tango : 0.00 — Ein Bildschirmsaal, groß wie eine Turnhalle. Vor dem Monitor No 561 sitzt ein Mann und tippt mit seinem rechten Zeigefinger Passagen aus Italo Calvino’s Bändchen Herr Palomar in eine E‑Mailbox: In diesem Spätherbst gibt es in Rom etwas Ungewöhnliches zu sehen, nämlich den Himmel voller Vögel. Zeichen um Zeichen arbeitet sich der Mann vorwärts. Zunächst wirft er einen Blick auf das mit linker Hand gebändigte Buch, dann einen Blick vorwärts ins Licht, darauf folgt ein weiteres elektrisches Zeichen, ein feines, vielleicht von einer Feder wiedergegebenes Geräusch unter dem Rauschen tausender Federn, tausender Fingerwerkzeuge, die Text erzeugen, Text versenden, flüchtiges wie Rauch. — Einmal dort für eine Minute die Zeit anhalten. Lesen, was geschrieben wurde, lesen, was auf den Bildschirmen gerade noch sichtbar ist. Vielleicht auch die Nachricht, dass der ehemalige Vorsitzende des chinesischen P. E. N., LIU XIABO, Mitunterzeichner der Charter 2008, im Dezember 2008 bereits verhaftet, noch immer verschwunden ist. Oder eine kurze Geschichte, die von der Journalistin LYDIA CACHO RIBEIRO erzählt, deren Leben akut bedroht wird, weil sie in Mexiko gegen Handel mit Frauen kämpft. — stop
Aus der Wörtersammlung: sichtbar
licht
india : 10.02 — Da war ein Buch vor langer Zeit, ein Buch, das Thomas Alva Edisons Leben erzählte. In diesem Buch, ich seh das noch genau vor mir, wurde das elektrische Licht erfunden. Zunächst machte man einen gläsernen Behälter, der glühte und flüssig war und heiß, denn die Männer, die an ihm arbeiteten, trugen kräftige Handschuhe, auch ihre Gesichter waren mit Tüchern verbunden. Man konnte das Glas, so flüssig war es unter dem Feuer geworden, wie heiße Schokolade von einer Tasse in eine andere gießen. Ich habe diese Zeichnung als Junge stundenlang betrachtet und erzählt, was dort für mich zu sehen war. Seither ist alles Licht, vor allem dann, wenn es warm, goldfarben, ja, wenn es sichtbar ist, flüssig und von Schokolade.
papierhaut
alpha : 18.07 — Blätterte in Janet Frames autobiografischer Erzählung Ein Engel an meiner Tafel. Blitzartig, nach Jahrzehnten des Lesens, von einer Sekunde zur anderen Sekunde bemerkt, dass Texte über sichtbare Strukturen, dass sie über Unterbrechungen ihrer Zeichenketten verfügen, dass Kapitel oder Absätze sie zerlegen, dass sie also portioniert sind, dass sie inselweise auf einer Papierhaut von Stille schwimmen. — stop
bellevue
ulysses : 6.08 — Vor Jahren einmal entdeckte ich nach stundenlanger Suche in den Archiven der Bayerischen Staatsbibliothek eine Fotografie auf einem Mikrofilmstreifen und ich wusste sofort, dass ich dieses Lichtbild besitzen musste. Ich bat eine Bibliothekarin, aus dem Material das Beste herauszuholen, höchste Auflösung, weswegen ich bald einen kleinen Stapel Papiers entgegennehmen konnte, den ich im Arbeitszimmer an einer Wand zum Bild zurück sortierte, zur Ansicht einer Straße des Jahres 1934 präzise, einer Straße nahe des Bellevue Hospitals zu New York. Staubige Bäume, eilende Menschenschatten, die Silhouette einer alten, in den Knochen gebeugten Frau, der Wagen eines Eisverkäufers, rostige Hydranten, die spröde Steinhaut der Straße, zwei Vögel unbekannter Gattung, Spuren von Hitze, und ich erinnere mich noch gut, dass ich eine Zeile von links nach rechts auf das Papier notierte: Diese Straße könnte Malcolm Lowry überquert haben, an einem Tag vielleicht, als er sich auf den Weg machte, seinem Körper den Alkohol zu entziehen. Und weil ich schon einmal damit begonnen hatte, das Bild zu verfeinern, zeichnete ich in Worten weitere Substanzen auf das Papier, Unsichtbares oder Mögliches. Einen Schuh notierte ich westwärts: Hier flüchtet Jan Gabriel, weil sie Mr. Lowrys Liebe nicht länger glauben konnte. Da lag ein Notizbuch im Schatten eines Baumes und ich sagte: Dieses Notizbuch wird Malcolm Lowry finden von Zeit zu Zeit, er wird es aufheben und mit zitternden Händen in seine Hosentasche stecken. Schon segelten fiebernde Wale über den East River, der zwischen zwei Häusern schimmerte, ein Schwarm irrer Bienen tropfte von einer Fensterbank, und da waren noch zwei Mädchen, barfuß, – oder trugen sie doch Strümpfe, doch Schuhe? — sie spielten Himmel und Hölle, ihre fröhlichen Stimmen. Ich gestehe, dass Daisy und Violet nicht damals, sondern in dieser letzten Stunde einer heiteren Arbeitsnacht ins Bild gekommen sind. — stop
nachtzeppelin
echo : 2.18 — Ein Zeppelinkäfer, seltsames Wesen, schwebte kurz nach 1 Uhr heute Nacht eine schnurgerade, eine unsichtbare Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. — Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. — Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit acht recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. – Guten Morgen! Heute ist Samstag. Leichter Regen vielleicht. — stop
mrs. callas zählt schneeflocken
marimba : 0.01 — Wenn Mrs. Callas Schneeflocken zählt, will sie jede Flocke mit ihren Zeigefingern berühren. Aus der Entfernung betrachtet, könnte man dann meinen, Mrs. Callas würde sich mit nicht sichtbaren Engeln unterhalten, oder mit Engeln, die so klein sind, dass sie für das Licht nicht ins Gewicht fallen. Ja, wenn Mrs. Callas Schnee zu zählen wünscht, spricht sie mit ihren Händen mit der Luft. Sie ist sehr schnell in dieser Bewegung des Sprechens und sie ist glücklich, habe ich den Eindruck, ein Mädchen, wie sie am kleinen See des Palmengartens auf Zehenspitzen steht und so herzlich lacht, dass die Reiher angeflogen kommen, die eigentlich längst schon nach Afrika abgereist sein sollten. Ich glaube, flüstert sie, jetzt habe ich den Überblick verloren. Wir sind dann noch herumspaziert zwei Stunden und haben diskutiert, was Mrs. Callas an Bord der Seatown gern tragen würde, etwas Leichtes natürlich, wegen der schwülen Hitze, die zu erwarten sein wird, weil wir uns das so ausgedacht haben von Zeit zu Zeit, das Inventar einer Welt, die eigentlich nicht existiert. — stop
yanuk : fröhliche weihnachten
~ : yanuk le to : louis
subject : FRÖHLICHE WEIHNACHTEN
date : dez 23 08 6.55 a.m.
In diesen Minuten, Mr. Louis, will ich sehr leise und behutsam von einer aufregenden Beobachtung berichten. Du musst wissen, heute Morgen, als ich auf Höhe 385 schlaftrunken mein Zelt verließ, hatte ich sofort bemerkt, dass während der Nacht irgendetwas geschehen sein musste, etwas Seltsames, etwas, das meine kleinen Affenfreunde beunruhigte. Sie lagen nicht, wie üblich, vor sich hin dämmernd lose auf dem hölzernen Boden herum, sondern dicht aneinander gedrängt und bebten, als würden sie frieren. Alle sahen sie mit ihren zitronengelben Augen in ein und dieselbe Richtung, starrten zum Stamm eines benachbarten Baumes hin, ein Bündel furchtsamer oder vielleicht staunender Blicke, das den schmalen, vollkommen unbekleideten Körper eines Mädchens betastete, der nur wenige Meter von uns entfernt über der Tiefe hing. Ich hatte natürlich zunächst den Gedanken, dass das vor mir baumelnde Mädchen nur eine Erscheinung gewesen war, vielleicht ein Traum oder die Spur eines Traumes, die in einen wirklichen Tag hinüberreichte. Beunruhigt wie meine Freunde, begann ich deshalb zunächst mit einer Kurbel Strom für meine Schreibmaschine zu erzeugen. Eine kontemplative Bewegung, eine, die ich auch im Schlaf verrichten könnte. Während ich so arbeitete, hörte ich bald ein menschliches Lachen. Ja, Sie lesen ganz richtig, Mr. Louis, das Mädchen lachte, ein feines, helles Lachen war zu hören, und die Affen fauchten und wurden so flach, als wollten sie spurlos verschwinden im warmen Holz oder sonst wohin, ganz unsichtbar werden. Wie sich doch alle vertrauten Geräusche verändern, sobald unerwartete Dinge geschehen. Ich hörte meine eigene Stimme, wie sie sagte, das ist unglaublich, das ist ganz unglaublich, und ich hörte auf zu kurbeln und sah dem Mädchen in die Augen, und sofort klappte sie ihre Augen zu. Ich glaube, sie schläft jetzt, während ich diese Sätze so behutsam schreibe, wie ich nur kann, um das Mädchen nicht zu wecken. Ja, stellen Sie sich vor, Mr. Louis, sie scheint tatsächlich tief und fest zu schlafen, während sie den Ast, der sie trägt, mit ihrer linken Hand umfasst. Die rechte Hand liegt flach auf ihrem Bauch, einem muskulösen Bauch von hellem Schein, opak, als würde ein Teil des Sonnenlichts sich im Körper des Mädchens verfangen und weiter leuchten, von innen heraus weiter leuchten. Wenn sie nur nicht loslassen wird in dieser Höhe! Kein Haar auf dem Körper des Mädchens zu sehen. Das ist natürlich seltsam und ich weiß noch nicht genau, warum das so ist. Ich will Dir, Mr. Louis, an dieser Stelle meine herzlichen Weihnachtsgrüße übermitteln aus meinen tropischen Räumen. Und so mache ich das jetzt, ehe ich einen ersten Versuch unternehmen werde, mit dem Mädchen ein Gespräch zu führen. Vielleicht werde ich ihr meine Blütenzeichnungen zeigen, die ich während der vergangenen Tage sammelte. Fröhliche Weihnachten! Cucurrucu – Yanuk
eingefangen 6.58 UTC 2882 Zeichen
pupille
olimambo : 8.00 — Anatomische Wörter des Abends: Regenbogenhaut Aequator Kammerwasser. Dann Morgenspaziergang. Eine Gruppe Eichhörnchen jagt um 6 Uhr Straßenbahngeleise auf und ab. Dicht kommen sie heran, sind ohne jede Scheu, als ob ich eine vertraute Erscheinung wäre oder unsichtbar. — stop
geraldine : walfisch
~ : geraldine
to : louis
subject : WALFISCHE
Ich habe das Mittagessen verschlafen. Vormittags war ich schon auf dem Hauptdeck, schönstes Wetter, keine Wolke am Himmel, das Meer ganz ruhig. Papa hat mich hochgetragen, es ist anstrengend für ihn, obwohl er nicht sehr alt ist, aber ich bin kein leichtes Mädchen. Papa sagte, man habe ihm von Walen erzählt, die auf dem Radarschirm sichtbar gewesen seien. Es ist also möglich, dass ich heute Wale sehen werde. Merkwürdig, ich sage immer Wale, aber ich denke Walfische. Und so wartete ich auf die Walfische und während ich wartete, bin ich eingeschlafen. Es war sehr warm geworden unter der Decke, die Papa über mich gebreitet hatte. Als ich aufwachte, war das Mittagessen längst vorbei und der junge Mann, der Stewart, von dem ich Ihnen schon geschrieben habe, saß neben meiner Liege auf dem Boden. Er hatte ein Fernglas dabei. Ich glaube, er hatte das Fernglas für mich mitgebracht. Ich habe zuerst noch so getan, als würde ich schlafen, und habe ihn mir angeschaut, Sie verstehen, Mr. Louis, Sehschlitzaugen. Er ist hübsch. Er mag die Sonne. Er mag die Sonne sehr. Und fast bin ich mir sicher, dass er mich wie die Sonne mag. Oft ist er in meiner Nähe. Wenn er nur nicht immer so traurig schauen würde. Mal sieht er mich verliebt an, dann wieder, als würde es regnen in seinem Herzen. Vielleicht weiß er, dass ich sehr krank bin, ja, vielleicht weiß er das, und trotzdem ist er verliebt. Das wär schön, wenn er sich in mich verlieben könnte, obwohl er weiß, dass ich sehr krank bin. Ich habe mir oft gedacht, dass ich alleine bin, einsam, weil die jungen Männer mit einem kranken Mädchen keine Liebe haben wollen, obwohl ich ein schönes Mädchen bin. Oh, wie glücklich wäre ich, wenn er alles von mir wüsste. Ich müsste nichts verbergen. Wale haben wir bislang keine gesehen. Vielleicht später, vielleicht am Abend. – Ihre Geraldine auf hoher See
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 16.11.2008
22.27 MEZ
nehmen wir einmal an …
foxtrott : 7.28 — Nehmen wir einmal an, ich würde gefragt, ob ich vielleicht über ein weiteres Auge verfügen möchte, ein wirkliches drittes Auge, ein Auge für sich, ein Auge, mit dem ich in die Welt hinausschauen könnte, was wäre zu tun? – Ruhe bewahren! – Nachdenken! – Antworten! – Sehr bald antworten, jawohl ja, das wäre ein feines Geschenk, dieses Auge würde ich sehr gerne und sofort entgegennehmen. Natürlich würde das nicht so leicht sein, ich meine, die Übergabe eines weiteren Auges an meinen bereits existierenden Körper, wie man sich das vielleicht vorstellen mag, nein, nein, das wäre sicher eine außerordentlich komplizierte Geschichte. Ein geeigneter Ort würde zu finden sein, an dem das brandneue Sinnesorgan an meinem Körper oder in meinem Körper montiert werden könnte, und ich müsste mich vielleicht zunächst entscheiden, welcher Art das Auge sein sollte, ein großes, strahlendes Schmuckauge beispielsweise, oder ein eher kleines, kaum sichtbares Auge, ein geheimes Auge, sagen wir, um unbemerkt die Welt um mich herum untersuchen zu können. An diesem schönen Nebelmorgen nun, ich bin noch nicht ganz wach geworden, würde ich Folgendes fragen: Ist es eventuell möglich, das Auge rechter Hand in den mittleren Fingerknöchel nahe dem Handrücken einzusetzen? Wann könnten wir damit beginnen? Sind Sie noch bei Verstand, oder wie oder was? — Ja, so würde ich wohl sprechen, genau diese Bestellung würde ich aufgeben. Stellt sich nun die Frage, was würde ein Auge dieser Art mit meinem Gehirn unternehmen? Würde es wachsen? Und wohin würde es wachsen? — Ich muss das nicht heute entscheiden! — stop