romeo : 0.01 UTC — Ich kenne Jasus, der eigentlich ganz anders heisst, seit einigen Monaten flüchtig. Wir begegnen uns von Zeit zu Zeit am Bahnhof oder im Zug. Einmal kamen wir auf seine Heimatstadt Istanbul zu sprechen. Er sagte, dass er sich freuen würde, wenn ich Istanbul gerade jetzt in dieser schwierigen Zeit besuchen würde. Jasus ist glühender Verehrer des türkischen Präsidenten, der habe sein Land modernisiert, er könne endlich stolz sein auf die Türkei. Ich erwähnte, dass ich Oran Pamuk sehr gerne lesen würde, da wurde Jasus vorsichtig, der Pamuk wäre ihm nicht geheuer, der soll kritisch über die Türkei geschrieben haben, obwohl er doch selbst Türke sei. Nun saßen wir kürzlich auf einer Bank im Flughafenterminal 1. Ich fragte Jasus, ob er bereit wäre, einen Film der Deutschen Welle anzusehen, den ich auf meinem Notebook gespeichert mit mir führte. Der Film berichtet von einer Dozentin der Literaturwissenschaften, die seit vielen Monaten in Ankara öffentlich darum kämpft, an ihren Arbeitsplatz zurückkehren zu dürfen. Sie wurde deshalb jeden Tag verhaftet und erst nach je 5 Stunden wieder freigelassen. Von Nuriye Gülmen hatte Jasus noch nie gehört, aber er wollte den Film betrachten. Ich stellte mein Notebook also zwischen uns ab, und Jasus verfolgte den Film wortlos von der ersten bis zur letzten Minute. Ich meinte zu bemerken, dass ihm der Film nahe zu gehen schien. Als der Film zu Ende war, wollte er wissen, warum ich ihm die Aufnahme gezeigt habe. Ich sagte: Ich finde, diese Frau hat Recht, sie kämpft um ihre Existenz, sie kämpft für Gerechtigkeit und Freiheit, sie ist ungeheuer mutig. Ja, antwortete Jasus, sie ist mutig und sie ist verrückt. Er machte ein Pause. Er schien zu überlegen. Dann fragte er, was mich denn eigentlich diese ganze Geschichte angehen würde? Diese Geschichte gehe nur ihn und seine Landsleute etwas an. — Ein Funke Hoffnung! — Seit vier Wochen befindet sich Nuriye Gülmen im Hungerstreik. — stop
Aus der Wörtersammlung: book
nach darjeeling
papa : 12.15 UTC — Ich habe zur Stunde eine Frage, die zu beantworten vermutlich nicht ganz leicht sein wird. In wenigen Minuten werde ich nämlich für einen guten Freund eine Schreibmaschine erwerben, eine mechanische Reiseschreibmaschine des Typs Olympia Splendid 66 in roter Farbe, ein wunderschönes Stück aus dem Jahr 1959, ich würde sie im Grunde gern selbst besitzen. Mein Freund wird bald verreisen, ich nehme an, nicht ohne seine neue Schreibmaschine mit sich zu nehmen, eine Reise, die ihn durch Indien mit der Eisenbahn von Mumbai nach Darjeeling führen wird. Als ich meinen Freund Ludwig zum letzten Mal sah, arbeitete er auf einem Notebook schreibend in einem Café an einer Geschichte über Algorithmen liebevoller Selbstbefragung. Sein Notebook war zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre alt, jene Orte des Gehäuses, da es Ton und Bildaufnahmen seiner nächsten Umgebung anfertigen konnte, waren mehrfach mit selbstklebendem Gewebe abgedeckt, so dass weder Ton noch Licht in die Schreibmaschine gelangen konnten, um von dort aus möglicherweise unbemerkt an einen geheimen Ort in der digitale Sphäre gesendet zu werden. Ich will nicht sagen, dass Ludwig sich in irgendeiner Weise verfolgt fühlen würde, er erwähnte aber bei Gelegenheit, er könne schon seit langer Zeit nicht mehr dafür garantieren, dass seine elektronische Schreibmaschine, sein Notebook, sich tatsächlich loyal verhalten würde. Er wünschte sich, seine Zeichen wieder einmal unmittelbar auf Papier zu setzen, bedingungsloses Vertrauen haben zu können. Ich werde ihm seinen Wunsch erfüllen. Nun stellt sich, wie berichtet, die Frage, was hat mein Freund Ludwig auf den Papieren noch vor, wie lange Zeit bleibt ihm noch? Wie viele Farbbänder sollte ich für Ludwig in Sicherheit bringen? Sie sind rar geworden, sie werden irgendwann verschwinden. — stop
beobachtung
ulysses : 6.12 — Während ich Jack Kerouacs Roman On the Road in der ungekürzten Fassung als E‑Book las, bemerkte ich, dass ein Computer irgendwo, vermutlich von Nordamerika aus verzeichnete, welche Zeilen dieses Romans von Lesern oder Leserinnen während ihrer Lektüre markiert worden waren. Eine ausgedehnte, präzise Leserbeobachtung scheint kaum merklich Stunde um Stunde vollzogen zu werden. Ich stellte mir vor, Lichtmaschinen, die von Menschen in der Hand gehalten werden, dokumentieren, wie lange Zeit sich lesende Menschen mit einem bestimmten Text beschäftigen, wie sie den Text studieren, ob sie die Lektüre der ein oder anderen Seite wiederholen, an welchen Textorten ihre Augen innehalten oder ihre Hände über den Bildschirm streichend vorwärts blättern, wie viele Leser sich zunächst mit dem Ende einer Geschichte beschäftigen, ehe sie die erste Seite des Textes öffnen, um nun tatsächlich mit der Lektüre zu beginnen, so wie sich der Autor oder Autorin die Lektüre ihres Textes einmal vorgestellt haben könnten. Dass funkende Bücher Körpertemperaturen messen, Feuchtigkeit, Salze der Hände, welche sie berühren, ist nicht unwahrscheinlich. Man will wissen, weil man es wissen kann, an welcher Stelle des Textes Leser verloren gehen oder von welcher Stelle des Textes an Leser restlos eingefangen sind, ja, das ist denkbar. Guten Morgen. Es ist der 16. Oktober, leichter Regen. — stop
ai : VIETNAM
MENSCH IN GEFAHR : “Die Menschenrechtsverteidigerin Nguyễn Ngọc Như Quỳnh, die als Bloggerin unter dem Namen Mẹ Nấm (Mutter Pilz) bekannt ist, wurde am 10. Oktober festgenommen und wegen “Propaganda” gegen den Staat nach Paragraf 88 des vietnamesischen Strafgesetzbuchs angeklagt. Ihr drohen Folter und anderweitige Misshandlung. Es ist nicht bekannt, wo sie zurzeit festgehalten wird. / Nguyễn Ngọc Như Quỳnh wurde am 10. Oktober um 10 Uhr in ihrer Heimatstadt Nha Trang in der Provinz Khánh Hòa in der Region Nam Trung Bộ festgenommen. Zum Zeitpunkt ihrer Festnahme begleitete Nguyễn Ngọc Như Quỳnh die Mutter eines Aktivisten, die ihren Sohn in einem örtlichen Gefängnis besuchen wollte. Sicherheitskräfte brachten Nguyễn Ngọc Như Quỳnh gegen 11:30 Uhr zu ihrem Zuhause und führten dort eine Durchsuchung durch. Dabei beschlagnahmten sie ihren Computer, elektronische Geräte und Demonstrationsplakate./ Nguyễn Ngọc Như Quỳnh wurde wegen “Propaganda” gegen den Staat nach Paragraf 88 des vietnamesischen Strafgesetzbuchs angeklagt. Bei einer Verurteilung drohen ihr zwischen drei und 20 Jahre Haft. Es ist nicht bekannt, wo sie zurzeit festgehalten wird. In Vietnam können Personen, die mutmaßlicher Straftaten im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit beschuldigt werden, bis zu zwei Jahre in Haft ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten werden, bevor es zu einem Prozess kommt. / Staatliche Medien berichteten, dass Nguyễn Ngọc Như Quỳnh strafrechtlich verfolgt werde, da sie auf Facebook Artikel geschrieben und gepostet sowie Videos und Texte geteilt hatte, in welchen die seit 2012 regierende Kommunistische Partei Vietnams (KPV) und der Staat kritisiert wurden. In dem Bericht wurde ein Dokument zitiert, welches Nguyễn Ngọc Như Quỳnh auf Facebook geteilt hatte, und in dem 31 Personen genannt wurden, die nach Verhören durch die Polizei gestorben waren. Ihnen war “Beeinträchtigung der nationalen und sozialen Sicherheit und Ordnung” vorgeworfen worden. / Nguyễn Ngọc Như Quỳnh ist Mitgründerin des Unabhängigen Vietnamesischen Bloggernetzwerks, welches im Dezember 2013 gegründet wurde. Sie ist alleinerziehende Mutter zweier Kinder und wurde wegen ihrer friedlichen Aktivitäten mehrmals schikaniert, festgenommen und verhört. Es ist ihr außerdem nicht gestattet, ins Ausland zu reisen. Sie setzt sich seit mehr als zehn Jahren für Menschenrechte und gegen Ungerechtigkeit ein und ist eine beliebte und bekannte Bloggerin.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 24. November 2016 hinaus, unter > ai : urgent action
kapillare
charlie : 2.56 — Eine beunruhigende Wahrnehmung, sobald ich auf Position Facebook notiere, notiere ich in ein und demselben sozialen Netzwerk, in welchem Kämpfer des Islamischen Staates mehr oder weniger offen gleichfalls notieren. Oder Personen mit deutscher oder schweizer oder österreichischer Staatsbürgerschaft, die scheinbar bei vollem Verstand unter ihren bürgerlichen Namen dazu aufrufen, Flüchtlinge beispielsweise an die Wand zu nageln. Als würde ich dieselbe Raumluft atmen. Digitale Nähe. Eine Chance stiller Beobachtung vielleicht oder aber der Vernehmung. Noch zu tun in dieser Nacht: Fragen erfinden. — stop
von eichhörnchen
tango : 8.12 — Vor wenigen Tagen hörte ich am Telefon, ein Freund sei wegen eines Postings auf Position Facebook bedroht worden, das war eine Drohung gegen Leib und Leben. Er hatte sich einem Pegida-Fan gegenüber kritisch geäußert, darauf folgende öffentliche Unterhaltungen eskalierten. Mein Freund bemühte sich zunächst, Spuren im Internet, die zu seinem Wohnort führen könnten, zu löschen, eine schwierige Arbeit, sehr viele Spuren waren zu notieren und jede einzelne für sich bedeutete bittende oder fordernde Kommunikation über Eingabemasken mit entsprechenden Webseiten oder Institutionen. Seit zwei Wochen trainiert er Möglichkeiten, sich eines körperlichen Angriffes zu erwehren, nach Einbruch der Dunkelheit verlässt er das Haus durch einen Hintereingang, die Straße vor dem Haus wird von ihm beobachtet, weshalb er zum ersten Mal entdeckte, dass in den Bäumen jenseits der Straße zwei Eichhörnchen wohnen. Heute ist Donnerstag. — stop
destillieren
alpha : 1.45 — Weitere fünfzehn Minuten Lektüre auf Position Facebook nahe Pegida. Folgende Begriffe entdeckt, die asylsuchende Menschen bezeichnen: Dreckspack Vergewaltiger Zigeunerklaugesindel Moslemgematsche Nigger Kakerlaken Ficker Viehzeug Rattenpack Negersklaven Seuche Gesocks. Diese so bezeichneten Menschen möchte man wahlweise: verbrennen, vergasen, abfackeln, erschiessen, kastrieren, in einem Eurotunnel unter Wasser setzen bis sie alle tot sind oder aber mittels einer schweren Verschublock überrollen, durchlöchern, schreddern, erhängen, wegbomben, vor Schneepflüge spannen, als Biomasse verheizen. Noch immer könnte ich zahlreiche bürgerliche Namen jener Personen, die diese Bezeichnungen wählten, sowie zu Mord und Totschlag aufrufen, an Ort und Stelle hier notieren, sie sind bekannt, man scheint sich nicht im mindesten verheimlichen zu wollen. — stop
ai : VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE
MENSCH IN GEFAHR : “Der omanische Schriftsteller und Blogger Muawiya al-Ruwahi wurde in ein Gefängnis in Abu Dhabi verlegt. Sein Gerichtsverfahren soll dort am 14. September vor der Staatssicherheitskammer des Obersten Bundesgerichts beginnen./ Der 31-jährige omanische Schriftsteller und Blogger Muawiya al-Ruwahi (auch al-Rawahi) wurde Ende Mai in das al-Wathba-Gefängnis in Abu Dhabi verlegt. Sein Fall wurde an die Staatssicherheitskammer des Obersten Bundesgerichts verwiesen. Am 14. September soll sein Verfahren beginnen. Die Anklagepunkte sind ebenso wenig bekannt wie die konkreten Gründe für seine Festnahme und das Verfahren. / Laut der Facebook-Seite seines Vaters erhielt Muawiya al-Ruwahi, der an einer bipolaren Störung leidet, am 11. Juni Besuch von omanischen Diplomat_innen sowie dem Staatsanwalt. Die Diplomat_innen konnten alleine mit ihm sprechen. Seit seiner Festnahme am 23. Februar 2015, als er aus Oman in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) einreisen wollte, durfte er mehrere Male mit seiner Familie telefonieren. Den ersten Anruf tätigte er einen Monat nach seiner Festnahme. Dabei bat er seine Familie darum, einen Rechtsbeistand für ihn zu benennen. Muawiya al-Ruwahi erzählte seiner Familie, dass er regelmäßig seine Medikamente erhalten hatte und dass die Behörden der VAE von seiner psychischen Erkrankung wussten. Seine Krankenakte, die vom Sultan-Qabus-Universitätsklinikum ausgestellt wurde, wurde an die Behörden der VAE weitergeleitet. Die Mutter von Muawiya al-Ruwahi durfte ihn am 18. Juni für eine halbe Stunde im Gefängnis besuchen. Am gleichen Tag durfte er außerdem zehn Minuten mit seinem Vater in Oman telefonieren. Zwei Tage später wandte sich seine Mutter an die Behörden des al-Wathba-Gefängnisses, um sicherzustellen, dass ihr Sohn regelmäßig seine Medikamente erhalten würde. — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 31. August 2015 hinaus, unter »> ai : urgent action
vom destillieren
ulysses : 0.12 — Fünf Minuten Lektüre auf Position Facebook nahe Pegida. Folgende Begriffe entdeckt, die asylsuchende Menschen bezeichnen: Pack Zecken Gottlose Kreaturen Schmarotzer Vergewaltiger Abzocker Terrorristen Bombenleger Kopfabschneider Ausländer Drogenkuriere Stück Eindringlinge Okkupanten Flutlinge Invasorenpack Bobos Taugenichtse Die da!- Ich könnte die bürgerlichen Namen jeder der Personen, die diese Bezeichnungen wählten, an Ort und Stelle hier notieren, sie sind mir bekannt, man scheint überzeugt zu sein, man scheint sich nicht im mindesten verbeimlichen zu wollen. Sehr seltsam. — stop
chicago
tango : 6.05 — Im Palmengarten abends bei leichtem Regen auf einer Bank. Neben mir saß ein Mann, der mich nicht sehen, aber hören konnte. Ich bemerkte nicht sofort, dass er blind war, weil ich unter einem Regenschirm saß, auch der Mann hatte einen Regenschirm über sich aufgespannt. Kaum hatte ich Platz genommen, notierte ich zunächst eine Liste von Büchern in mein Notebook, die sich mit der Arbeitswelt der Menschen beschäftigen. Sie schreiben schnell, sagte der Mann plötzlich, sie sind wohl geübt. Sie haben vielleicht etwas im Kopf, das sie los werden wollen. Als ich mich dem Mann zuwendete, bemerkte ich, dass er den Regenschirm in eine langsame Drehung versetzt hatte, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Wenn das meine Schreibmaschine wäre, könnte ich Ihnen genau sagen, was sie gerade geschrieben haben. Ich kann hören, was meine Schreibmaschine schreibt. Der Mann machte eine kurze Pause. Was haben sie denn aufgeschrieben, wollte er dann wissen. Ich antworte: Einige Namen, Namen, die sie vielleicht schon einmal gelesen haben. Melville. Bukowski. Upton Sinclair. Max von der Grün. – Gelesen nicht, antwortete der Mann, aber gehört habe ich zwei der Namen. Upton Sinclairs Dschungelbuch existiert in englischer Sprache als Hörbuch für Blinde oder für Menschen, die nicht lesen wollen. Ich würde gerne lesen, aber das geht ja nicht so leicht, wenn man nichts sieht. Der Mann lachte. Ich höre dem Regen gern zu, aus meiner Sicht der Dinge ist das so, als würde der Regen schreiben, hören Sie, wie es regnet, wie es schreibt. Ist das nicht wunderbar! – Ich fragte den Mann, ob er denn lesen oder hören könne, was der Regen genau notiert in diesem Augenblick. – Aber natürlich, antwortete der Mann, es ist mit jedem Regen etwas anderes, nicht wahr, der Regen, der auf das Meer fällt, erzählt etwas anderes, als dieser Regen hier, der über einem kleinen See niedergeht. Für einen Moment stand der Regenschirm neben mir ganz still. Ich hörte ein Flüstern: Dieser Regen hier erzählt von Chicago. — stop