Aus der Wörtersammlung: wort

///

in der paukenhöhle

pic

del­ta : 7.10 — Es ist leicht, sich Zell­kör­per vor­zu­stel­len, die vor­sich­tig geöff­net wur­den, um in sie hin­ein spä­hen zu kön­nen. Ich wünsch­te ihre Struk­tu­ren mit Namen bezeich­nen zu kön­nen, mit Wort­kör­pern, die mir gefal­len. Bereits die Ana­to­mie der Amei­sen Wort für Wort aus­zu­wei­sen, wird einen lan­gen poe­ti­schen Atem erfor­dern. Ich über­leg­te, wie sich afri­ka­ni­sche Men­schen bald erhe­ben wer­den, sie for­dern, ihre uralten Spra­chen in unse­re human ana­to­mi­sche Nomen­kla­tur ein­zu­spei­sen, ner­vus oli­mam­bo, der fort­an unter die­ser Bezeich­nung mensch­li­che Augen­li­der inner­vie­ren wird. Bald mel­den sich Bewoh­ner Grön­lands, sun­ni­ti­sche und schii­ti­sche Stäm­me, India­ner der wil­den Wäl­der Papua-Neu­gui­ne­as. Sie alle haben den Wunsch, ihre Spra­che, Wör­ter, ihre geis­ti­ge Welt in der Vor­stel­lung eines all­ge­mein­gül­ti­gen mensch­li­chen Kör­pers zu hin­ter­las­sen. Das zustän­di­ge Büro der Uno hoch über dem East River, eine Behör­de, Jahr­zehn­te nach­drück­li­cher Ver­hand­lung in der Pau­ken­höh­le. — stop

ping

///

ein junge

pic

nord­pol : 4.52 — Im War­te­zim­mer hock­te ein Jun­ge von unge­fähr fünf Jah­ren auf einem Stuhl. Er war noch so klein, dass sei­ne Füße den Boden nicht berühr­ten. Als er bemerk­te, dass ich ihn beob­ach­te­te, hol­te er ein Tele­fon aus sei­ner Hosen­ta­sche und tipp­te eine Num­mer. Kurz dar­auf klin­gel­te das Tele­fon einer Frau, die dem Jun­gen gegen­über­saß. Sie las in einer Zei­tung. Als sie das Klin­gel­ge­räusch hör­te, lächel­te sie, ohne ihre Lek­tü­re zu unter­bre­chen. Der Jun­ge steck­te sein Tele­fon in die Hosen­ta­sche zurück und rutsch­te unru­hig auf sei­nem Stuhl hin und her. Ein­mal beug­te er sich vor und band sei­ne Schu­he. Von unten her­auf schau­te er mit dunk­len Augen in mei­ne Rich­tung. Wie­der hol­te er das Tele­fon aus sei­ner Hosen­ta­sche, tipp­te eine Num­mer, und das Tele­fon der Frau, die dem Jun­gen gegen­über­saß, klin­gel­te erneut ein oder zwei Minu­ten lang, dann leg­te der Jun­ge auf. Er hüpf­te vom Stuhl, rann­te in einem wei­ten Bogen durch das Zim­mer an war­ten­den Pati­en­ten vor­bei und klet­ter­te auf den Schoß der Frau mit der Zei­tung, die sie für einen Moment wort­los zur Sei­te leg­te, um sie auf den Knien des Jun­gen bald wie­der zu ent­fal­ten. Auch der Jun­ge sag­te kein Wort, er ver­such­te jetzt in der Zei­tung zu lesen, er schien dar­in Übung zu haben. — stop

ping

///

teilchen

2

sier­ra : 2.01 — Erin­ne­rung scheint zeit­los zu sein, zufäl­lig, chro­no­lo­gisch unge­ord­net, kommt in Sekun­den­por­tio­nen ange­flo­gen, eine Stim­me, eine Foto­gra­fie, ein Geruch, ein Gedan­ke, Teil­chen wie Sand­stür­me, ver­gäng­lich, unscharf. Ich habe bemerkt, dass es mög­lich zu sein scheint, ein Teil­chen fest­zu­hal­ten, in dem ich das Teil­chen mit einem Wort ver­bin­de, um das Teil­chen von die­sem Wort aus zu erwei­tern, schwe­rer zu machen, und doch ist es immer so, dass ich das Teil­chen, an dem ich arbei­te, frü­her oder spä­ter los­las­sen wer­de, weil viel­leicht das Tele­fon klin­gelt oder eine Flie­ge vor­über kommt, die sich auf dem Rücken segelnd fort­be­wegt. Wie vie­le Ereig­nis­se mei­nes Lebens habe ich mehr­fach ver­ges­sen? Wie viel stil­le Zeit? — stop

ping

///

vor neufundland 3.05.22 uhr : schirokko

2

ulys­ses : 4.05 — Ruhi­ge Nacht. Lek­tü­re: Ste­wart O’Nan Last Night at the Lobs­ter. Unter­des­sen Funk­spruch Noes, ich notie­re: 3.05.22 | | | > fan­gen wir noch ein­mal von vor­ne an. s t o p ich hei­ße noe. s t o p tie­fe 82 meter vor neu­fund­land. s t o p ich bin glück­lich. s t o p könn­te sein dass ich nicht ganz bei ver­stand bin. s t o p ich habe den ein­druck zu träu­men. g r a m o p h o n e f r o m a b o v e. s t o p ob mir jemand zuhört? s t o p ob jemand liest was ich schrei­be? s t o p wie oft schon habe ich das wort s c h i r o k k o mit mei­nem fin­ger in das was­ser ein­ge­tra­gen um das wort schi­rok­ko nicht zu ver­lie­ren. e n o n o r m o u s b l u e f i s h w i t h y e l l o w e y e s s t r a i g h t a h e a d. s t o p ich kann das wort g l ü h b i r n e gut erin­nern. s t o p < | | | ENDE 3.07.01

nach­rich­ten von noe »

polaroidrose2

///

schläfer

2

bamako : 5.14 — Wer um halb vier Uhr mor­gens am Zen­tral­bahn­hof in eine Stra­ßen­bahn steigt, wird bald bemer­ken, dass es sich bei die­sen Stra­ßen­bah­nen um Ver­kehrs­mit­tel han­delt, in wel­chen schla­fen­de Men­schen rei­sen. Mehr­fach habe ich, zufäl­li­gen Him­mels­rich­tun­gen fol­gend, Expe­di­tio­nen unter­nom­men. Ent­we­der ist es die Zeit, weder Tag noch Nacht, die dazu führt, dass kein Mensch dort wach sein kann, oder aber etwas schwebt in der Luft, das unwi­der­steh­lich müde macht. Auch ich selbst schla­fe bei­na­he sofort, wenn ich mich set­ze. Ich gehe also auf und ab, nie­mand bemerkt mich, auch der Fah­rer der Stra­ßen­bahn scheint um die­se Zeit fest zu schla­fen. Ein­mal, kürz­lich, waren unge­wöhn­lich vie­le Fahr­gäs­te unter­wegs. Ich konn­te sie hören, lei­se Lebens­äu­ße­run­gen von der Art des Gesprächs, das wache Men­schen mit­ein­an­der füh­ren, wenn sie sich schon lan­ge nichts mehr zu sagen haben. Sobald ich schla­fen­de Men­schen im Vor­über­kom­men heim­lich betrach­te, Men­schen, die ihre Augen mit etwas Haut zuge­deckt haben, kann ich kaum glau­ben, dass sie jemals gefähr­lich sein könn­ten, böse mit­tels gespro­che­ner oder geschrie­be­ner Wor­te, gewalt­tä­tig mit Fäus­ten, Mes­sern, Pis­to­len. Ich mei­ne, unter ihren schim­mern­den Lid­häut­chen träu­men­de Augen erken­nen zu kön­nen, manch­mal schnap­pen sie nach etwas Licht. — stop
polaroidleuchttierchen2

///

camilla

2

hima­la­ya : 5.32 — Ob Camil­la wirk­lich exis­tier­te, ver­mag ich nicht mit Sicher­heit zu sagen. Aber der klei­ne Mann, Feli­pe, der von Camil­la erzähl­te, exis­tiert tat­säch­lich, er hat mir wäh­rend einer mor­gend­li­chen Bus­fahrt die Hand gege­ben, eine klei­ne, raue Hand, die Hand eines Man­nes, der ein Leben lang hart gear­bei­tet haben muss. Ein Fin­ger sei­ner Hand fehl­te, glau­be ich, ja, ich bin mir nicht sicher, ich mei­ne gespürt zu haben, dass etwas fehl­te, sein fes­ter Hän­de­druck, und als ich nach­se­hen woll­te, hat­te Feli­pe sei­ne Hand eilig hin­ter dem Rücken ver­steckt. Ich frag­te ihn, wo er gebo­ren wur­de, er ant­wor­te­te mit einem Namen, der wun­der­schön in mei­nen Ohren klang, einen spa­ni­schen Namen. Er wohn­te in die­ser Stadt sein Leben lang. Fünf­zig Jah­re arbei­te­te er in einer Fabrik, in wel­cher Papie­re erzeugt wur­den, die in der Lage waren, Strom zu lei­ten. Man mach­te aus die­sen merk­wür­di­gen Papie­ren zum Bei­spiel Bücher, die sich in küh­ler Luft erwärm­ten. Beim Schnei­den der Papier­bö­gen könn­te die Geschich­te mit dem Fin­ger pas­siert sein vor lan­ger Zeit, als Camil­la noch nicht in sei­nem Leben gewe­sen war. Wie Feli­pe von Camil­la erzähl­te, leuch­te­ten sei­ne Augen, er ist doch ein groß­ar­ti­ger Erzäh­ler. Dass sie ihn trotz sei­nes feh­len­den Fin­gers lieb­te, erzähl­te er nicht, aber dass sie ein wenig grö­ßer war als er selbst, und dass sie über wun­der­ba­re Ohren ver­füg­te, die wackel­ten, wenn sie lach­te. Mit dem Alter wur­de Camil­la klei­ner. Weil auch Feli­pe klei­ner wur­de, änder­te sich nichts dar­an, dass sie grö­ßer war. Wie ich ihn so sah, neben sei­nem Kof­fer sit­zend im schau­keln­den Bus, dach­te ich dar­an, dass wir noch immer in einer Zeit leben, da Men­schen sich damit abfin­den müs­sen, dass Fin­ger für immer ver­schwin­den, oder Camil­la mit ihren beben­den Ohren. — stop

polaroidwindows

///

apfel pfirsich bananen

2

sier­ra : 3.15 — Es war kurz nach sechs Uhr mor­gens. Ich beob­ach­te­te am Flug­ha­fen eine Frau, wie sie im Super­markt Früch­te berühr­te. Ihre Hän­de steck­ten in Plas­tik­hand­schu­hen, sie trug eine Bril­le, die groß aus­ge­fal­len war, und einen papie­re­nen Schutz vor dem Mund, der sich wie ein Segel vor ihrem Atem bläh­te. Sie schien sehr auf­ge­regt zu sein, ihre Hän­de beweg­ten sich has­tig, zwei Äpfel, einen Pfir­sich, drei Bana­nen leg­te sie in ihr Körb­chen ab, dann eil­te sie wei­ter sofort zur Kas­se, wo sie war­ten muss­te. Sie wirk­te selt­sam ver­lo­ren, kaum jemand schien sie zu beach­ten. Sie stand in der Schlan­ge, unru­hig, eine Erschei­nung, als wäre sie ver­se­hent­lich viel zu früh an einem Zeit­ort ange­kom­men, der bis jetzt nicht bereit war, sie auf­zu­neh­men. Plötz­lich stell­te sie das Körb­chen, das sie auf ihrem Roll­kof­fer balan­cier­te, auf dem Boden ab und flüch­te­te. — Ein Gedan­ke zunächst, dann ein Wort, ein ers­tes Wort, ein Satz, ein ers­ter Satz. Dort her­um wach­sen wei­te­re Gedan­ken, lang­sa­me Tage, Tage des Sam­melns, lang­same Näch­te, Näch­te des War­tens, Land ent­steht, Land, auf dem sich’s leben und erzäh­len lässt. Zei­chen für Zei­chen, das Wach­sen eines Koral­len­mun­des.- stop

ping

///

eidechsen

2

echo : 1.35 — Eine Bekann­te, die in einem kur­di­schen Berg­dorf groß gewor­den ist, erzähl­te, sie habe als Kind im Som­mer mit Eidech­sen gespielt, im Win­ter hüpf­te sie vom Dach ihres Eltern­hau­ses in den Schnee. Es gab kein Tele­fon und die Schu­le lag drei Stun­den zu Fuß ent­fernt. Man konn­te die Kin­der von Wei­tem über den Weg sprin­gen sehen, wie sie nach Hau­se kamen, da hat­ten sie noch 2 Stun­den zu gehen. Eine kar­ge Land­schaft, kaum Bäu­me, aber blü­hen­de Büsche, deren Namen sich nicht so leicht in die deut­sche Spra­che über­set­zen las­sen. Ihren ers­ten Toten hat­te das Mäd­chen wahr­ge­nom­men, als sie noch nicht schrei­ben konn­te. Er lag auf dem Rücken auf einer Stra­ße unweit der Schu­le. Ein dün­ner Fluss von Blut kam unter dem Kör­per her­vor, auf dem Flie­gen klet­ter­ten. Sie habe die Augen fest zuge­macht, zu spät. Es ist jetzt eine schwe­re Zeit für sie und ihre Fami­lie. Ich erzähl­te ihr von Fil­men, die ich gese­hen hat­te, auf mei­nem Bild­schirm unter dem Dach. Tau­sen­de Kin­der, Frau­en, Män­ner, die vor IS-Scher­gen in die Ber­ge flüch­te­ten, ohne Was­ser und Nah­rung. Natür­lich kann­te sie alle die­se Bil­der. Ich sag­te, ich wäre bei­na­he sicher, dass die Art und Wei­se, wie ich flüch­ten­de, lei­den­de Men­schen auf Bild­schir­men betrach­te, von der Art der Fern­rohr­be­ob­ach­tung sei. Sie ant­wor­te­te unver­züg­lich, lei­se Stim­me. — stop
ping
polaroidfenster

///

überall liegen Bücher herum

ping
ping
ping

echo : 2.26 — Frü­her ein­mal exis­tier­ten Bücher, deren Sei­ten mit­ein­an­der ver­bun­den waren. Bevor man die Sei­ten die­ser Bücher lesen konn­te, muss­te man sie von­ein­an­der tren­nen. Selt­sa­mer­wei­se hat­te ich ihre Exis­tenz ver­ges­sen, bis ich soeben sol­che Bücher in einem Text von Natha­lie Sar­rau­te bemerk­te. Aber viel­leicht ist das Wort ver­ges­sen, in die­sem Zusam­men­hang nicht rich­tig gewählt, ich hat­te jah­re­lang nicht an sie gedacht, im Gehei­men waren sie ver­mut­lich immer anwe­send gewe­sen. Sofort begann ich damit, die Umge­bung mei­ner Erin­ne­rung zu erkun­den. Ich ent­deck­te eine Tan­te. Wenn die Tan­te zu Besuch kam, küss­te sie mich auf die Stirn. Es gab dann immer Lauch­sup­pe, weil sie einen Gemü­se­händ­ler kann­te, der ihr Lauch­stan­gen schenk­te. Die­se Tan­te also, deren Gesicht zer­furcht war von unzäh­li­gen Fal­ten, schenk­te mir ein­mal ein Buch genau die­ser erwähn­ten Art, ein Buch, des­sen Sei­ten mit­ein­an­der ver­bun­den waren, sodass ich jede Sei­te mit einer Sche­re zunächst von der nächs­ten tren­nen muss­te. Das Buch war kein Kin­der­buch gewe­sen, ich hat­te noch nicht sehr viel mit Büchern zu tun zu die­sem Zeit­punkt, aber Natha­lie Sar­rau­te, die damals unge­fähr in mei­nem Alter gewe­sen sein könn­te, in einem Alter, als mich die Tan­te mit den Lauch­stan­gen noch besuch­te. Sie notier­te: Es lie­gen über­all Bücher her­um, in allen Zim­mern, auf den Möbeln und sogar auf dem Boden, Bücher, die Mama und Kola gebracht haben oder die mit der Post gekom­men sind … klei­ne­re, mitt­le­re und gro­ße … Ich neh­me die Neu­an­kömm­lin­ge in Augen­schein, ich schät­ze die Mühe, die jedes erfor­dern wird, die Zeit, die es mich kos­ten wird … Ich wäh­le eins aus und set­ze mich mit dem auf­ge­schla­ge­nen Buch auf den Knien hin, ich umklam­me­re das brei­te Papier­mes­ser aus grau aus­se­hen­dem Horn, und ich fan­ge an … zuerst zer­trennt das waa­ge­recht gehal­te­ne Papier­mes­ser den obe­ren Falz der vier zusam­men­hän­gen­den Dop­pel­sei­ten, dann senkt es sich, rich­tet sich wie­der auf und glei­tet zwi­schen die bei­den Sei­ten, die nur noch längs­seits mit­ein­an­der ver­bun­den sind … dann kom­men die „leich­ten“ Sei­ten, sie sind an ihrem lan­gen Rand offen und bra­chen nur noch oben getrennt wer­den. Und wie­der die vier „schwie­ri­gen“ Sei­ten … und dann vier „leich­te“, und dann vier „schwie­ri­ge“, und so wei­ter, immer schnel­ler, mei­ne Hand wird müde, mein Kopf wird schwer, er brummt, mir wird ein wenig schwind­lig … „Hör jetzt auf, mein Lieb­ling, das reicht, hast du wirk­lich nichts Inter­es­san­te­res zu tun? Ich wer­de beim Lesen selbst auf­schnei­den, das stört mich nicht, ich mache das ganz auto­ma­tisch …“ Es kommt jedoch nicht infra­ge, dass ich auf­ge­be. — stop / Natha­lie Sar­rau­te Kind­heit — aus der fran­zö­si­schen Spra­che über­setzt von Eri­ka und Elmar Tophoven

ping



ping

ping