das ich hoff­te, mit einer Idee von Ruhe umman­teln zu kön­nen. Es gab kein Ent­rin­nen. Ich muss das wei­ter üben. — stop
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