Aus der Wörtersammlung: äste

///

rot

2

echo : 0.02 — Ich träum­te von einem roten Brief­kas­ten. Als ich ihn öff­ne­te, ent­deck­te ich wei­te­re Brief­käs­ten, rot wie der Brief­kas­ten, der sie ver­wahr­te. Es waren unge­fähr zwölf Brief­käs­ten in der Höhe und zwölf Brief­käs­ten in der Brei­te. Als ich einen die­ser klei­nen Brief­käs­ten besich­tig­te, waren in ihm zwölf Brief­käs­ten in der Brei­te und zwölf Brief­käs­ten in der Län­ge zu beob­ach­ten. In die­sem Moment beschloss ich, in der Erkun­dung der Brief­käs­ten nicht wei­ter fort­zu­fah­ren. Ich erwach­te und war zufrie­den. – stop
ping

///

vom zählen

2

romeo : 22.01 — Ein älte­rer Herrn beweg­te sich schwan­kend durch einen Zug, er zähl­te Men­schen, Fahr­gäs­te genau­er. Eine Frau kam ihm ent­ge­gen, auch sie zähl­te Men­schen. Bei­de notier­ten die Zah­len­früch­te ihrer Arbeit  je in eine eige­ne Lis­te. Die­se Begeg­nung zwei­er Zäh­len­der im Zug wie­der­hol­te sich mehr­fach. Wenn sich der zäh­len­de Mann und die zäh­len­de Frau auf dem Gang des Zuges tra­fen von Zeit zu Zeit, gaben sie vor, sich nicht zu ken­nen. Zunächst hat­te ich erwar­tet, sie wür­den sich ihre Zah­len gegen­sei­tig erzäh­len, viel­leicht um eine Sum­me zu bil­den, aber nein, sie spra­chen nicht, wür­dig­ten sich kei­nes Bli­ckes. Ver­mut­lich wer­den Sum­men etwas spä­ter gebil­det, viel­leicht sobald Abend gewor­den ist, wenn sich die gezähl­ten Men­schen der Tages­zü­ge ver­lau­fen haben und sich Zah­len gefahr­los addie­ren. — stop
ping

///

von regenschirmen

2

romeo : 6.48 — In der Däm­me­rung die Vor­stel­lung, ich wür­de unter Bäu­men lie­gen, Vögel sin­gen, was für ein wun­der­schö­ner Mor­gen, es ist warm, es ist kurz vor fünf. Ich höre wie sich ein gro­ßes Tier durchs Unter­holz bemüht, das könn­te ein Bär sein oder ein Hirsch oder ein Bison. Häu­ser exis­tie­ren an die­sem Mor­gen kei­ne, weder Brief­käs­ten noch Fahr­rä­der, ich ruhe auf Blät­tern, die ich am Abend zuvor zu einem Hau­fen leg­te. Es ist viel­leicht das Jahr 8022 vor Beginn unse­rer Zeit­rech­nung. Ich ahne noch nicht, dass ich bald eine Tas­se Kaf­fee begeh­ren wer­de. Ich bin glück­lich, ich bin noch kei­nem Wolf begeg­net. Aber ich habe, glau­be ich, die Appa­ra­tur eines Regen­schirms bereits erfun­den, sie ist, wie mein Bett, von höl­zer­nen Stäb­chen und Blät­tern gefer­tigt. Ver­mut­lich wer­de ich an einem wei­te­ren Tag in dem­sel­ben Leben erken­nen, dass ich aus einem grö­ße­ren Regen­schirm ein Haus bau­en könn­te, heu­te aber, in der Mor­gen­däm­me­rung, gera­de begin­nen die Vögel zu sin­gen, ich bin noch schläf­rig, noch kein Erfin­der­geist. Es ist warm, es exis­tie­ren weder Häu­ser, noch Fahr­rä­der, noch Brief­käs­ten, noch Uhren. — stop

ping

///

nachtmann

2

lima : 3.28 — Seit Jah­ren, Nacht für Nacht gegen drei Uhr, höre ich das Pfei­fen eines Zei­tungs­bo­ten, der auf einem Fahr­rad von Osten her in unse­re Stra­ße kommt, um nach einer Schlei­fe von weni­gen Minu­ten, die ihn west­wärts führt, wie­der zu ver­schwin­den. Ich bin ihm in die­ser lan­gen Zeit nie per­sön­lich begeg­net, und ich kann auch nicht mit Sicher­heit sagen, wel­che Zei­tung er in die Brief­käs­ten unse­res Hau­ses steckt. Ein ein­zi­ges Mal habe ich neu­gie­rig aus dem Fens­ter gespäht, ich erin­ne­re mich an eine bit­ter­kal­te Nacht. Die Gestalt des Man­nes war weit unten weit ent­fernt zu sehen gewe­sen, er trug eine Woll­müt­ze, Hand­schu­he und eine Leder­ja­cke, das ist viel­leicht der Grund, wes­halb er auch in hei­ßen Som­mer­näch­ten in mei­nen Augen wei­ter­hin eine Woll­müt­ze trägt und pfeift, weil ihm mög­li­cher­wei­se kalt ist und ein­sam. Es ist selt­sam, in all den Jah­ren sei­ner Gegen­wart in mei­nem Leben, schei­ne ich kei­nen wei­te­ren Gedan­ken zu sei­ner Per­son hin­zu­ge­fügt zu haben, als wäre der Mann eine abge­schlos­se­ne Geschich­te, die sich exakt wie­der­holt. Plötz­lich, vor weni­gen Minu­ten, die Fra­ge, ob der Mann even­tu­ell in der Zei­tung liest, die er zu den schla­fen­den Men­schen bringt, und ob ihm nicht manch­mal des­halb unheim­lich zumu­te sein könn­te. — stop

ping

///

schläfer

2

bamako : 5.14 — Wer um halb vier Uhr mor­gens am Zen­tral­bahn­hof in eine Stra­ßen­bahn steigt, wird bald bemer­ken, dass es sich bei die­sen Stra­ßen­bah­nen um Ver­kehrs­mit­tel han­delt, in wel­chen schla­fen­de Men­schen rei­sen. Mehr­fach habe ich, zufäl­li­gen Him­mels­rich­tun­gen fol­gend, Expe­di­tio­nen unter­nom­men. Ent­we­der ist es die Zeit, weder Tag noch Nacht, die dazu führt, dass kein Mensch dort wach sein kann, oder aber irgend etwas schwebt in der Luft, das unwi­der­steh­lich müde macht. Auch ich selbst schla­fe bei­na­he sofort, wenn ich mich set­ze. Ich gehe also auf und ab, nie­mand bemerkt mich, auch der Fah­rer der Stra­ßen­bahn scheint um die­se Zeit fest zu schla­fen. Ein­mal, vor Kur­zem, waren unge­wöhn­lich vie­le Fahr­gäs­te unter­wegs. Ich konn­te sie hören, lei­se Lebens­äu­ße­run­gen von der Art des Gesprächs, das wache Men­schen mit­ein­an­der füh­ren, wenn sie sich schon lan­ge nichts mehr zu sagen haben. Sobald ich schla­fen­de Men­schen im Vor­bei­kom­men heim­lich betrach­te, Men­schen, die ihre Augen mit etwas Haut zuge­deckt haben, kann ich kaum glau­ben, dass sie jemals gefähr­lich sein könn­ten, böse mit­tels gespro­che­ner oder geschrie­be­ner Wor­te, gewalt­tä­tig mit Fäus­ten, Mes­sern, Pis­to­len. Ich mei­ne, unter ihren schim­mern­den Lid­häut­chen träu­men­de Augen erken­nen zu kön­nen, manch­mal schnap­pen sie nach etwas Licht. — stop
polaroidleuchttierchen2

///

am telefon

pic

sier­ra : 6.05 — Mein Freund Lou­is erzähl­te eine Geschich­te von einem Mann, dem er vor weni­gen Jah­ren in New York begeg­net sein will. Ich wer­de kurz berich­ten, obwohl es schon spät gewor­den ist. An dem Tag, an dem Lou­is’ Geschich­te sich ereig­ne­te, wan­der­te er durch die Stadt ohne Ziel. Manch­mal stieg er in einen Zug der Sub­way und fuhr irgend­wo­hin. Ein­mal, es war Abend gewor­den, erreich­te er Brigh­ton Beach, aber anstatt den Strand zu besu­chen, fuhr er sofort wie­der zurück. Das war ein gro­ßes Glück gewe­sen, denn hät­te er nur einen oder zwei spä­te­re Züge nach Man­hat­tan genom­men, wäre er dem Mann, von dem er mir erzähl­te, ver­mut­lich nie begeg­net. Die­ser Mann war ein klei­ner, schmäch­ti­ger Herr, der breit­bei­nig vor einer Tür stand und zu tele­fo­nie­ren schien. Er sprach, ohne eine Pau­se zu machen, mit lau­ter Stim­me Wör­ter, die Lou­is nicht ver­ste­hen konn­te. Als der Zug nach einer hal­ben Stun­de Fahrt über den Dächern Brook­lyns in den Unter­grund tauch­te, geschah etwas Selt­sa­mes, denn der Mann sprach wei­ter in sein Tele­fon, obwohl jede Funk­ver­bin­dung im Tun­nel­sys­tem sofort unter­bro­chen wur­de. Kaum jemand unter den Fahr­gäs­ten schien den klei­nen Mann zu bemer­ken. Eine Fünf-Mann-Band betrat den Wagon, sie spiel­te einen Brass­tan­go, der Zug beb­te und der schmäch­ti­ge Mann tele­fo­nier­te und lach­te und spen­de­te einen Dol­lar. In der Lex­ing­ton Ave­nue, Höhe 63. Stra­ße, stieg der Mann aus, fuhr mit der Roll­trep­pe in das Zwi­schen­ge­schoss, stieg zur Stra­ßen­ebe­ne hin­auf und lief wei­ter nord­wärts. Er hat­te bis dahin, eine Stun­de war seit sei­ner Ent­de­ckung ver­gan­gen, nie auf­ge­hört zu spre­chen, und auch jetzt, im Gehen, setz­te er sei­ne Rede fort. An der Ecke zur 83. Stra­ße besuch­te der Mann eine Piz­ze­ria, auch Lou­is trat in den düs­te­ren Laden ein. Er hör­te dem Mann wei­ter zu, wie er mit vol­lem Mund sei­nen Text voll­zog, als könn­te er unmög­lich auf­hö­ren, als wür­de etwas Schreck­li­ches gesche­hen, wenn er nur ein­mal für eine Sekun­de eine Pau­se mach­te. Bald trat der klei­ne, spre­chen­de Mann wie­der auf die Stra­ße und setz­te sei­nen Weg in Rich­tung Har­lem fort. Es war inzwi­schen spä­ter Abend gewor­den, die Luft küh­ler, Men­schen saßen ent­lang der Häu­ser­wän­de auf Klapp­stüh­len. Um kurz nach Mit­ter­nacht plötz­lich hielt der Mann an und ver­stumm­te. Er stand eini­ge Minu­ten ganz still. Er schien zu über­le­gen. Dann leg­te er das Tele­fon auf den Boden ab, dreh­te sich um und mach­te sich auf den Weg zurück. Er ging zunächst süd­wärts über die Lex­ing­ton Ave­nue, Höhe der 60. Stra­ße bog er nach links ab, schlen­der­te lang­sam zur Tram­way — Sta­ti­on, gegen drei Uhr lös­te er ein Ticket. — stop
polaroidtram

///

von eisbriefboten

9

nord­pol : 6.33 — Ein Eis­brief­bo­te war­te­te ges­tern, es war ein Diens­tag, vor mei­ner Woh­nungs­tü­re im 22. Stock. Der Mann trug blaue Turn­schu­he der Mar­ke Nike, kur­ze, hel­le Hosen und ein wei­ßes Hemd, das viel zu groß gewe­sen war für sei­nen schmäch­ti­gen Kör­per. Er schwitz­te, weil er die Trep­pe neh­men muss­te, da in mei­nem Haus kei­ner­lei Auf­zug exis­tiert, wes­halb das Haus nicht sehr beliebt ist bei Gäs­ten und Boten. Meis­tens bie­te ich den hart arbei­ten­den Män­nern über die Funk­sprech­an­la­ge an, ihnen ent­ge­gen zu kom­men. Ich sage: Tref­fen wir uns im 11. Stock in 10 Minu­ten! Ges­tern aber war ich sehr müde gewe­sen. Ich trank einen Kaf­fee, tele­fo­nier­te mit einer Behör­de, und war­te­te dann still in aller Ruhe bis der Mann bei mir oben unter dem Dach ange­kom­men war. Es sind die­se ers­ten Bli­cke, die ich nie ver­ges­se. Der erschöpf­te Bote öff­ne­te sei­ne Kühl­ta­sche und über­reich­te mir einen wei­te­ren eis­ge­kühl­ten wei­chen Behäl­ter, in wel­chem sich nun unmit­tel­bar ein Brief von Eis befand, den ich zunächst in mei­nen Gefrier­schrank zu wei­te­ren Eis­brie­fen und Eis­bü­chern leg­te. Kurz dar­auf setz­te ich mich ins Trep­pen­haus und hör­te dem jun­gen Mann bei sei­nem Abstieg zu. Er war sehr schnell unter­wegs gewe­sen, er schien zu flie­gen, stürz­te im fünf­ten oder sechs­ten Stock, Minu­ten lang war kein Laut zu hören, dann das Wim­mern einer Ambu­lanz. Da saß ich längst in mei­ner Küche und las, was mir ein Freund notier­te, wie er schrieb, mit gro­ßer Freu­de auf dem ver­gäng­lichs­ten Mate­ri­al, das ihm zur Ver­fü­gung ste­he: Lie­ber Lou­is, die­ser Brief ist geheim. Er wird sich auf­lö­sen, sobald oder bevor Du ihn gele­sen haben wirst. Du musst Dich also beei­len oder den Brief immer wie­der ein­mal in den Kühl­schrank zurück­le­gen oder ihn foto­gra­fie­ren, ehe er geschmol­zen sein wird. Sei behut­sam, mein Lie­ber. Lies bit­te nicht an Tagen, da es warm ist in Dei­ner Woh­nung unter dem Dach, es könn­te sein, dass Du in schwü­ler Luft nicht schnell genug lesen kannst. Ich ver­mu­te, ich habe die Wör­ter an die­ser Stel­le bereits ver­geb­lich geschrie­ben. Dein K. — stop
ping

///

lufteis

9

ulys­ses : 0.22 — Ob es geheim­dienst­li­chen Ana­ly­se­ma­schi­nen mög­lich ist, zwi­schen fik­ti­ven Tex­ten und  nicht­fik­ti­ven Tex­ten zu unter­schei­den? — Wei­ter­hin Wär­me in den Zim­mern. Kaum Flie­gen, viel­leicht weil es drau­ßen schön kühl ist. Gewit­ter­duft, wür­zig nach Moos und Frö­schen. Ich erin­ne­re mich in die­sem Moment vor eini­gen Jah­ren einen beson­de­ren Kühl­schrank in Emp­fang genom­men zu haben, einen Behäl­ter von enor­mer Grö­ße. Ich wie­der­ho­le, dass die­ser Kühl­schrank, in wel­chem ich pla­ne im Som­mer wie auch im Win­ter kost­ba­re Eis­bü­cher zu stu­die­ren, eigent­lich ein Zim­mer für sich dar­stellt, ein gekühl­tes Zim­mer, das wie­der­um in einem höl­zer­nen Zim­mer sitzt, das sich selbst in einem grö­ße­ren Stadt­haus befin­det. Nicht dass ich in der Lage wäre, in mei­nem Kühl­schrank­zim­mer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unter­zu­brin­gen und eine Lam­pe und ein klei­nes Regal, in dem ich je zwei oder drei mei­ner Eis­bü­cher aus­stel­len wer­de. Dort, in nächs­ter Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen wei­te­ren klei­ne­ren, äußerst kal­ten, einen sehr gut iso­lier­ten Kühl­schrank auf­ge­stellt, einen Kühl­schrank im Kühl­schrank sozu­sa­gen, der von einem Not­strom­ag­gre­gat mit Ener­gie ver­sorgt wer­den könn­te, damit ich in den Momen­ten eines Strom­aus­fal­les aus­rei­chend Zeit haben wür­de, jedes ein­zel­ne mei­ner Eis­bü­cher in Sicher­heit zu brin­gen. Es ist näm­lich eine uner­träg­li­che Vor­stel­lung, jene Vor­stel­lung war­mer Luft, wie sie mei­ne Bücher berührt, wie sie nach und nach vor mei­nen Augen zu schmel­zen begin­nen, all die zar­ten Sei­ten von Eis, ihre Zei­chen, ihre Geschich­ten. Seit ich den­ken kann, wollt ich Eis­bü­cher besit­zen, Eis­bü­cher lesen, schim­mern­de, küh­le, uralte Bücher, die knis­tern, sobald sie aus ihrem Schnee­schu­ber glei­ten. Wie man sie für Sekun­den lie­be­voll betrach­tet, ihre pola­re Dich­te bewun­dert, wie man sie dreht und wen­det, wie man einen scheu­en Blick auf die Tex­tu­ren ihrer Gas­zei­chen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den lei­se sum­men­den Eis­buch­rei­se­kof­fer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeis­ter­ten Bli­cke der Fahr­gäs­te, wie sie flüs­tern: Seht, dort ist einer, der ein Eis­buch besitzt! Schaut, die­ser glück­li­che Mensch, gleich wird er lesen in sei­nem Buch. Was dort wohl hin­ein­ge­schrie­ben sein mag? Man soll­te sich fürch­ten, man wird sei­nen Eis­buch­rei­se­kof­fer viel­leicht etwas fes­ter umar­men und man wird mit einem wil­den, mit einem ent­schlos­se­nen Blick, ein gie­ri­ges Auge nach dem ande­ren gegen den Boden zwin­gen, solan­ge man noch nicht ange­kom­men ist in den fros­ti­gen Zim­mern und Hal­len der Eis­ma­ga­zi­ne, wo man sich auf Eis­stüh­len vor Eis­ti­sche set­zen kann. Hier end­lich ist Zeit, unterm Pelz wird nicht gefro­ren, hier sitzt man mit wei­te­ren Eis­buch­be­sit­zern ver­traut. Man erzählt sich die neu­es­ten ark­ti­schen Tief­see­is­ge­schich­ten, auch jene ver­lo­re­nen Geschich­ten, die aus purer Unacht­sam­keit im Lau­fe eines Tages, einer Woche zu Was­ser gewor­den sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist kei­ne Zeit für alle die­se Din­ge. Es ist immer die ers­te Sei­te, die zu öff­nen man fürch­tet, sie könn­te zer­bre­chen. Aber dann kommt man schnell vor­an. Man liest von uner­hör­ten Gestal­ten, und könn­te doch nie­mals sagen, von wem nur die­se fei­ne Luft­eis­schrift erfun­den wor­den ist. — stop

polaroidcassini

///

stehen … schlafen

pic

nord­pol : 3.08 — Wenn man ein Hotel für Steh­schlä­fer betritt, ist das meis­tens spät in der Nacht, alle wei­te­ren Hotels, wel­che geeig­net wären, im Lie­gen zu schla­fen, sind aus­ge­bucht. Auch mit klei­ne­ren Spen­den, die man ger­ne offe­riert, weil man müde ist, weil man kei­nen wei­te­ren Schritt zu tun in der Lage zu sein glaubt, war an den Rezep­tio­nen nichts zu machen. Jetzt ist man also hier, wo man sehr preis­wert in Schlaf­spin­den oder ganz ein­fach an Wän­den leh­nend schla­fen kann. Das Beson­de­re an einem Hotel für Steh­schlä­fer ist, dass sich das Per­so­nal um schla­fen­de Gäs­te auch dann noch bemüht, wenn das Licht längst aus­ge­schal­tet ist. Gur­te, wel­che zur Sta­bi­li­tät um Ober,- und Unter­schen­kel gewi­ckelt sind, wer­den straff gehal­ten, fal­len­de Per­so­nen wie­der auf­ge­rich­tet. Auch für einen tie­fen Schlaf wird gesorgt, wie das gemacht wird, davon soll­te ich nicht erzäh­len, nicht das lei­ses­te Wort, nie­mand will das wirk­lich wis­sen, selbst die Schla­fen­den nicht. Man schläft behü­tet, man schläft solan­ge man will, eine Stun­de oder eine Nacht oder meh­re­re Tage. Sobald man nun erwacht, nimmt man sei­nen Kof­fer vom Boden auf und geht ganz ein­fach davon. Es ist schon ein merk­wür­di­ger Anblick, hun­der­te Men­schen, die ent­lang der Wän­de eines Saa­les neben ihren Kof­fern ste­hen. Man­che spre­chen, ande­re sin­gen lei­se im Schlaf. Vögel flie­gen umher oder sit­zen auf den Schla­fen­den selbst, die sich nicht rüh­ren, obwohl sie noch leben. Irgend­wo muss ein Fens­ter offen ste­hen. Ein leich­ter Wind geht. Ich höre das Horn eines Schif­fes, aber ich bin mir nicht sicher, ob das Schiff wirk­lich exis­tiert. Für einen Moment wird es hell wie am Tag, als ob die Son­ne mir direkt ins Auge leuch­tet. Eine Hand fährt über mei­ne Stirn, ich höre ein Flüs­tern, ich mei­ne gehört zu haben, wie jemand sag­te: Er ist schon vier Wochen hier, wir müs­sen ihn wecken oder baden. Ja, irgend­wo muss ein Fens­ter offen ste­hen. Ein leich­ter Wind. — stop

ping

///

elisabeth

pic

hima­la­ya : 6.10 — Im Win­ter des ver­gan­ge­nen Jah­res, an einem win­dig kal­ten Tag, besuch­te ich in Brook­lyn einen alten Herrn, Mr. Tomaszwes­ka und sei­ne Frau Eli­sa­beth. Sie woh­nen nahe der Clark Street in einem sechs­stö­cki­gen Haus mit Blick auf die Upper Bay von New York. Ich hat­te den alten Mann wäh­rend einer Fahrt auf einem Fähr­schiff zufäl­lig ken­nen­ge­lernt. Er beob­ach­te­te wie ich Fahr­gäs­te foto­gra­fier­te, die ihre Namen heim­lich in die höl­zer­nen Sitz­bän­ke des Schif­fes ritz­ten. Er sprach mich freund­lich an, woll­te mir einen Schrift­zug zei­gen, den er selbst drei Jahr­zehn­te zuvor an Ort und Stel­le in der glei­chen Wei­se wie die beob­ach­te­ten Pas­sa­gie­re ein­ge­tra­gen hat­te. Stolz war der alte Mann gewe­sen. Wir führ­ten ein kur­zes Gespräch über die New Yor­ker Hafen­be­hör­de, Eisen­bah­nen und Flug­zeu­ge, weiß der Him­mel, wie dar­auf gekom­men waren. Als wir das Schiff ver­lie­ßen lud Mr. Tomaszwes­ka mich ein, ein­mal zu ihm zu kom­men, dar­um stieg ich nur weni­ge Tage spä­ter in den sechs­ten Stock des schma­len Hau­ses auf den Höhen Brook­lyns. Die Tür zur Woh­nung stand offen, war­me Luft kam mir ent­ge­gen, die nach süßem Teig duf­te­te, nach Zimt und Früch­ten. Die Räu­me hin­ter der Tür waren ver­dun­kelt. Ich hat­te sogleich den Ein­druck, dass ich viel­leicht träum­te oder ver­rückt gewor­den sein könn­te, weil in die­sem Halb­dun­kel an den Wän­den, auch auf dem Boden, Lam­pen, Dioden­lich­ter, glüh­ten. Modell­ei­sen­bahn­zü­ge fuh­ren auf schma­len Gelei­sen her­um. Ich höre noch jetzt das lei­se Pfei­fen einer Dampf­lo­ko­mo­ti­ve, das mei­nen Besuch beglei­te­te. Es war eine rasen­de Zeit, Stun­den des Stau­nens, da in der Woh­nung des alten Herrn eine sehr beson­de­re Modell­an­la­ge gas­tier­te, ja, ich soll­te sagen, dass die Woh­nung selbst zur Anla­ge gehör­te, wie der Him­mel zur wirk­li­chen Welt. Alle Züge fuh­ren auto­ma­tisch von einem Com­pu­ter gesteu­ert, die Luft über den Gelei­sen roch scharf nach Zinn. Wir spra­chen indes­sen nicht viel, Mr. Tomaszwes­ka und ich, son­dern schau­ten dem Leben auf dem Boden in aller Stil­le zu. An einem Fens­ter, des­sen Vor­hän­ge zuge­zo­gen waren, saß Mr. Tomaszweska’s Frau Eli­sa­beth. Sie beach­te­te mich nicht, starr­te viel­mehr lächelnd auf eine klei­ne Klap­pe, die in die Wand des Hau­ses ein­ge­las­sen war. Manch­mal öff­ne­te sich die Klap­pe und ich konn­te für Momen­te das Meer erken­nen, das an die­sem Tag von grün­grau­er Far­be gewe­sen war, wun­der­ba­re Augen­bli­cke, denn immer dann, wenn das Meer in dem klei­nen Fens­ter erschien, lach­te die alte Frau mit glo­cken­hel­ler Stim­me auf, um kurz dar­auf wie­der zu erstar­ren. Ein­mal setz­te sich Mr. Tomaszwes­ka neben sei­ne Frau und füt­ter­te sie mit war­mem Oran­gen­ku­chen, den er selbst geba­cken hat­te. Und wie wir uns wie­der auf den Boden setz­ten, um ein Modell des Ori­ent­ex­press durch die Zim­mer der Woh­nung krei­sen zu sehen, erzählt der alte Mann, dass sie gemein­sam hier oben sehr glück­lich sei­en. Er kön­ne mit sei­ner Frau zwar nicht mehr spre­chen, er kön­ne sie nur noch strei­cheln, was sie irgend­wie ver­ste­hen wür­de oder sich erin­nern an die Spra­che sei­ner Hän­de. Ver­stehst Du, sag­te er, sie ver­gisst immer sofort, alles ver­gisst sie, auch wer ich bin, aber sie ver­gisst nie­mals nach den klei­nen Engeln zu sehen, die uns besu­chen, sie kom­men dort durch die Klap­pe, siehst Du, schau genau hin, es ist schon ein Wun­der, sag­te der alte Mann, wie schön sie lacht, mein jun­ges Mäd­chen, nicht wahr, mein jun­ges Mäd­chen. — stop

polaroidstrandburg