Aus der Wörtersammlung: zentimeter

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habitat

9

ulsys­ses : 5.08 — Ich kam ins Gespräch mit einem Mann, der vom Pro­jekt einer Men­schen­ge­stal­tung erzähl­te. Das war inmit­ten der Nacht im Café gewe­sen. Ich erin­ne­re mich, dass ich ihn frag­te, ob er For­scher oder Desi­gner sei, weil er ana­to­mi­sche Zeich­nun­gen mit­tels eines iPads stu­dier­te. Eine der Zeich­nun­gen stell­te einen Unter­arm dar, wie er in der Wirk­lich­keit von oben her zu sehen sein wür­de. Auf die­sem gezeich­ne­ten Arm waren Erhe­bun­gen zu erken­nen, waben­för­mi­ge For­ma­tio­nen von einem Zen­ti­me­ter Höhe, die mich an pocken­ar­ti­ge Gebil­de erin­ner­ten, aber doch regel­mä­ßig und eben künst­li­chen Ursprungs waren, mit Vor­satz erstellt. Ich hör­te, dass es sich bei die­sen Gebil­den um klei­ne Häu­ser han­deln soll, in wel­chen Tie­re ange­sie­delt wer­den könn­ten, Zwerg­bie­nen, jedoch bevor­zugt Amei­sen oder sehr klei­ne Flie­gen. Stel­len sie sich vor, sag­te der Mann, was sie hier sehen an die­ser Stel­le, sind von Haut bewach­se­ne Habi­ta­te, dort exis­tier­ten tau­sen­de Tie­re, die nur dar­auf war­ten, bei bes­ter Gele­gen­heit aus­zu­schwär­men, sagen wir so. Unver­züg­lich flat­ter­te ein Nacht­fal­ter von dun­kel­blau­er Far­be um den Kopf des Man­nes her­um. Wei­te­re kamen hin­zu, bald waren es so vie­le, dass ich sie nicht zäh­len konn­te. Sie klet­ter­ten unter dem Hemd des Man­nes her­vor, an den Armen und am Kra­gen. Ein lei­ses Rau­schen war zu ver­neh­men und die Luft schmeck­te bit­ter. Ich hör­te noch wie sich der Mann erkun­dig­te, ob ich nicht doch beein­druckt sei. Ich berich­te­te ihm aus­führ­lich von mei­ner Begeis­te­rung, von mei­nem Wunsch, selbst über Habi­ta­te die­ser Art ver­fü­gen zu dür­fen, es war eine nach­drück­li­che Art und Wei­se zu spre­chen, und doch weiß ich nicht, ob der Mann mich zu die­sem Zeit­punkt noch sehen konn­te oder hören, so dicht war die Wol­ke flat­tern­der Tie­re gewor­den. Nach weni­gen Minu­ten stand ich auf und ging davon und erwach­te. Und weil noch Nacht war, schlief ich gleich wie­der ein. — stop

ping

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marías

2

echo

~ : oe som
to : louis
sub­ject : MARÌAS
date : aug 10 13 10.58 p.m.

Seit Noe eine Bril­le trägt, liest er zügig und feh­ler­frei wie noch vor Mona­ten aus Büchern, die wir zu ihm in die Tie­fe sen­den. Als ich ihn besuch­te, war er müde von der Lek­tü­re Javier Marí­as gera­de eben ein­ge­schla­fen. Und so konn­te ich für län­ge­re Zeit heim­lich sein Gesicht betrach­ten hin­ter der Schei­be von gepan­zer­tem Glas. Er ist blass gewor­den. Kein Wun­der, kaum Son­nen­licht an der Gren­ze zur Fins­ter­nis. Wäh­rend ich Noe betrach­te­te, wan­der­te eine Put­zer­schne­cke über sei­ne Stirn dahin. Sie stieg bald über Noes Nase abwärts, um kurz dar­auf in aller See­len­ru­he sei­ne lin­ke Wan­ge zu bewan­dern. Er scheint sich an die Exis­tenz der Tie­re auf sei­nem Kör­per gewöhnt zu haben, nach wie vor sind es fünf Schne­cken. Er wird von ihren Berüh­run­gen nie­mals wach, selbst dann nicht, wenn sie sich um sei­ne Lip­pen bemü­hen. Ich über­leg­te, wie der Geruch der Luft in Noes Anzug nach lan­ger Zeit der Abge­schie­den­heit beschaf­fen sein könn­te. Ein Schwarm Hai­füss­lie­re näher­te sich, neu­gie­ri­ge Wesen? Viel­leicht wur­den sie von Helm­licht Noes ange­zo­gen, einem sich lang­sam durch das Zwie­licht dre­hen­den Fin­ger. Er scheint zu fla­ckern. Ich hat­te ver­ges­sen, wie jung Noe doch ist. Ohne ihn aus der Nähe sehen zu kön­nen, nur sei­ne lesen­de Stim­me hörend, war der Tau­cher in mei­ner Wahr­neh­mung geal­tert, ohne dass ich das bemerk­te. Sein Gesicht ist schmal gewor­den. Ich ver­moch­te sei­ne Augen­bäl­le zu erken­nen, die sich unter ihren Lidern hin und her beweg­ten. Plötz­lich sah er mich an. Er lächel­te, und er sprach ein paar Wör­ter, die ich nicht ver­ste­hen konn­te, obwohl ich nur weni­ge Zen­ti­me­ter ent­fernt gewe­sen war. Ich ant­wor­te­te, ich sag­te: Noe, hör zu, Dein Vater ist gestor­ben. Da lach­te Noe, ver­mut­lich dach­te er: Der Mann ist so nah und er spricht und doch kann ich nicht hören, was er sagt. Dann mach­te ich mich an die Arbeit. Ich befes­tig­te Noes Bril­le an sei­nem Helm. — Dein OE SOM

gesen­det am
10.08.2013
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oe som to louis »

polaroidsecuso

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nummer 6

2

tan­go : 3.56 — An einem Som­mer­tag gehe ich mit Tom spa­zie­ren. Er ist ein ziem­lich gro­ßer, jun­ger Mann, schlak­sig, der, wäh­rend er von sei­nen Erleb­nis­sen im Prä­pa­rier­saal erzählt, immer wie­der ein­mal einen Stein oder ein Stück Holz vom Boden hebt, um es in den Fluss zu wer­fen. Da ist näm­lich ein Fluss, Tom woll­te am Fluss spa­zie­ren, ich ahne wes­halb. Er scheint, indem er Stei­ne wirft, genau­er den­ken zu kön­nen. Hin und wie­der läuft er in den Wald, der unse­ren Weg beglei­tet und bleibt für eini­ge Minu­ten ver­schwun­den. Er spricht sehr schnell, ich kann kaum fol­gen, er will mir des­halb noch eini­ge Gedan­ken notie­ren, damit ich sie aus­dru­cken kann. Weni­ge Tage nach unse­rem Spa­zier­gang kommt tat­säch­lich eine E‑Mail, eine sehr prä­zi­se Form der Beob­ach­tung. Tom: > Ich ver­su­che jetzt näher her­an­zu­ge­hen. Noch haben wir den 1. Tag. Wir haben mit der Prä­pa­ra­ti­on des Kör­pers begon­nen. Wir haben die Kör­per auf den Tischen inspi­ziert, wir haben ein Lei­chen­pro­to­koll ange­fer­tigt, Haut­schnit­te gesetzt. Sie sehen, wie wir uns über unse­re Arbeits­ti­sche beu­gen. Vier von uns befin­den sich auf der einen, vier auf der ande­ren Sei­te des Tisches. Jedem von uns wur­de eine Posi­ti­on am Prä­pa­rat zuge­ord­net. Ich habe die Num­mer 6. Also arbei­te ich zu die­sem Zeit­punkt in der Höhe der Brust. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich Katha­ri­na. Von den Lei­chen steigt ein Dunst auf, den man nicht sehen kann, aber zu spü­ren bekommt. Unse­re Augen sind gerö­tet. Das ist eine Situa­ti­on, an die wir uns zunächst noch zu gewöh­nen haben. Skal­pel­le, Pin­zet­ten, Hän­de sind nur weni­ge Zen­ti­me­ter von­ein­an­der ent­fernt. Wir könn­ten uns ver­let­zen, des­halb hal­ten wir unse­re Werk­zeu­ge, als wür­den wir Blei­stif­te füh­ren. Wir zeich­nen auf sehr engen Bah­nen. Wir begin­nen in der regio praes­ter­na­lis. Dort haben die Haut­schnit­te des Assis­ten­ten Zugang erzeugt, dort kön­nen wir die Haut mit unse­ren Pin­zet­ten auf­neh­men und etwas vom Kör­per heben. Eine ers­te unsi­che­re Bewe­gung. Wir span­nen die Haut. Wir schnei­den von der sub­cu­tis in Rich­tung der gespann­ten Haut, arbei­ten von innen nach außen, arbei­ten von medi­al nach late­ral. Haben wir gespro­chen? Ich kann mich nicht erin­nern. Aber ich sehe, dass ich mei­ne Hand bereits auf die Brust des Toten gestützt habe. Ich spü­re die Erschüt­te­run­gen, die durch die Bewe­gun­gen mei­ner Freun­de in dem Kör­per her­vor­ge­ru­fen wer­den. Wenn ich mich auf­rich­te, um mei­nen Rücken zu ent­span­nen, erken­ne ich die Fort­schrit­te mei­ner Arbeit. Ich habe ein Stück der Haut so weit vom Kör­per gelöst, dass ich es zurück­klap­pen kann. Wor­an habe ich gedacht in die­ser ers­ten Stun­de der Arbeit? Habe ich dar­an gedacht, dass ich begon­nen habe, einen Leich­nam zu zer­glie­dern? Ich weiß es nicht! Aber ich kann Ihnen sagen, dass es nicht leicht ist, ein Skal­pell zu füh­ren, als wür­de man damit schrei­ben. Ich kann Ihnen ver­si­chern, man geht nicht in die Tie­fe, wenn man Haut prä­pa­riert. Man packt einen Kör­per aus. Eine wah­re Gedulds­pro­be. Zen­ti­me­ter um Zen­ti­me­ter arbei­tet man sich über die Ober­flä­che des Kör­pers vor­an. Erstaun­lich, wie nah wir dem Leich­nam nach zwei Stun­den bereits gekom­men sind. — stop

polaroidwerkstatt

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am arm

pic

romeo : 5.25 — Ich hat­te ein Gebiet mei­nes lin­ken Unter­ar­mes nah des Ell­bo­gen­ge­len­kes von Haut befreit. Arbei­te­te mich bis in 1 Zen­ti­me­ter Tie­fe vor­an, ohne das Bewusst­sein zu ver­lie­ren. Mein Arm lag indes­sen flach auf dem Tisch. Beob­ach­te­te mei­ne rech­te Hand wie sie mit­tels einer Pin­zet­te Wur­zeln fili­gra­ner Bäu­me in die Ver­tie­fung senk­te. Die­se Bäu­me waren nicht höher als 3 Zen­ti­me­ter, Ahorn war dar­un­ter, Buchen, Eichen, Erlen. Spür­te, wie sie sich in mei­nem Kör­per vor­an­tas­te­ten. Ich wach­te auf. Es war fünf Uhr in der Früh. Sta­re, groß wie Amei­sen, ein gan­zer Schwarm, geis­ter­te durchs Zim­mer. — stop

polaroidlily

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eisvogelsphäre

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del­ta : 0.10 — Eis­vo­gel­wör­ter ent­deckt. Nicht erwar­te­te Viel­falt: Her­ku­les-Eis­vo­gel (Alce­do her­cu­les), Kobalt-Eis­vo­gel (Alce­do semi­t­or­qua­ta), Schil­ler­eis­vo­gel (Alce­do qua­dri­brachys), Men­in­ting-Eis­vo­gel (Alce­do men­in­ting) Azur­fi­scher (Alce­do azu­rea), Brust­band-Eis­vo­gel (Alce­do eury­zo­na), Blau­brust­fi­scher (Alce­do cya­nopec­ta), Sil­ber­fi­scher (Alce­do argen­ta­ta), Mada­gas­karzwerg­fi­scher oder Schwarz­schna­bel-Zwerg­fi­scher (Alce­do vint­sio­ides), Hau­ben-Zwerg­fi­scher oder Mala­chit-Eis­vo­gel (Alce­do cristata), Sao-Tomé-Zwerg­fi­scher (Alce­do tho­men­sis), Prin­ci­pe-Zwerg­fi­scher (Alce­do nais), Weiß­bauch-Zwerg­fi­scher (Alce­do leu­co­gas­ter), Tür­kis­fi­scher (Alce­do coe­ru­le­s­cens), Papua­fi­scher (Alce­do pus­il­la) — Auch selt­sa­me Wör­ter in fol­gen­der Nah­auf­nah­me: Der Eis­vo­gel ernährt sich von Fischen, Was­ser­in­sek­ten und deren Lar­ven, Klein­kreb­sen und Kaul­quap­pen. Er kann Fische bis neun Zen­ti­me­ter Län­ge mit einer maxi­ma­len Rücken­hö­he von zwei Zen­ti­me­tern ver­schlin­gen. Bei lang­ge­streck­ten, dün­nen Arten ver­schiebt sich die Höchst­gren­ze auf zwölf Zen­ti­me­ter Kör­per­län­ge. Die Jagd­me­tho­de des Eis­vo­gels ist das Stoß­tau­chen. Von einer pas­sen­den Sitz­war­te im oder nahe am Was­ser wird der Stoß ange­setzt. Wenn er eine mög­li­che Beu­te ent­deckt, stürzt er sich schräg nach unten kopf­über ins Was­ser und beschleu­nigt dabei meist mit kur­zen Flü­gel­schlä­gen. Die Augen blei­ben beim Ein­tau­chen offen und wer­den durch das Vor­zie­hen der Nick­haut geschützt. Ist die Was­ser­ober­flä­che erreicht, wird der Kör­per gestreckt und die Flü­gel eng ange­legt oder nach oben aus­ge­streckt. Bereits kurz vor dem Ergrei­fen der Beu­te wird mit aus­ge­brei­te­ten Flü­geln und Bei­nen gebremst. Zur Was­ser­ober­flä­che steigt er zuerst mit dem Nacken, wobei er den Kopf an die Brust gepresst hält. Schließ­lich wird der Schna­bel mit einem Ruck aus dem Was­ser geris­sen und der Vogel star­tet ent­we­der sofort oder nach einer kur­zen Ruhe­pau­se zum Rück­flug auf die Sitz­war­te. Im All­ge­mei­nen dau­ert ein Ver­such nicht mehr als zwei bis drei Sekun­den. Der Eis­vo­gel kann aber auch aus einem kur­zen Rüt­tel­flug tau­chen, wenn ein geeig­ne­ter Ansitz fehlt. Nicht jeder Tauch­gang ist erfolg­reich, er stößt oft dane­ben. Der Eis­vo­gel benö­tigt zur Bear­bei­tung der Beu­te in der Regel einen dicken Ast oder eine ande­re, mög­lichst wenig schwin­gen­de Unter­la­ge. Klei­ne­re Beu­te wird mit kräf­ti­gem Schna­bel­drü­cken oft sofort ver­schluckt. Grö­ße­re Fische wer­den auf den Ast zurück­ge­bracht, dort tot geschüt­telt oder auf den Ast geschla­gen, im Schna­bel „gewen­det“ und mit dem Kopf vor­an ver­schluckt; ande­ren­falls könn­ten sich im Schlund die Schup­pen des Fisches sträu­ben. Der Eis­vo­gel schluckt sei­ne Beu­te in einem Stück. Unver­dau­li­ches wie Fisch­kno­chen oder Insek­ten­res­te wer­den etwa ein bis zwei Stun­den nach der Mahl­zeit als Gewöl­le her­aus­ge­würgt. / quel­le: wiki­pe­dia — stop
ping

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frau mit löffel

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india : 5.28 — Ein­mal mach­te ich einen Aus­flug zu einer Tan­te, die seit über zehn Jah­ren in einem Heim lebt, weil sie sehr alt ist und außer­dem nicht mehr den­ken kann. Der Flie­der blüh­te, die Luft duf­te­te, mei­ne Tan­te saß mit ande­ren alten Frau­en an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schla­fen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augen­li­der durch­sich­tig gewor­den, Augen waren unter die­ser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt hel­ler Far­ben. Ich drück­te mei­ne Stirn gegen die Stirn mei­ner Tan­te und nann­te mei­nen Namen. Ich sag­te, dass ich hier sei, sie zu besu­chen und dass der Flie­der im Park blü­hen wür­de. Ich sprach sehr lei­se, um die Frau­en, die in unse­rer Nähe saßen, nicht zu stö­ren. Sie schlie­fen einer­seits, ande­re betrach­te­ten mich inter­es­siert, so wie man Vögel betrach­tet oder Blu­men. Es ist schon selt­sam, dass ich immer dann, wenn ich glau­be, dass ich nicht sicher sein kann, ob man mir zuhört, damit begin­ne, eine Geschich­te zu erzäh­len in der Hoff­nung, die Geschich­te wür­de jen­seits der Stil­le viel­leicht doch noch Gehör fin­den. Ich erzähl­te mei­ner Tan­te von einer Wan­de­rung, die ich unlängst in den Ber­gen unter­nom­men hat­te, und dass ich auf einer Bank in ein­tau­send Meter Höhe ein Tele­fon­buch der Stadt Chi­ca­go gefun­den habe, das noch les­bar gewe­sen war und wie ich den Ein­druck hat­te, dass ich aus den Wäl­dern her­aus beob­ach­tet wür­de. Ich erzähl­te von Leber­blüm­chen und vom glas­kla­ren Was­ser der Bäche und vom Schnee, der in der Son­ne knis­ter­te. Doh­len waren in der Luft, wun­der­vol­le Wol­ken­ma­le­rei am Him­mel, Sala­man­der schau­kel­ten über den schma­len Fuß­weg, der auf­wärts führ­te. So erzähl­te ich, und wäh­rend ich erzähl­te eine hal­be Stun­de lang, schien mei­ne Tan­te zu schla­fen oder zuzu­hö­ren, wie immer, wenn ich sie besu­che. Ihr Mund stand etwas offen und ich konn­te sehen wie ihr Bauch sich hob und senk­te unter ihrer Blu­se. Am Tisch gleich gegen­über war­te­te eine ande­re alte Frau, sie trug wei­ßes Haar auf dem Kopf,  Haar so weiß wie Schreib­ma­schi­nen­pa­pier. Vor ihr stand ein Tel­ler mit Erb­sen. Die alte Frau hielt einen Löf­fel in der Hand. Die­ser Löf­fel schweb­te wäh­rend der lan­gen Zeit, die ich erzähl­te, etwa einen Zen­ti­me­ter hoch in der Luft über ihrem Tel­ler. In die­ser Hal­tung schlief die alte Frau oder lausch­te. — stop

 

polaroidgebirge

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ein ballon

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echo : 6.22 — Ein Vogel, ein Sper­ling, sitzt auf dem Sims vor mei­nem Fens­ter. Es ist kurz nach zwei Uhr. Der Vogel scheint zu schla­fen unter einem geschlos­se­nen Augen­lid, das ande­re Auge schaut mich an, wie ich mich vor­sich­tig nähe­re. Lang­sam fah­re ich mit dem Kopf an die Schei­be her­an. Ich glau­be, ich bin einem Sper­ling in mei­nem Leben noch nie so nahe gekom­men, nur Zen­ti­me­ter, etwas Glas, etwas Luft tren­nen uns. Der Vogel scheint mich in die­sem Moment sorg­sam zu beob­ach­ten, bei­de Augen sind geöff­net, er plus­tert sich, jetzt macht er bei­de Augen wie­der zu. Ich gehe zum Schreib­tisch, bin schläf­rig gewor­den, nein, ich darf mich auf kei­nen Fall aufs Sofa setz­ten, das wäre das Ende der Arbeits­nacht. Ich notie­re: Auf dem Broad­way, Ecke 28. Stra­ße, steht ein Mann zwi­schen Autos vor einer Ampel. Er ver­kauft Pis­to­len, die Sei­fen­bla­sen erzeu­gen. Es ist kalt und win­dig, wes­we­gen dem Lauf der Pis­to­le nur klei­ne Sei­fen­bla­sen ent­kom­men. Der Mann schimpft vor sich hin, er droht dem Him­mel mit der Waf­fe. Die Ges­te bleibt ohne Wir­kung, wes­halb der Mann sich wie­der auf den Lauf sei­nes Werk­zeu­ges kon­zen­triert. Sobald ein kopf­gro­ßer Sei­fen­bal­lon doch ein­mal ent­steht, der Aus­druck empör­ter Zufrie­den­heit auf sei­nem Gesicht, aber dann platzt die Bla­se und er fängt wie­der von vor­ne an, wischt sich die Nase, die ihm davon zu lau­fen droht, rich­tet sich den Lum­pen, der sein Gesicht umhüllt, die Ampel springt auf grün, Autos fah­ren an, wei­te­re Autos hal­ten. Es ist kalt heu­te. Ich gehe süd­wärts spa­zie­ren bis ich den Uni­on Squa­re errei­che, sit­ze ein wenig in der Son­ne, Eich­hörn­chen wäl­zen sich wie Kat­zen auf dem san­di­gen Boden. Nach drei Stun­den keh­re ich zur Kreu­zung Broad­way Ecke 28 Stra­ße zurück. Ein Mann steht dort zwi­schen Autos vor einer Ampel. Er ver­kauft Pis­to­len, die Sei­fen­bla­sen erzeu­gen. Es ist der­sel­be Mann, den ich bereits beob­ach­te­te, es scheint sich bei die­ser Men­sche­n­er­schei­nung um einen Loop zu han­deln. Es ist denk­bar, dass es hun­dert­tau­sen­de ähn­li­cher Loops in der Stadt New York zu beob­ach­ten gibt, Loops, die in der Sub­way sich voll­zie­hen, Loops in Büro­land­schaf­ten, Loops in Waren­häu­sern. Ich freue mich über die­se Ent­de­ckung. Der Vogel vor dem Fens­ter lun­gert dort immer noch her­um. Es ist jetzt schon viel spä­ter gewor­den, ich habe sehr lang­sam gear­bei­tet. – Astor Pia­zolla / El Con­cier­to De Luga­no. — stop

ping

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fluggewicht

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marim­ba : 8.28 — Ver­gan­ge­ne Nacht hat­te ich einen lus­ti­gen Traum. Ich saß auf mei­nem Sofa mit einem Engel, der vom Flie­gen erzähl­te, davon genau­er, wie es ist eine Rei­se über den Atlan­tik zu unter­neh­men wenn man ein Engel ist, Flug­zei­ten ( 2 Stun­den ), Flug­hö­he ( 8 Meter ), Pro­vi­ant, Flie­ger­bril­le und alle die­se Din­ge, an die ich zuvor nie gedacht hat­te. Der Engel war im Moment unse­res Gesprä­ches unbe­klei­det gewe­sen, schnee­wei­ße Haut, 5 Zen­ti­me­ter Höhe. Eine fas­zi­nie­ren­de Situa­ti­on. Vor uns stan­den zwei gro­ße Kof­fer. Ich hat­te sie gewo­gen, Gepäck­stü­cke aus­ge­tauscht, um das Gewicht gut zu ver­tei­len. Und da war ein wei­te­rer Kof­fer, etwas klei­ner, ein Pilo­ten­kof­fer. Auch die­sen Kof­fer hat­te ich gewo­gen. Er war 15 Kilo­gramm schwer, ich soll­te ihn mit mir ins Flug­zeug neh­men. Wie ich den klei­nen Engel frag­te, war­um sein Kof­fer so schwer gewor­den sei, was er denn mit sich neh­men wer­de nach Ame­ri­ka, ein Wesen von 20 Gramm Gewicht, dar­an erin­ne­re ich mich noch, und wie der Engel bald auf sei­nem Kof­fer saß und ver­such­te einen Reiß­ver­schluss zu öff­nen. Dann wach. Regen in Strö­men. Sams­tag. – stopping

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raymond carver goes to hasbrouck heights

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echo : 22.12 — Es ist die Welt des Ray­mond Car­ver, die ich betre­te, als ich mit dem Bus die Stadt ver­las­se, west­wärts, durch den Lin­coln­tun­nel nach New Jer­sey. Der Blick auf den von Stei­nen bewach­se­nen Mus­kel Man­hat­tans, zum Grei­fen nah an die­sem Mor­gen küh­ler Luft. Dunst flim­mert in den Stra­ßen, deren Fluch­ten sich für Sekun­den­bruch­tei­le öff­nen, bald sind wir ins Gebiet nied­ri­ger Häu­ser vor­ge­drun­gen, Eis­zap­fen von Plas­tik fun­keln im Licht der Son­ne unter Regen­rin­nen. Der Bus­fah­rer, ein älte­rer Herr, begrüßt jeden zustei­gen­den Gast per­sön­lich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Has­b­rouck Heights, eine hal­be Stun­de Zeit, des­halb liest man in der Zei­tung, schläft oder schaut auf die Land­schaft, auf ros­ti­ge Brü­cken­rie­sen, die flach über die sump­fi­ge Gegend füh­ren. Und schon sind wir ange­kom­men, ein lie­be­voll gepfleg­ter Ort, der sich an eine stei­le Höhe lehnt, ein­stö­cki­ge Häu­ser in allen mög­li­chen Far­ben, groß­zü­gi­ge Gär­ten, Hecken, Büsche, Bäu­me sind auf den Zen­ti­me­ter genau nach Wün­schen ihrer Besit­zer zuge­schnit­ten. Nur sel­ten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlen­de­re von Stra­ße zu Stra­ße, wer­de dann freund­lichst gegrüßt, how are you doing, ich spü­re die Bli­cke, die mir fol­gen, Bäu­me, Blu­men, Grä­ser schau­en mich an, das Feu­er der Aza­leen, Eich­hörn­chen stür­men über sanft geneig­te Dächer: Habt ihr ihn schon gese­hen, die­sen frem­den Mann mit sei­ner Pola­roid­ka­me­ra, die­sen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns neh­men, wird klin­geln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gera­de foto­gra­fiert. Wol­len Sie sich betrachten?

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animals

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hibis­kus

~ : louis
to : Mr. jona­than noe kekkola
sub­ject : ANIMALS

Ges­tern, stel­len Sie sich vor, habe ich die ers­te Foto­gra­fie eines Papier­tier­chens ent­ge­gen­ge­nom­men. Sie zeigt das klei­ne Wesen, wie es sich durch die Luft eines abge­dun­kel­ten Labors bewegt. Bin vol­ler Freu­de, habe den hal­ben Tag her­um­ge­tanzt, soll­te lang­sam zur Ruhe kom­men. Eine Kopie der Auf­nah­me ist für Sie bei­gefügt. Sieht das nicht kraft­voll aus, eine Per­sön­lich­keit, ein Wun­der! Ich kom­me mei­nen Träu­men nun end­lich näher, mei­nen Wün­schen, mei­nen Geschich­ten in der Wirk­lich­keit. Neh­men wir ein­mal an, lie­ber rei­sen­der Freund, ein Bogen leben­den Papiers in der Grö­ße 15 x 30 Zen­ti­me­ter wür­de aus 750 Tau­send Tie­ren bestehen, ja, und neh­men wir ein­mal an, die­ses Papier wür­de schon jetzt in unse­rer Welt exis­tie­ren, dann wür­den vor uns auf einem Schreib­tisch 750 Tau­send klei­ne Her­zen schla­gen. Da muss doch irgend­ein Geräusch wahr­zu­neh­men sein, so vie­le Her­zen in nächs­ter Nähe auf engs­tem Raum. Auch einen Hauch von Luft wird man wohl spü­ren, eine Strö­mung, weil sie alle durch­ein­an­der atmen. — Ahoi! Ihr Louis

gesen­det am
06.02.2010
23.55 MEZ
1088 zeichen

lou­is to jonathan
noe kekkola »