Aus der Wörtersammlung: unmittelbar

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herzwanderung

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gink­go : 0.28 — Auf Notiz­kärt­chen, die ich im Prä­pa­rier­saal beschrif­te­te, das Wort Herz­wan­de­rung ent­deckt. Ich notier­te die­ses Wort, kurz, nach­dem ich einen jun­gen Mann beob­ach­tet hat­te, wie er mit einem klei­nen rosa­far­be­nen Her­zen, das er zuvor unter Anlei­tung eines Assis­ten­ten aus dem Brust­korb einer alten Frau ope­rier­te, durch den Saal eil­te, um es unter kal­tem Was­ser zu waschen. Unmit­tel­bar hin­ter ihm war­te­te ein Kol­le­ge. Auch er hielt ein Herz in Hän­den. Die­ses Herz schien ver­gleichs­wei­se das Herz eines Rie­sen gewe­sen zu sein, und es war dun­kel, fast schwarz. Als der jun­ge Mann mit der Waschung des klei­nen rosa­far­be­nen Her­zen fer­tig gewor­den war, dreh­te er sich um. Für eini­ge Sekun­den stan­den sich die zwei Män­ner gegen­über und betrach­ten je das Herz des ande­ren. — stop

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blitzkäfer

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marim­ba : 6.42 — Man erzählt, Blitz­kä­fer in frei­er Wild­bahn sei­en sel­ten gewor­den. Einer der letz­ten auf dem euro­päi­schen Fest­land woh­nen­den Käfer die­ser Gat­tung soll am ver­gan­ge­nen Wochen­en­de nahe Straß­burg ent­deckt und gefan­gen genom­men wor­den sein. Das Tier wur­de kurz vor sei­ner dro­hen­den Ent­la­dung in einen bota­ni­schen Samm­ler mit­tels eines iso­lie­ren­den Käfigs von Por­zel­lan arre­tiert und befin­det sich der­zeit im zoo­lo­gi­schen Gar­ten zu Oslo. Nun soll­te man wis­sen, Biltz­kä­fer sind gefähr­li­che Per­so­nen, obgleich sie zunächst eher harm­los erschei­nen. Von einer hel­len run­den Pan­ze­rung umge­ben, ver­fü­gen sie über außer­or­dent­lich kur­ze kräf­ti­ge Bei­ne, über einen Kopf wei­ter­hin, der an ihrem Kör­per kaum in Erschei­nung tritt, weil er sehr klein ist und auf dem volu­mi­nö­sen Kör­per unmit­tel­bar auf­sitzt, Wesen ohne Hals, die sich sehr lang­sam vor­wärts, rück­wärts oder seit­wärts bewe­gen. Sobald man einen Blitz­kä­fer anzu­he­ben wünscht, wird man über­rascht sei­ne Schwe­re bemer­ken, man kann ihn von Hand kaum von einem Unter­su­chungs­tisch bekom­men, so schwer ist die Käfer­krea­tur. An sei­nem höchs­ten Punkt, exakt sei­nen Bei­nen gegen­über, erhebt sich ein Sta­chel, der sich gegen den Him­mel rich­tet. Von dort kom­men Blit­ze an oder gehen von dort aus wie­der in die Luft. Blitz­kä­fer sum­men. Das ist ein Geräusch, wel­ches höchs­te Gefahr signa­li­siert, für Leib und Leben. — stop

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manhattan : zuccotti park

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marim­ba : 17.55 — Die fol­gen­de Geschich­te, oder Tei­le die­ser Geschich­te, haben sich in mei­nem Leben nicht gera­de so ereig­net, wie ich sie erzäh­len wer­de. Ich habe sie mir aus­ge­dacht, das heißt, die Geschich­te, die von einer Piz­ze­ria berich­tet, ist mir ein­ge­fal­len, als ich tat­säch­lich genau die­se erzähl­te Piz­ze­ria besuch­te in der Green­wich Street nahe dem Zuc­cot­ti Park. Ich war eini­ge Stun­den in der Fäh­re zwi­schen Man­hat­tan und Sta­ten Island gepen­delt, hat­te Geräu­sche auf­ge­nom­men, foto­gra­fiert und über Gerü­che notiert. Saß nun auf einem Hocker am Fens­ter des klei­nen ita­lie­ni­schen Ladens in der Wär­me, aß und trank und schau­te auf den Zaun, hin­ter dem sich unmit­tel­bar das Gelän­de des World Trade Cen­ters befin­det. Ich ver­such­te mir vor­zu­stel­len, wie die­ser Ort den Ein­sturz der rie­si­gen Gebäu­de über­ste­hen konn­te, was in die­sen Räu­men gesche­hen war in den Minu­ten der Kata­stro­phe. Fens­ter könn­ten gebors­ten, Tisch und Stüh­le vom Luft­druck der Staub­wol­ke durch den Raum geschleu­dert wor­den sein. Viel­leicht hat­ten sich Men­schen bis hier­her geflüch­tet, viel­leicht waren sie ver­letzt, viel­leicht waren sie an die­ser Stel­le gestor­ben, erstickt, erschla­gen oder ver­brannt. Der klei­ne Laden jeden­falls hat­te sich gut erholt. Kei­ner­lei Spur von der Höl­le, die sich in nächs­ter Nähe ent­fal­tet hat­te. Auch der Mann hin­ter dem Tre­sen wirk­te kräf­tig und gesund, obwohl der Lärm der gewal­ti­gen Bau­stel­le hin­ter dem Zaun an sei­nen Ner­ven gezerrt haben muss­te. Ich über­leg­te, ob er Augen­zeu­ge gewe­sen sein könn­te, beob­ach­te­te ihn eine Wei­le, und als er sich ein­mal näher­te, frag­te ich ihn. Der Mann mus­ter­te mich mit einem schnel­len Blick, ohne zu ant­wor­ten. Bald stand er wie­der hin­ter sei­nem Tre­sen, so als wäre nichts gesche­hen, kei­ne Gegen­fra­ge, kein Ver­such, in der Zeit zurück­zu­kom­men. Ich konn­te in die­sem Moment nicht ein­mal sagen, ob ich tat­säch­lich gefragt oder mir die Fra­ge nur vor­ge­nom­men hat­te, auch ob der Mann so lan­ge geschwie­gen hat­te, bis ich mich der Türe näher­te, um auf die Stra­ße zu tre­ten, konn­te ich nicht mit Sicher­heit behaup­ten. Sei­ne Stim­me in die­sem Moment: It was hor­ri­ble! Dann wie­der das Rat­tern der Motor­schrau­ber. Im Park, im berühm­ten Zuc­cot­ti Park, eine Hand­voll Men­schen von Poli­zis­ten umringt. Kei­ne Zel­te, kei­ne Möwen, aber Tau­ben, Tau­ben, Tau­ben. — stop

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roosevelt island : lawrence

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ulys­ses : 1.58 — Wol­ken­lo­ser Him­mel. ‑8° Cel­si­us. Ich tra­ge heu­te zum ers­ten Mal Law­rence spa­zie­ren unter Man­tel, Pull­over, Hemd unmit­tel­bar auf mei­ner Haut, ein Schlan­gen­we­sen mit einem klei­nen Kopf, der in der Nähe mei­nes Hal­ses zu lie­gen gekom­men ist. Dort lurt er jetzt unterm Schal her­vor, man muss sich das ein­mal vor­stel­len, Lawrence’s sand­far­be­nen Kopf ohne Augen, Ohren, Nase, aber von einem Mund beseelt, den ich mit getrock­ne­ten Speck­strei­fen füt­te­re, wäh­rend ich durch die knis­tern­de Win­ter­luft stel­ze. Ich kann Law­rence hören, er ist ein lei­ser, ein gemäch­li­cher Fres­ser. Und die Wär­me füh­len, wun­der­voll, die sein fein­häu­ti­ger Kör­per erzeugt, der mich fest umwi­ckelt, mei­ne Brust, mei­nen Bauch, mei­ne Arme, mei­ne Bei­ne. Speck für sechs Stun­den Wan­der­zeit habe ich in mei­ne Taschen gepackt. Es ist jetzt 10 Uhr vor­mit­tags, um kurz vor vier Uhr nach­mit­tags soll­te ich zurück­ge­kom­men sein, dann sehen wir wei­ter. Sonn­tag ist gewor­den. Und so gehen wir an die­sem Sonn­tag also spa­zie­ren, Law­rence und ich. Zunächst gehen wir die 5th Ave­nue nord­wärts und ein wenig durch den Cen­tral Park. Tau­sen­de hel­ler Wölk­chen stei­gen dort aus den Mün­dern tau­sen­der New Yor­ker Men­schen. Höhe 67. Stra­ße dre­hen wir wie­der um, lau­fen zurück, fol­gen der 59. Stra­ße west­wärts, bis wir den East River errei­chen, Roo­se­velt Island Tram­sta­ti­on. In der Seil­bahn über­ge­setzt, ein­mal hin und sofort wie­der zurück, Ping­pong. In einem Baum, 61. Stra­ße, lun­ger­ten Hun­der­te schla­fen­der Tau­ben, als wären sie Blü­ten. — stop

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metamorphose

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india : 7.32 — An einem Tisch im wil­den Gar­ten. Die Son­ne schien kräf­tig über nahen Ber­gen, wärm­te mich und eine Amei­se, die über das Holz des Tisches spa­zier­te, als wür­de sie einen Aus­weg suchen, auf und ab, hin und her. Ich habe sofort bemerkt, dass es sich bei die­ser Amei­se um eine sehr beson­de­re Amei­se han­del­te, es war näm­lich die ers­te Novem­ber­amei­se mei­nes bewuss­ten Lebens, wes­we­gen ich ihr einen Trop­fen Mar­me­la­de vor­ge­legt habe, was das fieb­ri­ge Insekt zu erfreu­en schien, weil es den Trop­fen zunächst umkreis­te, um sich kurz dar­auf mit Zan­gen­werk­zeug an die Arbeit zu machen. Ich stell­te mir vor, in dem ich die Amei­se beob­ach­te­te, dass sie, satt gewor­den, zum Rand des Tisches lau­fen könn­te und sich in die Tie­fe stür­zen. Ihr groß­ar­ti­ger Flug weit über das Gar­ten­land auf Leder­häu­ten, die sich zwi­schen ihren zar­ten Bein­chen ent­fal­te­ten. Statt­des­sen fiel eine Flie­ge vom Him­mel, über­schlug sich zwei­fach und blieb auf dem Rücken unmit­tel­bar vor mei­nen Augen lie­gen. Aber das ist jetzt schon eine ganz ande­re Geschich­te. — stop
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anweisung im umgang mit dienstweihnachtsbäumen

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~ : louis
to : dai­sy und vio­let hilton
sub­ject : WEIHNACHTSBÄUME

Soll­te ich fol­gen­de amt­li­che Anwei­sun­gen im Umgang mit Dienst­weih­nachts­bäu­men bereits ein­mal über­mit­telt haben, ver­zeiht mir bit­te. Ich bin in die­sen Tagen ein wenig ver­gess­lich, viel­leicht des­halb, weil ich lan­ge schla­fe, weil Okto­ber gewor­den ist, eine Art vor­win­ter­li­che Traum­zeit, die weit in die Tage her­über leuch­tet. Hier nun eini­ge Sät­ze, die der Wirk­lich­keit ent­nom­men sind, zur rei­nen Freu­de. Es han­delt sich, das ist denk­bar, um eine neu­ar­ti­ge Gat­tung feins­ter Lite­ra­tur. Ahoi. Euer Lou­is ~ > Arbeits­or­ga­nia­ti­ons­richt­li­ni­en über die Hand­ha­bung und Ver­wen­dung von Nadel­bäu­men klei­ne­ren und mitt­le­ren Wuch­ses, die in Dienst­räu­men Ver­wen­dung als Dienst­weih­nachts­bäu­me fin­den. ~ Begriff: Ein Dienst­weih­nachts­baum (DWB) ist ein Weih­nachts­baum natür­li­chen Ursprungs oder einem natür­li­chen Weih­nachts­baum nach­ge­bil­de­ter Weih­nachts­baum, der zur Weih­nachts­zeit in Dienst­räu­men auf­ge­stellt wird. ~ Auf­stel­len der Weih­nachts­bäu­me: Ein Dienst­weih­nachts­baum (DWB) darf nur von sach­kun­di­gen Per­so­nen nach Anwei­sung des unmit­tel­ba­ren Vor­ge­setz­ten auf­ge­stellt wer­den. Die­ser hat dar­auf zu ach­ten, dass 1. der DWB (Dienst­weih­nachts­baum) mit sei­nem unte­ren der Spit­ze ent­ge­gen gesetz­ten Ende in einen zur Auf­nah­me von Bau­men­den geeig­ne­ten Hal­ter ein­ge­bracht und befes­tigt wird, 2. der DWB in der Hal­te­vor­rich­tung der­art ver­keilt wird, dass er senk­recht steht (in schwie­ri­gen Fäl­len ist ein Offi­zier hin­zu­zu­zie­hen, der die Senk­recht­stel­lung über­wacht. bzw. durch Zuru­fe wie “mehr links”, “mehr rechts” usw. kor­ri­giert), 3. im Umfall­be­reich des DWB kei­ne zer­brech­li­chen oder durch umfal­len­de DWB in ihrer Funk­ti­on zu beein­träch­ti­gen­de Anla­gen vor­han­den sind. ~ Behan­deln der Beleuch­tung: Der DWB ist mit weih­nacht­li­chem Behang nach Maß­ga­be des Dienst­stel­len­lei­ters zu ver­se­hen. Weih­nachts­baum­be­leuch­tung, deren Flam­men­wir­kung auf dem Ver­bren­nen eines Brenn­stof­fes mit Flam­men­wir­kung beruht (soge­nann­te Ker­zen), dür­fen nur Ver­wen­dung fin­den, wenn 1. die Bediens­te­ten über die Gefah­ren von Feu­ers­brüns­ten hin­rei­chend unter­rich­tet sind, 2. wäh­rend der Brenn­zeit der Beleuch­tungs­kör­per ein in der Feu­er­be­kämp­fung unter­wie­se­ner Sol­dat mit Feu­er­lö­scher und Feu­er­pat­sche bereit­steht. ~ Auf­füh­ren von Krip­pen­spie­len und Absin­gen von Weih­nachts­lie­dern: In Dienst­stel­len mit aus­rei­chen­dem Per­so­nal kön­nen Krip­pen­spie­le unter Lei­tung eines erfah­re­nen Vor­ge­setz­ten zur Auf­füh­rung gelan­gen. In der Beset­zung sind fol­gen­de in der Per­so­nal­pla­nung vor­zu­se­hen­de Per­so­nen not­wen­dig: 1. Maria: mög­lichst weib­li­che Bediens­te­te, 2. Josef: län­ger die­nen­der Sol­dat mit Bart, 3. Kind: klein­wüch­si­ger Sol­dat, 4. Esel: geeig­ne­ter Sol­dat, 5. Och­se: wie vor. Die Dar­stel­lung der Hei­li­gen Drei Köni­ge soll­te mög­lichst durch Gene­ral­stabs­of­fi­zie­re, min­des­tens jedoch durch Stabs­of­fi­zie­re erfol­gen. Zum Absin­gen von Weih­nachts­lie­dern stel­len sich die Sol­da­ten unter Anlei­tung eines Vor­ge­setz­ten ganz zwang­los nach Dienst­gra­den geord­net um den DWB auf. Even­tu­ell bei der Dienst­stel­le vor­han­de­ne Weih­nachts­ge­schen­ke kön­nen bei die­ser Gele­gen­heit durch einen Vor­ge­setz­ten in Gestalt eines Weih­nachts­man­nes an die Unter­ge­be­nen ver­teilt wer­den. — stop

gesen­det am
17.10.2011
12.05 MESZ
3082 zeichen

lou­is to dai­sy and violet »

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venenstern

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echo : 20.55 — Ein Schat­ten von Wör­tern exis­tiert in der elek­tri­schen Welt, Anfra­gen der Such­ma­schi­ne g o o g l e, die par­tic­les mit­tel­bar oder unmit­tel­bar berühr­ten: > Flie­ge
 : Mond­fisch 
: Schreib­ma­schi­ne
 : Roman Opal­ka : Koli­bri gezeich­net : DNA : Dop­pel­he­lix
 : Trom­pe­ten­kä­fer 
: Venen­stern 
: Brumm­krei­sel 
: Geräu­schwör­ter : Per­ga­ment­haut
 : Chir­urg
 : Pyra­mi­den­bahn : > 2345 Begrif­fe im Monat August. stop. Feu­er­kä­fer. stop. Ich könn­te viel­leicht sagen, dass Wör­ter die­ser Art Lock­stof­fen ähn­lich sind. Oder Lan­de­bah­nen. Oder Flie­gen­fal­len. — stop

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PRÄPARIERSAAL : ein helles herz

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bamako : 2.58 – Beob­ach­te­te im Prä­pa­rier­saal kurz vor acht Uhr mor­gens eine Assis­ten­tin, indem sie sich mit­tels eines Skal­pells und einer Pin­zet­te in die Tie­fe eines Lun­gen­flü­gels vor­ar­bei­te­te. Fei­ne, zup­fen­de Hand­be­we­gun­gen einer Uhr­ma­che­rin. Ein metal­le­ner Ton, sobald die Assis­ten­tin etwas Gewe­be am Rand einer Scha­le von ihren Werk­zeu­gen streif­te. Wort­los stand die jun­ge Frau am Tisch, schein­bar ohne sich an mei­ner Gegen­wart zu stö­ren. Nach eini­gen Minu­ten dann schob sie das Lun­gen­prä­pa­rat zur Sei­te und wen­de­te sich einem Her­zen zu, das in unmit­tel­ba­rer Nähe eines wei­te­ren Lun­gen­flü­gels auf einem Blech schau­kel­te, als sei es noch von eige­ner Kraft in Bewe­gung. Das war ein kräf­ti­ges Herz gewe­sen, ich erin­ne­re mich noch gut, über das Gewicht in mei­nen Hän­den gestaunt zu haben. Ich hat­te das Prä­pa­rat vom Tisch geho­ben und hielt es in der Scha­le mei­ner Hän­de fest, um die Arbeit der Assis­ten­tin zu erleich­tern. Das Herz ist schwer, sag­te ich. Ein mäch­ti­ger Mus­kel, ant­wor­te­te die Frau, ja, ein mäch­ti­ges Herz, fest und dun­kel, das Herz eines Läu­fers. Oder ein Künst­ler­herz viel­leicht. Schwei­gen jetzt. Sie trom­mel­te mit ihren Werk­zeu­gen auf den höl­zer­nen Rand des Tisches. Mei­nes wird wohl etwas klei­ner sein, setz­te ich vor­sich­tig hin­zu, ein hel­les Herz, das Herz eines Vogels, sagen wir. Du kannst also flie­gen, bemerk­te die jun­ge Frau und lach­te, das ist eine gute Geschich­te! — Wie sie für den Bruch­teil einer Sekun­de ihr Gehirn mit einem Lid bedeck­te.  Fin. – stop

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PRÄPARIERSAAL : ismene

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sier­ra : 18.02 — Abend. Die Fens­ter geöff­net, es reg­net, für einen Moment ist Herbst gewor­den. Höre ein Inter­view, das ich mit Isme­ne, einer Medi­zin­stu­den­tin, in Mün­chen führ­te. Sie erzählt mit ruhi­ger Stim­me fol­gen­de Geschich­te: > Wie wir ange­fan­gen haben? Ich erin­ne­re mich gut. Ich hat­te kaum geschla­fen. End­lich soll­te es los­ge­hen. Als ich dann im Prä­pa­rier­saal vor dem Tisch stand, war ich erst ein­mal irri­tiert vom Anblick des Leich­nams. Ich glau­be, alle mei­ne Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen waren irri­tiert gewe­sen, min­des­tens waren sie beein­druckt. Wenn man unsi­cher ist, schaut man nach, was die ande­ren tun. Und wenn die Bli­cke ein­an­der begeg­nen, lächelt man. Ich habe die­se ers­te Situa­ti­on vor dem Tisch als sehr authen­tisch emp­fun­den, als ehr­lich und unmit­tel­bar. Wir hat­ten nur unse­re Augen, unse­re Hän­de, also unse­ren Tast­sinn, ein Skal­pell und eine Pin­zet­te, um den Kör­per, der uns zur Ver­fü­gung gestellt war, zu unter­su­chen. Natür­lich arbei­te­ten wir auch mit unse­rem Gehör­sinn. Wir waren acht Leu­te an jedem der 52 Tische, und wir dis­ku­tier­ten, was wir gese­hen haben. An die­sem ers­ten Tag aber waren wir eher still gewe­sen. Ich glau­be, jeder von uns muss­te zunächst ein­mal mit sich selbst zurecht­kom­men. Das waren ja sehr kräf­ti­ge Ein­drü­cke. Ich habe mir, um mich vor dem schar­fen Geruch zu schüt­zen, ein Tuch in die Brust­ta­sche gesteckt, das ich in Euka­lyp­tus­öl getaucht hat­te. Und da war nun die­se alte Frau gewe­sen. Sie lag voll­kom­men unbe­klei­det auf dem Tisch vor uns. Ich habe gewusst, dass die­ser Moment kom­men wür­de, aber man kann sich auf den Augen­blick einer ers­ten Begeg­nung die­ser Art nicht wirk­lich vor­be­rei­ten. Viel­leicht hat­ten wir des­halb mit hoher, zupa­cken­der Geschwin­dig­keit die rote Decke und das wei­ße Tuch, die den Leich­nam vor Aus­trock­nung schüt­zen, ange­ho­ben, weil wir unse­rer Unsi­cher­heit Akti­vi­tät ent­ge­gen­set­zen woll­ten. Ich war sehr bewegt und ich war unru­hig und ich schäm­te mich für mei­nen sach­li­chen Blick, der das Gewicht der alten Dame schätz­te und ihre Grö­ße. Sie lag rück­lings auf dem Tisch. Ihre Bei­ne und Arme waren aus­ge­streckt. Wenn sie noch am Leben gewe­sen wäre, wür­de sie ver­mut­lich ver­sucht haben, sich zu schüt­zen. Sie hät­te ihre klei­nen, fla­chen Brüs­te mit Hän­den bedeckt und ihre Scham, und sie hät­te viel­leicht irgend­ei­ne abweh­ren­de Ges­te unter­nom­men. Ich sehe ihr Gesicht, ihre geschlos­se­nen Augen noch sehr genau vor mir. Ein fei­nes Gesicht. Das For­ma­lin hat­te ihr kaum zuge­setzt, an ihrem Kör­per war kei­ne wei­te­re Nar­be zu fin­den als ein Schnitt an der Innen­sei­te des lin­ken Ober­schen­kels, der von einer Kanü­le der Prä­pa­ra­to­ren ver­ur­sacht wor­den war. Und wenn ich jetzt sage, dass sie sehr echt aus­sah, wirk­lich, ver­letz­lich, dann kom­me ich der Ursa­che mei­ner Irri­ta­ti­on viel­leicht näher. Ver­ste­hen Sie, die alte Dame war mir ähn­lich. Ich bemerk­te eine Frau, eine Frau, die nur durch ein wenig Zeit von mir getrennt war. Ich sah eine Per­son und ich fürch­te­te, sie in ihrer Ruhe zu stö­ren, und des­halb sprach ich lei­se. Auch mei­ne jun­gen Freun­de am Tisch spra­chen sehr lei­se, zurück­hal­tend, behut­sam. Ich sah, dass ihre Hän­de in den Latex­hand­schu­hen schwitz­ten und auch, dass sie ein wenig zit­ter­ten, wäh­rend sie arbei­te­ten. Die Hän­de der alten Dame wirk­ten, als hät­te sie zu lan­ge geba­det. Das waren sehr fei­ne Hän­de. Sie hat­te zuletzt noch ihre Fin­ger­nä­gel bemalt in einem hel­len Rot. Sie hat­te sich noch geschmückt. Sie woll­te schön sein! Immer­zu muss­te ich ihre Hän­de betrach­ten. — stop

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schneebrille

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alpha : 22.03 — Aus der Luft, aus dem Nichts her­aus, Gedan­ken, von Sekun­den­räu­men her, die sich unmit­tel­bar vor dem Zeit­punkt ihrer Wahr­neh­mung befin­den. Ob es über­haupt mög­lich sein kann, einen Gedan­ken erfin­dend zu kon­stru­ie­ren? Das Wort S c h n e e b r i l l e in die­sem Moment, viel­leicht des­halb, weil ich vor Stun­den notier­te: Win­ter­pen­del­fahrt auf Sta­ten Island Fer­ry. stop. Obe­res Deck. stop. Fes­te Schu­he. stop. Penn­sta­ti­on ab: 7.49 am. stop. Montauk an: 10.52 am. stop. Strand­spa­zier­gang. - stop
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