1.28 — Gestern Abend in der Dämmerung bin ich durch den Regen gestapft, weil ich gelesen hatte, auf dem Postamt würde ein Paket auf mich warten. Ich ging also los mit meinem Regenschirm, der sehr schöne Geräusche macht, wenn Wasser aus großer Höhe auf ihn herabfällt. Und weil es sehr windig war, musste ich den Schirm etwas schräg vor mich stellen, wie einen Schild vielleicht, deshalb habe ich von den Menschen, die mir begegneten, nur Schuhe gesehen oder Beine in Strümpfen oder Hosen oder flatternde Mäntel. Sehr seltsam, dieser exquisite Blick auf die Werkzeuge des Gehens, sehr seltsam, wie schnell menschliche Wesen sich doch bewegen. Bald war ich wieder auf dem Weg zurück, ein Paket unter dem Arm, den Schirm nun, ein Segel, im Nacken, Blick auf feuchte Schilde, die sich mir entgegenstemmten, darunter Artgenossen, geräuschlos. — Aber jetzt zu dem, was ich eigentlich erzählen will. Auf meinem Schreibtisch ruht seit sechs Stunden ein fein gestaltetes Buch von rauem, kräftigem Papier, ein Buch, das mit dem Schiff zu mir über den Atlantik reiste, weswegen es fünf Wochen unterwegs gewesen war, in einem Container vermutlich bei Wind und Wetter, also rollte und übers Wasser schlingerte, auf und ab getragen von sehr hohen und kleineren Wellen. Ich habe lange Zeit auf dieses Buch gewartet, eine sehr lange Zeit. Als ich zu warten begann, war noch Sommer gewesen und jetzt ist schon Winter geworden. Nun endlich liegt das kleine Buch, das von den Zwillingen Daisy und Violet Hilton erzählt, auf meinem Schreibtisch oder in meiner Küche oder auf meinem Sofa oder auf meiner Brust, wenn ich trotz der Begeisterung kurz einmal eingenickt sein sollte. Da ist eine Bewegung im Halbschlaf, ein kaum wahrnehmbares Schaukeln. Und da sind zwitschernde Mädchenstimmen, und das Nebelhorn eines Dampfers vor Brighton. — stop
Aus der Wörtersammlung: arm
china
0.20 — Im Winter nach Berlin, immer im Winter, immer nachts, im Westen ein langsam fahrender Zug hinter Bebra. Dann Grenze. Ein Posten. Türme. Metall. Und Licht. Gelbes Licht, demoliertes Licht. Und Hunde, jawohl, Hunde. Dann Osten. Von Stadt zu Stadt durchs unbekannte Land. Auf Bahnsteigen : Volkspolizei, Rücken zum Zug, Wachen oder so etwas, in den Abteilen mit Stempel, mal freundlich, mal finster, mal kühl. Dann wieder Grenze. Warten. Rangieren. Demoliertes Licht. Irgendjemand schlägt von unten her mit Metall gegen den Boden des Zuges. Hunde. Dann Westen. Herrn in Zivil, Staatsschutz, von Abteil zu Abteil. Dann Zoo. Wenn man so, immer nachts, reist, kaum Kenntnis vom Land, durch das man kommt, sagt man, das riecht hier anders, das riecht hier nach Kohle. Man steht an einem Fenster in diesem Zug, der wartet in Halle. Es ist gegen fünf in der Früh und man weiß, man darf nicht aussteigen, man weiß, die Anderen auf den Bahnsteigen jenseits der Posten, jenseits der Geleise, dürfen nicht einsteigen, man weiß, Schüsse könnten fallen. Die da draußen herumstehen, die aus dem Mund dampfen, die von der Morgenschicht in Halle, wissen das besser als die, die im Zug stehen und mit Westaugen einen Kontakt suchen für Sekunden. Schüsse könnten fallen, jawohl, Schüsse. Und deutsche Sprache, — Halt! Stehen bleiben!
Ich erinnere mich an eine Textpassage. Malcolm Lowry an Bord des Schlachtkreuzers, H.M.S.Proteus. Man liegt vor chinesischer Küste, man spielt Cricket an Deck. Nicht weit, jenseits des Wassers an Land, war ein schrecklicher Krieg im Gange. „Dum! Dum! Dum!, aber die ganze Sache fegte über unsere Köpfe hinweg, ohne uns zu berühren.“ — „Sie können sagen, dass ich dem Mann gleiche, von dem sie vielleicht gelesen haben, der sein Leben auf einem Schiff verbrachte, das regelmäßig zwischen Liverpool und Lissabon hin — und herfuhr, und bei seiner Entlassung über Lissabon nur sagen konnte : die Straßenbahnen fahren dort schneller als in Liverpool.“ Ich erinnere mich an eine Notiz des russischen Dichters Wenedikt Jerofejew : „Alle sagen, — der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein einziges Mal gesehen. Wie viele Male schon habe ich im Rausch oder danach mit brummendem Schädel Moskau durchquert, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten, aufs Geratewohl, von einem Ende zum anderen, aber den Kreml habe ich kein einziges Mal gesehen.“
Einmal, wieder Winter in Berlin, Berlin-West, 1987, ein Fest. Geräumige Wohnung. Auf den Tischen Schnapsflaschen und Erdbeergläser. Man sagt, das sei so üblich, — Gäste aus dem Osten, Schnaps auf dem Tisch. Da ist ein kleiner Mann, schütteres Haar. Sitzt die Nacht über an einem der Tische, trinkt und schlägt irre Rhythmen mittels Messern und Gabeln auf Teller, an Gläser. Man sagt, der Mann sei gerade rüber gekauft, man sagt, er habe in Bautzen II gesessen, man sagt, einmal, frostige Luft, habe man den Mann ausgezogen, man habe ihn ausgezogen und in eine Schleuse gestellt, man habe ihn dort vergessen unter freiem Himmel, dann habe man sich seiner erinnert, dann habe man ihn warm geprügelt. — Irre Rhythmen. — Hab ich also Land betreten. — stop
daniil charms
0.05 — ICH stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? Daniil Charms — stop
fliegen
7.15 — Ich bemerkte unlängst, dass ich beide Arme hebe, also von mir abwende, also Flügel mache, sobald ich durch die Wohnung laufe und darüber nachdenke, wie es wäre, ohne jedes Gewicht zu sein. — Haben Menschen des 19. Jahrhunderts eine Vorstellung von einem Zustand bewegungsloser Schwerelosigkeit erzeugt? — stop
im wald
14.12 — Träumte einen Wald. Kühle Luft dort, steinerne Halme bis unter den Himmel, uraltes Zeug. Auch Affen, sie waren durchblutet, mächtige Tiere, von Kopf bis Fuß schwarz-weiß in Streifen. Auch die Ohren, schwarz und weiß. Sehr kleine Ohren, Ohren aus Mensch. Auf einer Lichtung drehte sich eine Kugel dicht über dem Boden, rasend schnell, elektrisch beleuchtet, warmes, angenehmes Licht. Sand flog auf an Ort und Stelle, und Laub. Da war noch Musik, eine Orgel, direkt aus dem Boden, Walzermusik. Auch Stimmen von dort, gedämpfte Stimmen. Nicht weit, etwas loses Papier im Gras. Und leere Flaschen. Die Luft stank nach Schnaps, nach Urin und diesen Dingen. Im Schatten einer kräftigen Buche lagen ein paar Bücher herum, ein Lowry, etwas Duras, etwas Fitzgerald, auch von Joyce ein paar Seiten, von O’Neill. Plötzlich Dämmerung, Zwielicht. Ich erinnere mich an das Haupt von Patricia Highsmith, das aus dem Boden ragte. Das war ein sehr schmutziger Kopf, ein Kopf, der lachte. Der Kopf sah mich an und sagte, heisere Stimme: Malcolm hat wieder ein Manuskript verloren. Dann schwieg er. Dann aber kühl: Ich wünsche eine Bestellung aufzugeben. — stop
zungenwelt
0.01 — Inwiefern würde sich unsere Menschenwelt verändern, wenn wir von einem Tag zum anderen Tag über armlange Zungen der Geckos verfügten? In welcher Form kämen sie in einer voll besetzten Straßenbahn zum Einsatz? Und wie bei der Liebe? Und wie im Streit? Was würden diese Zungen wohl im Schlaf unternehmen? — stop
chomolungma
holzmund
20.05 — In einem Trambahnwagon saßen Menschen im Glühbirnenlicht, Personen, die ihre Gesichter abnehmen und austauschen konnten, so wie es ihnen gerade Freude machte. Eine junge Person überreichte mir ein Stück warmer Haut, mit dem sie mich kurz zuvor noch angelächelt hatte. Da waren jetzt Wangen von leicht rosafarbenem und eine Stirn von dunklem Holz, und da waren Augen, die weiterhin lachten, und ein sehr schöner Mund, und auch dieser Mund war ein hölzerner Mund. — stop
zyklope
20.33 — Einmal, vor zwei oder drei Jahren, erzählte mir ein junger Medizinmann einen merkwürdigen Traum. Folgendes, sagte der Mann. Stell dir einen Wartesaal vor, einen Bahnhof. Reisende sitzen dort auf hölzernen Bänken. Sie rauchen und plaudern miteinander. Unweit einer Schaltergalerie kauern unbekleidete Zyklopen von schneeweißer Haut zu einem Kreis auf dem Boden, tauschen Herzen und Gehirne und Beine und Arme von Menschen. Sie rauchen gleichwohl und scherzen in einer Sprache, die nicht zu verstehen ist. Ich erinnere mich, meinen eigenen Kopf gesehen zu haben. So lange reichen sie ihn herum, bis jeder der Zyklopen ihn ein Mal in Händen gehalten und von allen Seiten her betrachtet hat. — An dieser Stelle machte der junge Mann eine Pause. — Wolkenloser Nachthimmel mit Mond. Der Eindruck, es würde regnen. — stop