marimba : 4.18 — Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wo sich Milanomaki gerade tatsächlich aufhält, ich weiß nicht einmal, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann handelt, und wie alt dieser Mensch sein könnte, der mir erzählt. Zuletzt noch folgende Notiz im Dezember: Ich sollte ein Ohrenmensch sein. Ich sitze mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und höre zu, einem Menschen vielleicht oder einer Fliege, die über mir im Luftraum turnt. Oder ich stehe in einem Zimmer ganz still, um so präzise wie möglich denken zu können. Kurz darauf setze ich mich an einen Schreibtisch und mache viele Wörter, dann mache ich eine Pause, dann lese ich alles das Notierte noch einmal durch, dann streiche ich so viele Wörter mit dem Kopf, wie möglich ist, um bald wieder nur einen Strich vor mir auf dem Papier vorzufinden. Ich habe viel erlebt. — Vor wenigen Stunden nun eine weitere Nachricht, die in einem Zugabteil dritter Klasse während einer Fahrt von Mumbai nach Darjeeling entstanden sein soll. Lesen Sie selbst: Ich kann nicht aufhören, rasendes, unentwegtes Schreiben, weil mir jemand beim Schreiben zusieht. Ich schrieb über das Fieber der vergangenen Tage, aber dann entdeckte ich den Blick der roten Schuhe, und schrieb und schrieb nur noch über meine fliegenden Hände, wie sie schneller und immer schneller notieren, während sich dieser eine rote, flache Schuh in meiner Nähe immer schneller drehte, kleine Kreise in die Luft zeichnete, die sich beschleunigten, weil ich flinker und flinker schreibe, ein Text über das Schnellschreiben, das nur deshalb möglich ist, weil die Schreibmaschinen nicht mehr klappern wie früher noch, mein Gott, würden sie noch klappern diese Schreibmaschinen, was würde das nur bedeuten, ein Getöse, jetzt nur noch ein sanftes leises Geräusch im Schreiben über das Schreiben, ein Versuch, diesen Schuh, der zu einem anderen System gehört, schneller und immer schneller kreisen zu lassen. - stop
Aus der Wörtersammlung: stunden
msallata
sierra : 0.28 — Ich begreife zahlreiche Erscheinungen der menschlichen Kommunikation im Durcheinander der Stimmen, der Bewegungen, die ich Nacht für Nacht erlebe, um Stunden, manchmal um Tage verzögert. Es ist so, als würde ich beständig einen hochauflösenden Tonfilm speichern, welchen ich mit Verzögerung in der Zeit abspiele, um Details, um Zusammenhänge nachvollziehen zu können, die zunächst in ihrer umfassenden Erscheinung nicht wahrnehmbar waren. Manchmal setzt dieser Hintergrundfilm während seiner Aufnahme eine kleine Boje aus, die in Echtzeit signalisiert, da ist etwas, da war etwas: Achtung! Ich glaube, ich verfüge über Augen oder Kameraobjektive, die in der Lage sind, nach allen Himmelsrichtungen Ausschau zu halten. Sobald ich sie suche, kann ich diese Augen nicht finden, es sind vermutlich sehr kleine Augen. — Null Uhr achtundzwanzig auf dem Meer vor Msallata, Lybia. — stop
nachtechse
alpha : 2.55 — Stellt Euch vor, eine Eidechse, wildes Tier, hockt seit bald zwei Stunden auf meinem Küchentisch. Das wäre für sich genommen schon eine bemerkenswerte Geschichte, weil ich recht weit oben wohne, die Fenster nicht geöffnet wurden und auch keinerlei frische Geschenkware in den vergangenen Wochen bei mir angekommen ist. Außerordentlich spannend wird die kleine Geschichte nun aber durch die Beobachtung der zwei Köpfe, über die das Wesen gebietet. Sie sitzen vorn an dem Tier am Hals, der sich gabelt. Die Augen der Eidechse gehen auf und zu, wie sie möchte, alle auf einmal oder auch getrennt voneinander, es sind vier. Zwei Zungen natürlich, die züngeln, gemeinsam oder gar nicht oder auch sie unabhängig voneinander. Ich überlegte nun, ob die Eidechse von Geburt an über zwei Köpfe verfügt haben könnte, oder aber, welcher der eigentliche Kopf der Eidechse gewesen sein dürfte, der erstere der Köpfe oder der originale Kopf, und welcher der zwei Köpfe demzufolge der nachgewachsene Kopf gewesen müsste. Ich habe weiterhin darüber nachgedacht, ob es möglich wäre, einen der zwei Eidechsenköpfe mittels einer Papierschere zu entfernen, ohne dem kleinen Tier vielleicht weh zu tun. Das scheint allerdings sehr unwahrscheinlich zu sein, deshalb bleibt die Schere liegen. Unter der Lupe ist ein weiterer Kopf vielleicht schon sichtbar, ich meine eine Ausbuchtung an der Schulter zu erkennen, ich muss das weiter beobachten. — Kurz nach drei Uhr, weit vor Dämmerung. Ich sollte noch ein paar Fliegen fangen. Wenn man dringend Fliegen braucht, sind niemals Fliegen da. — stop
ein zeitraum wird sichtbar
echo : 0.28 — Wann war es das erste Mal gewesen, dass ich von der Filmemacherin Laura Poitras hörte. Vielleicht im Sommer des Jahres 2013. Ich erinnere mich, jemand erzählte, sie sei eine in sich ruhende, sehr starke Frau, die niemals, auch in gefährlichen Situationen nicht, ihre Fähigkeit der Konzentration verlieren würde. In ihrem Dokumentarfilm Citizenfour, der vornehmlich in einem Hotel der Stadt Hongkong gedreht wurde, ist sie selbst kaum zu sehen. Ich meine ihre Gestalt sowie ihre Kamera in einem Spiegel für einige Sekunden wahrgenommen zu haben. Ein merkwürdiger, intensiv wirkender Film, dessen Bilder vage Vorstellungen der Ereignisse jenes Sommers mit wirklichen Bildern füllte. Edward Snowden sitzt barfuß auf einem Bett, meine Augen beobachteten ihn im Licht der vorgestellten, vermutlich sehr realen Gefahr, in der sich der junge, mutige und überaus klar sprechende Mann befand. Immer wieder hielt ich den Film an, um nachzudenken oder zu lernen. Einmal beobachtete ich indessen, wie sich Schnecke Esmeralda über den Boden meines Arbeitszimmers in Richtung eines geöffneten Fensters fortbewegte. Sie wanderte gemächlich die Wand hinauf zum Fensterbrett, wartete dort einige Minuten, während sie den Nachthimmel mit ihren Augen betastete, um sich schließlich hinaus an die raue Hauswand zu wagen. Einige Stunden später, in der Dämmerung des Morgens, kehrte sie zurück. Ihre Kriechspur schimmerte im ersten Licht des Tages an der Wand des Hauses, sie war, aus der Perspektive einer Schnecke betrachtet, weit herumgekommen. Den folgenden Tag über schlief Esmeralda tief und fest, wie mir schien, in der Küche auf dem Tisch. Ihr schweres Gehäuse lehnte an einer Aprikose. — stop
apollo
sierra : 0.58 — Zwei Stunden vor Computermaschine. Ich beobachtete wieder einmal Astronauten einer Apollomission, wie sie sich Fischen gleich durch ihre Kapsel oder durch den Weltraum bewegen. Indem ich verfolge, wie sie vor einer Kamera an Spielobjekten Wirkungen der Schwerelosigkeit demonstrieren, indem ich ihre beschädigten Funkstimmen höre, die Erinnerung an den Gedanken, dieses Scheppern, Pfeifen, Knistern, Krächzen könnte entstanden sein, weil ihren Stimminstrumenten das Gewicht der Welt entzogen wurde. Sie erscheinen nun als Gefangene eines Filmdokumentes. Wie wird sich meine eigene Stimme vielleicht in den sieben Jahren, die vergangen sind, seit ich das Filmdokument zuletzt beobachtete, verändert haben? — stop
onkel ludwig
tango : 1.38 — Mein alter Onkel Ludwig, der wirklich schon sehr alt ist, berichtet, er habe errechnet, wenn er noch in der Lage wäre, jeden Tag 300 Seiten eines Buches zu lesen, wenn er außerdem noch fünf Jahre lesend erleben dürfte, würde er, bei guter Führung, 1825 weitere Bücher zu sich nehmen. Das könnte genügen, sagte Onkel Ludwig. Er ist übrigens noch gut zu Fuß, man kann ihn morgens gegen 10 Uhr beobachten, wie er die Treppen zur Stadtbibliothek erklimmt. Er kommt mit der Straßenbahn dort an, heimwärts, schwere Büchertaschen tragend, nimmt er ein Taxi. Manchmal sitzt er noch ein oder zwei Stunden im Café Mozart, er liebt Käsekuchen und Mohnschnitten von Herzen. Ich glaube, heute ist Mittwoch, heute wird er ein Buch der Schriftstellerin Yoko Ogawa zu sich nehmen, so ist sein Plan, in diesem Buch soll ein Elefant auf dem Dach eines Kaufhauses leben. Gerade eben leichter Gewitterregen. Das wird sicher sehr warmes Wasser sein, das vom Himmel fällt. Guten Morgen! — stop
alexandros panagoulis
alpha : 2.58 — Ich beobachtete einen jungen Mann, der lange Zeit neben einer Ampel vor einer Kreuzung stand, eine vornehme und zugleich merkwürdige Erscheinung. Der Mann trug einen eleganten, grauen Anzug, hellbraune, feine Schuhe, ein weißes Hemd und eine Krawatte, feuerrot. Er machte etwas Seltsames, er setzte nämlich seinen rechten Fuß auf die Straße, um ihn sogleich wieder zurückzuziehen, als ob der Belag der Straße zu heiß wäre, um sie tatsächlich betreten zu können. Das ging eine Viertelstunde so entlang, ein früher Nachmittag, es regnete leicht. Der Mann schien nicht zu bemerken, dass ich ihn beobachtete. Um uns herum waren sehr viele Menschen unterwegs gewesen, die die Kreuzung Broadway Ecke 30. Straße schnellfüßig unter sich drehenden Regenschirmen überquerten. Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, der Mann würde sich verhalten wie eine Figur in einem sehr kurzen Film, der sich unablässig wiederholte. Einmal bleibt eine ältere Frau neben ihm stehen, sie schien zu zögern, aber dann trat sie doch entschlossen auf die Straße, um kurz darauf zurückzukehren und dem jungen Mann eine Tüte Nüsse zu überreichen. In genau diesem Augenblick ließ ich los und spazierte weiter in Richtung South Ferry, ohne mich noch einmal nach dem jungen Mann umzudrehen. — Kurz vor drei Uhr. Noch Stille draußen vor den Fenstern, kühle Nacht. Erinnerte mich vor wenigen Stunden an Alexandros Panagoulis, an das vorgestellte Bild des Dichters, wie er im griechischen Militärgefängnis Bogiati in einer Zelle sitzt. Er ist ohne Papier, er notiert Gedichte, die er aufhebt in seinem Kopf. Lange musste ich nach seinem Namen suchen, er war verschwunden gewesen, als hätte ich nie von ihm gelesen. — stop
aleppo
charlie : 0.32 — Er werde langsam alt, erzählte der Journalist L., alt und müde. Manchmal fühle er sich morsch, wie ein Knochen, der lange Zeit in feuchter Luft unter freiem Himmel herumgelegen hatte, da wird man bald staubig, und dann kommt ein Wind und schon ist man so leicht geworden, dass man ganz und gar für immer aufhören möchte. Deshalb habe er ein Haus an der Küste gekauft, mit einem Reetdach, das links und rechts des Hauses nahezu bis auf den Boden reiche. Er benötige einen Ort, an den er sich zurückziehen, einen Ort, an dem er leichter werden könne, wandern am Meer stundenlang und sprechen mit sich selbst. Wenn er Selbstgespräche führe, würde er in sich hineinsehen, Wörter und Sätze bewirken, dass er für einige Zeit nicht mehr aufhören könne zu sprechen, weil er doch in den vergangenen Jahren eigentlich so schweigsam geworden war, weil er doch immer, als er noch diskutierte und erzählte, vergessen habe, was er sagte, weshalb er tagelang darüber nachdenken musste, ob er nicht etwas gesagt haben könnte, das unmöglich gesagt sein durfte, diese Wörter, diese Sätze, die man so liebend gern zurückholen wollte, weil sie nicht passend oder ganz einfach zu viele Wörter gewesen waren. Deshalb nun ein Haus an der Küste, mit einem Reetdach, das links und rechts des Hauses nahezu bis auf den Boden reiche, wo er mit sich selbst sprechen könne so lange er wolle, wo ihm niemand zuhören würde, nur das Haus und er selbst und manchmal der Sand und ein paar Vögel, wenn er von Aleppo erzähle, wo er vor wenigen Wochen, ein Himmelfahrtskommando, noch gewesen sei. — stop
eine chinesin
echo : 1.24 — Im Zug saß ich einer alten Frau gegenüber, die in einer chinesischen Zeitung las, ohne eine Brille zu verwenden. Das war deshalb bemerkenswert, weil die Zeichen der Zeitung sehr klein waren, aber nicht nur die Zeichen der Zeitung, sondern auch jene Schriftzeichen, die die alte Frau neben die Zeilen der Zeitung setzte, waren außerordentlich kleine Zeichen. Sie notierte mit einem Bleistift, den sie immer wieder spitzte. Und obwohl der Zug uns Reisende beständig erschütterte, wurden ihre komplizierten Schriftzeichen mit je einer schnellen Handbewegung sicher auf das Papier gesetzt. Kein Blick zu mir hin. Aber ich spürte, dass sie meine beobachtenden Blicke selbst bemerkte. Nach zwei Stunden verließ die alte chinesische Frau den Zug. Sie sagte: Auf Wiedersehen! — Helle Stimme. — stop
von nelken
echo : 6.10 — Ich beobachtete eine alte Frau, wie sie unter einem Regenschirm im Garten kniend Nacktschnecken von Nelkenblumen pflückte. Neben sich hatte die alte Frau einen kleinen Eimer abgestellt, der sich allmählich mit Schneckenkörpern füllte. Heftiger Regen. Ich konnte den Regen hören, wie er auf den Schirm der alten Frau trommelte. Und ich hörte eine helle Stimme, die mit sich selbst oder zu den Schnecken sprach. Immer wieder einmal stand die alte Frau vorsichtig auf, um in ihr Haus zurückzukehren. Sie klopfte dann ihre Schuhe ab, stand hinter dem Fenster, schaute in den Garten und wartete, bis weitere Schnecken ohne Häuser in die Nähe ihrer Nelken gekommen waren. Diese Schnecken reisten nicht von der Seite her an, sondern kamen tatsächlich von unten aus dem erdigen Boden herauf. Waren es wieder viele Schnecken geworden, kehrte die alte Frau zurück in ihren Garten und erneut hörte ich den Regen und eine helle Stimme. Ich hatte bald den Eindruck, diese Schnecken, die unablässig aus dem Boden stiegen, könnten rein aus etwas Haut und klarem Wasser bestehen, es waren derart viele, dass sie ganz einfach zunächst winzige Wesen sein mussten, die sich zu ihrer vollen Entfaltung mit Wasser füllten, sobald es regnete. Nach drei Stunden war der Eimer gefüllt und die alte Frau deckte ihn mit einem Kochtopfdeckel zu, holte aus dem Haus einen weiteren Eimer, der etwas größer gewesen war, als der erste Eimer. Es dämmerte, dann war es dunkel, und als es richtig dunkel geworden war, finster, kehrte die alte Frau mit einer Taschenlampe in den Garten zurück. Sie trug jetzt Gummistiefel an den Füßen und ein Nachthemd und es regnete noch immer. — stop