Aus der Wörtersammlung: bücher

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lufteisschrift

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char­lie : 2.22 UTC — Ein Eis­buch besit­zen, ein Eis­buch lesen, eines jener schim­mern­den, küh­len, uralten Bücher, die knis­tern, sobald sie aus ihrem Schnee­schu­ber glei­ten. Wie man sie für Sekun­den lie­be­voll betrach­tet, ihre pola­re Dich­te bewun­dert, wie man sie dreht und wen­det, wie man einen scheu­en Blick auf die Tex­tu­ren ihrer Gas­zei­chen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den lei­se sum­men­den Eis­buch­rei­se­kof­fer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeis­ter­ten Bli­cke der Fahr­gäs­te, wie sie flüs­tern: Seht, dort ist einer, der ein Eis­buch besitzt! Schaut, die­ser glück­li­che Mensch, gleich wird er lesen in sei­nem Buch. Was dort wohl hin­ein­ge­schrie­ben sein mag? Man soll­te sich fürch­ten, man wird sei­nen Eis­buch­rei­se­kof­fer viel­leicht etwas fes­ter umar­men und man wird mit einem wil­den, mit einem ent­schlos­se­nen Blick, ein gie­ri­ges Auge nach dem ande­ren Auge gegen den Boden zwin­gen, solan­ge man noch nicht ange­kom­men ist in den fros­ti­gen Zim­mern und Hal­len der Eis­ma­ga­zi­ne, wo man sich auf Eis­stüh­len vor Eis­ti­sche set­zen kann. Hier end­lich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefro­ren, hier sitzt man mit wei­te­ren Eis­buch­be­sit­zern ver­traut. Man erzählt sich die neu­es­ten ark­ti­schen Tief­see­eis­ge­schich­ten, auch jene ver­lo­re­nen Geschich­ten, die aus purer Unacht­sam­keit im Lau­fe eines Tages, einer Woche zu Was­ser gewor­den sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist kei­ne Zeit für alle die­se Din­ge. Es ist immer die ers­te Sei­te, die zu öff­nen man fürch­tet, sie könn­te zer­bre­chen. Aber dann kommt man schnell vor­an. Man liest von uner­hör­ten Gestal­ten, und könn­te doch nie­mals sagen, von wem nur die­se fei­ne Luft­eis­schrift erfun­den wor­den ist. – Das Radio erzählt von einer Frau, die in einem Kaf­fee­haus der Stadt Kyjiw sit­zen und war­ten soll, dass ihr Sohn aus dem Kampf bald zurück­keh­ren möge. — stop

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capote No 2

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echo : 1.22 — Ein­mal, vor etwa 10 Jah­ren gegen sechs Uhr am Abend, rief ich bei Lions Wri­ters Sup­port Ser­vices an. Guten Tag, sag­te ich, ich benö­ti­ge drin­gend einen Capo­te zum Spa­zie­ren am kom­men­den Sams­tag. Haben Sie viel­leicht einen für mich frei, den Sie mir lei­hen könn­ten von 3 Uhr am Nach­mit­tag bis in die Nacht irgend­wann? Das Fräu­lein am ande­ren Ende der Lei­tung ant­wor­te­te: Einen Capo­te? Bit­te war­ten Sie einen Moment. Also war­te­te ich. Ich war­te­te unge­fähr fünf Minu­ten, hör­te, wie sie mit Leu­ten dis­ku­tier­te. Ich glau­be, sie bedeck­te, wäh­rend sie sprach, mit einer Hand die Mikro­fon­mu­schel ihres Tele­fon­hö­rers zu. Nach eini­gen Minu­ten kehr­te sie zurück: Ja, sag­te sie, wir haben einen Capo­te frei am kom­men­den Sams­tag. Wo wol­len sie ihn tref­fen? Ich ant­wor­te­te, dass ich unbe­dingt am Strand von Coney Island spa­zie­ren müs­se, Treib­gut sam­meln, Sturm­zei­chen notie­ren, das Meer betrach­ten, mit Tru­man über das Was­ser spre­chen, über digi­ta­le Schreib­ma­schi­nen, Funk­bü­cher und alle die­se Din­ge. Treff­punkt also Brigh­ton Beach Ave­nue Ecke 3th Street!  Wird gemacht, bestä­tig­te das Fräu­lein, Sie wis­sen schon, Capo­tes sind nicht ganz bil­lig? Oh, ja, sag­te ich, das will ich ger­ne glau­ben. Wie viel, frag­te ich, was habe ich zu erwar­ten? — 150 Dol­lar die Stun­de, ant­wor­te­te das Fräu­lein. Sie mach­te eine kur­ze Pau­se, um bald hin­zu­zu­set­zen, dass sie etwas weni­ger berech­nen wür­de, weil jener Capo­te, der für mich reser­viert war, bereits für eine Frei­tags­par­ty gebucht wor­den sei. Er wird nicht ganz frisch am Sams­tag vor Ihnen erschei­nen, sagen wir 120 Dol­lar, wäre das in Ord­nung? — Aber natür­lich wäre das in Ord­nung, ich jubi­lier­te, ein ver­ka­ter­ter Capo­te, even­tu­ell leicht betrun­ken, wun­der­voll! Ich quit­tier­te 1200 Dol­lar für zehn Stun­den und notier­te: Spa­zier­ge­spräch mit Tru­man Capo­te. Sams­tag, 18. Mai, 15 Uhr. Das war also vor bald 10 Jah­ren gewe­sen. Minu­ten spä­ter wur­de mir per Kurier eine Gebrauchs­an­wei­sung für Herrn Tru­man Capo­te über­mit­telt. Ein Hand­buch. 15 Sei­ten. — In einem Haus­ein­gang auf einer Bank in der Nähe des Hafens der Stadt Mariu­pol soll eine alte Frau drei Wochen lang gewar­tet haben. Sie war von einem Split­ter in den Bauch getrof­fen wor­den und starb ver­mut­lich lang­sam in einer Nacht des frü­hen März. — stop
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ai : RUSSISCHE FÖDERATION

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MENSCH IN GEFAHR: „Am 11. April durch­such­te die Poli­zei die Woh­nung von Alek­san­dra Skoch­i­len­ko, nahm sie fest und ver­hör­te sie bis 3 Uhr des 12. April. Am 13. April ver­häng­te das Bezirks­ge­richt Vasi­le­ostrovs­ky in Sankt Peters­burg Unter­su­chungs­haft bis zum 1. Juni 2022 gegen sie. Es ist wahr­schein­lich, dass die Unter­su­chungs­haft ver­län­gert wird. / Alek­san­dra Skoch­i­len­ko lei­det an Zöli­a­kie, einer gene­ti­schen Glu­ten­in­to­le­ranz. Wenn sie glu­ten­hal­ti­ge Nah­rung zu sich nimmt, kann das den Beginn eines Organ­ver­sa­gens, Krebs oder Auto­im­mun­erkran­kun­gen ver­ur­sa­chen. Amnes­ty Inter­na­tio­nal hat erfah­ren, dass Alek­san­dra Skoch­i­len­ko in der Unter­su­chungs­haft­ein­rich­tung kei­ne glu­ten­frei­en Nah­rungs­mit­tel erhält und ihrer Fami­lie nicht gestat­tet wird, ihr die­se zu schi­cken. / Alek­san­dra Skoch­i­len­ko ist eine Song­wri­te­rin und Künst­le­rin aus Sankt Peters­burg. Ihr wird vor­ge­wor­fen, Preis­schil­der in ört­li­chen Super­märk­ten durch Anti­kriegs­in­for­ma­tio­nen ersetzt zu haben, dar­un­ter Infor­ma­tio­nen über die Toten durch die Bom­bar­die­rung des Thea­ters von Mariu­pol. / Der Sankt Peters­bur­ge­rin wird die “öffent­li­che Ver­brei­tung wis­sent­lich fal­scher Infor­ma­tio­nen über den Ein­satz der Streit­kräf­te der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on und die Aus­übung der Befug­nis­se der staat­li­chen Orga­ne der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on” gemäß dem kürz­lich hin­zu­ge­füg­ten Para­gra­fen 207.3 Absatz 2 des Straf­ge­setz­buchs vor­ge­wor­fen. / Alek­san­dra Skoch­i­len­ko ist in der Kunst­sze­ne bekannt: Sie schreibt Lie­der, ver­fasst Comic-Bücher und Car­toons, orga­ni­siert Kon­zer­te und Jam­ses­si­ons. Außer­dem hat sie das bekann­te “Buch über Depres­sio­nen” geschrie­ben, das dazu bei­trägt, das Stig­ma psy­chi­scher Erkran­kun­gen zu ver­rin­gern. Das Buch ist äußerst beliebt. Es wur­de mehr­fach neu auf­ge­legt und in meh­re­re Spra­chen über­setzt und hat vie­len Men­schen inner­halb und außer­halb Russ­lands gehol­fen. Vie­le Vide­os und Aus­stel­lun­gen wur­den durch das Buch inspi­riert. / Am 20. April hieß es, dass sich Alek­san­dra Skoch­i­len­kos Gesund­heits­zu­stand durch das Feh­len glu­ten­frei­er Nah­rungs­mit­tel ver­schlech­tert habe. Am 21. April teil­te ihr Rechts­bei­stand Amnes­ty Inter­na­tio­nal mit, dass die Haft­an­stalt ihr schließ­lich erlaubt habe, ein Lebens­mit­tel­pa­ket ihrer Fami­lie zu erhal­ten, das ihrer glu­ten­frei­en Ernäh­rung entsprach./ Am 23. April wur­de sie von einer pro­vi­so­ri­schen Haft­an­stalt in ein Unter­su­chungs­ge­fäng­nis gebracht./ Nach einem Besuch bei Alek­san­dra Skoch­i­len­ko in der Unter­su­chungs­haft­an­stalt am 25. April berich­te­te einer der Rechts­bei­stän­de, dass sich ihr Gesund­heits­zu­stand ver­schlech­tert habe. Sie kann nichts essen, da sie nicht das für sie erfor­der­li­che glu­ten­freie Essen erhält und ihre Fami­lie ihr auch kein Essen schi­cken darf. Sie fühlt sich die meis­te Zeit über schwach. Sie erzähl­te auch, dass sie von den Wärter_innen der Haft­an­stalt und ihren Zellengenoss_innen unter Druck gesetzt wur­de.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen unter »> ai : urgent action

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von papieren

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char­lie : 16.58 UTC — Wie­der die Fra­ge, ob es viel­leicht mög­lich ist, Papie­re zu erfin­den, die ess­bar sind, nahr­haft und gut ver­dau­lich? Man könn­te sich in einen Park set­zen, bei­spiels­wei­se und etwas Chat­win beob­ach­ten oder Lowry oder Cal­vi­no, Bücher, die Sei­te für Sei­te nach bel­gi­schen Waf­feln schmeck­ten, nach Bir­nen, Gin, Petro­le­um oder sehr fei­nen Höl­zern. Einen spe­zi­el­len Duft schon in der Nase, wird die ers­te Sei­te eines Buches gele­sen, und dann blät­tert man die Sei­te um und liest wei­ter bis zur letz­ten Zei­le, und dann isst man die Sei­te auf, ohne zu zögern. Oder man könn­te zunächst das ers­te Kapi­tel eines Buches durch­kreu­zen, und wäh­rend man kurz noch die Geschich­te die­ser Abtei­lung reka­pi­tu­liert, wür­de man Stür­me, Per­so­nen, Orte und alle Anzei­chen eines Ver­bre­chens ver­spei­sen, dann bereits das nächs­te Kapi­tel eröff­nen, wäh­rend man noch auf dem Ers­ten kaut. Man könn­te also, eine Biblio­thek auf dem Rücken, für ein paar Wochen eisi­ge Wüs­ten durch­strei­fen oder ein paar sehr hohe Ber­ge bestei­gen und abends unter dem Gas­licht in den Zel­ten lie­gen und lesen und kau­en und wür­de von Nacht zu Nacht leich­ter und leich­ter wer­den. – Das Radio erzählt, ein klei­ner Jun­ge habe sein Kin­der­zim­mer in einem U‑Bahnwagon unter der Stadt Char­kiw ein­ge­rich­tet. — stop

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ein seltsames buch

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lima : 22.16 UTC — Zwei Stun­den lang, es war Win­ter gewe­sen, beob­ach­te­te ich ein Buch, das kein gewöhn­li­ches Buch gewe­sen war, son­dern ein selt­sa­mes Buch. Ich notier­te: Ich beob­ach­te gera­de eben ein selt­sa­mes Buch. Dass es sich um ein selt­sa­mes Buch han­delt, ist dem Buch natür­lich zunächst nicht anzu­se­hen, weil das Buch sei­ner äuße­ren Gestalt nach, ein übli­ches Buch zu sein scheint. Die­ses Buch hier auf mei­nem Tisch ist von einer tief­blau­en Far­be. Sobald ich das blaue Buch nun in die Hän­de neh­me, wer­de ich spü­ren, dass das Buch atmet, weil an sei­ner Rück­sei­te durch fei­ne Lamel­len war­me Luft aus­zu­tre­ten scheint. Das ist des­halb so, weil sich in dem Buch eine Rechen­ein­heit befin­det, ein klei­ner Com­pu­ter, der sich mit dem Text oder mit der Geschich­te, die sich in dem Buch befin­det, beschäf­tigt. Es han­delt sich bei dem Buch­kör­per bei genau­er Betrach­tung näm­lich um eine Ver­samm­lung hauch­dün­ner Bild­schir­me, auf wel­chen sich Zei­chen befin­den, Bild­schir­me, die man umblät­tern kann. Was zunächst zu sehen ist, gleich auf wel­cher Sei­te das Buch auf­ge­schla­gen wird, sind eben erwähn­te Buch­sta­ben oder Zif­fern, die sich rasend schnell bewe­gen, sodass man nicht lesen, viel­mehr nur ahnen wird, was sich dort befin­den könn­te. Es ist dies der Moment, da der Com­pu­ter des Buches jenen Text, den man mit eige­nen Augen ger­ne sofort lesen wür­de, zu ent­schlüs­seln beginnt. Ein mög­li­cher­wei­se auf­wen­di­ges, zeit­rau­ben­des Ver­fah­ren. Als ich das Buch kauf­te, konn­te mir der Händ­ler der ver­schlüs­sel­ten Bücher nicht sagen, wie lan­ge Zeit ich war­ten müs­se, bis der Text des Buches für mich sicht­bar wer­den wür­de. Es berei­te­te ihm Freu­de, ich bin mir sicher, aus­zu­spre­chen, was ich längst dach­te, dass die Ent­schlüs­se­lung des Tex­tes eine Stun­de, einen Tag oder zwei­hun­dert Jah­re dau­ern könn­te, das sei immer­hin das Prin­zip, wes­halb man ein Buch die­ser Art erwer­ben woll­te, dass man ein Buch besitzt, von dem man nicht sagen kön­ne, ob es jemals les­bar wer­den wird. — Kurz vor Mit­ter­nacht. Das Radio erzähl­te so eben noch in Echt­zeit von Men­schen, die unter der Stadt Char­kiw in Kel­lern sit­zen. Eine Gei­ge, sie war sehr fein gera­de noch hör­bar, spiel­te zur Beru­hi­gung. Plötz­lich wur­de die Ver­bin­dung unter­bro­chen. — stop

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im zimmer. mitternacht

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echo : 0.15 — Auf der Suche nach Daniil Charms Text­samm­lung Fäl­le balan­cier­te ich zur Win­ter­zeit vor einem Bücher­re­gal auf einem Stuhl. Es war Sams­tag. Ich erhoff­te mir in dem gesuch­ten Buch einen Ort zu fin­den, des­sen Exis­tenz ich fort­an bewei­sen könn­te. Ich ste­he mit­ten im Zim­mer. Wor­an den­ke ich? — Ein bemer­kens­wer­ter Satz. — Wie ich bald von dem Stuhl gestie­gen war und wie­der auf dem Boden stand, hielt ich den Kri­mi­nal­fall Der ver­schwun­de­ne Kopf des Dama­s­ce­no Mon­tei­ro in Hän­den. Das Buch war im Jah­re 2000 gekauft und neun Jah­re spä­ter mit einer Wid­mung ver­se­hen wor­den. Der Lie­ben P. und dem lie­ben J. zur Erin­ne­rung an ihre Lis­sa­bon­rei­se, anläss­lich eines Blitz­be­su­ches. Von ihrer G. Ich ent­deck­te, dass G. und J. gestor­ben waren, wäh­rend P. damals noch leb­te. Nun ist auch sie gestor­ben und auch Daniil Charms ist noch immer tot und sein Über­set­zer Peter Urban seit 8 Jah­ren. Ein trau­ri­ger Moment. In mei­nem Kühl­schrank herr­schen nach wie vor 7 °C. Wie­der­um Mit­ter­nacht. Lang­sam spa­zie­re ich wie vor Jah­ren durch das nächt­li­che Zim­mer. Und wäh­rend ich so gehe, erin­ner­te ich mich leb­haft an G., an unse­ren letz­ten gemein­sa­men Spa­zier­gang über den Mün­che­ner süd­li­chen Fried­hof, wie ich mich wun­der­te, dass sie genau die­sen Weg genom­men hat­te, um mich zur U‑Bahn zu brin­gen, da sie ahn­te oder wuss­te, dass sie bald ster­ben wür­de. Es war ein war­mer Som­mer­abend gewe­sen. Sie ging von Schmer­zen gebeugt. In der wind­lo­sen Luft tanz­ten Flie­gen­tür­me. Ich kann mich noch immer nicht erin­nern, wor­über wir gespro­chen hat­ten. Aber an ihre Stim­me, an ihren Blick, ihren letz­ten Blick, der ein Abschied gewe­sen war. — stop
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bolano

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lima : 17.12 UTC — Nur für Bücher, erzählt sie, die zu schwer sind für ihre alten Hän­de, die­se leich­te, hand­li­che Lese­ma­schi­ne sei nur für schwe­re Bücher gedacht, für einen Bol­a­no, sagen wir, des­sen Buch­sta­ben im Papier­buch so klein gera­ten sei­en, dass nicht ein­mal eine Lese­bril­le noch hel­fen wür­de, dass sie das alles nur dann sehen wür­de, das Erzähl­werk, wenn sie vor Kopf­schmer­zen ster­ben wür­de oder sofort blind wer­den. Die­ser Bol­a­no nun in einem fla­chen Gerät mit Bild­schirm in ihren Hän­den, das kaum 100 Gramm schwer ist. Und die Buch­sta­ben so groß, dass sie nicht ein­mal eine Bril­le braucht, um alles sehen zu kön­nen. So sitzt sie jetzt vor dem Fens­ter, eine schnee­wei­ße Rose. Es ist spä­ter Nach­mit­tag. Sie legt das Gerät nicht auf den Tisch, sie hält es wie ein Buch mit bei­den Hän­den fest. Die wil­den Detek­ti­ve. Bald Früh­ling. — stop
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giuseppi logan

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marim­ba : 2.28 UTC — Ich lese in Doro­thy Bak­ers Roman Young Man With A Horn. Plötz­lich den­ke ich an Giu­sep­pi Logan (Hört ihm zu!) dem ich im Jahr 2010 im Thomp­kins Squa­re Park per­sön­lich begeg­net sein könn­te. Vie­le Tage sind ver­gan­gen, seit ich eine Geschich­te gele­sen habe, von der ich mich sagen hör­te, sie sei eine Geschich­te, die ich nie wie­der ver­ges­sen wer­de, die Geschich­te selbst und auch nicht, dass sie exis­tiert, dass sie sich tat­säch­lich ereig­ne­te, eine Geschich­te, an die ich mich erin­nern soll­te selbst dann noch, wenn ich mei­nen Com­pu­ter und sei­ne Datei­en, mei­ne Notiz­bü­cher, mei­ne Woh­nung, mei­ne Kar­tei­kar­ten wäh­rend eines Erd­be­bens ver­lie­ren wür­de, alle Ver­zeich­nis­se, die ich stu­die­ren könn­te, um auf jene Geschich­te zu sto­ßen, wenn sie ein­mal nicht gegen­wär­tig sein wür­de. Die­se Geschich­te, ich erzäh­le eine kur­ze Fas­sung, han­delt von Giu­sep­pi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazz­mu­si­ker, ein Mann von dunk­ler Haut. Logan, so wird berich­tet, atme Musik mit jeder Zel­le sei­nes Kör­pers in jeder Sekun­de sei­nes Lebens. In den 60er-Jah­ren spiel­te er mit legen­dä­ren Künst­lern, nahm eini­ge bedeu­ten­de Free­jazz­plat­ten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Dro­gen und war plötz­lich ver­schwun­den, man­che sei­ner Freun­de ver­mu­te­ten, er sei gestor­ben, ande­re spe­ku­lier­ten, er könn­te in einer psych­ia­tri­schen Anstalt ver­ges­sen wor­den sein. Ein Mann wie ein Black­out. Über 30 Jah­re war Giu­sep­pi Logan ver­schol­len, als man ihn vor weni­gen Jah­ren in einem New Yor­ker Park lebend ent­deck­te. Er exis­tier­te damals noch ohne Obdach, man erkann­te ihn an sei­nem wil­den Spiel auf einem zer­beul­ten Saxo­fon, ein­zig­ar­ti­ge Geräu­sche. Freun­de besorg­ten ihm eine Woh­nung, eine Plat­te wur­de auf­ge­nom­men, und so kann man ihn nun wie­der spie­len hören, live, weil man weiß, wo er sich befin­det von Zeit zu Zeit, im Tomp­kins Squa­re Park näm­lich zu Man­hat­tan. Es ist ein klei­nes Wun­der, das mich sehr berührt. Ich will es unter der Wort­bo­je Giu­sep­pi Logan in ein Ver­zeich­nis schrei­ben, das ich aus­wen­dig ler­nen wer­de, um alle die Geschich­ten wie­der­fin­den zu kön­nen, die ich nicht ver­ges­sen will. — Heu­te las ich, dass der alte Mann im April 2020 im Law­rence Nur­sing Care Cen­ter in Far Rocka­way, Queens wäh­rend der COVID-19-Pan­de­mie in New York City an den Fol­gen einer SARS-CoV-2-Infek­ti­on gestor­ben ist. — stop

 

Foto­gra­phie Jon Rawlinson

„Nie­mand klang in einem Ensem­ble so wie
Giu­sep­pi [Logan]. Bei sei­nem Spiel hielt er sei­nen Kopf weit zurück;
dazu erklär­te er: „Auf die­se Art ist mei­ne Keh­le weit offen“,
so konn­te er mehr Luft ein­zie­hen. Er spiel­te in einem
Umfang von vier Okta­ven auf dem Alt­sa­xo­phon. Was
ihn als Impro­vi­sa­tor von ande­ren unterschied,
war die Art, wie er sei­ne Noten platzierte
und damit einen bestimm­ten Klang schuf,
dem die ande­ren der Grup­pe dann folgten.
Sei­ne Stü­cke waren aus die­sem Grund sehr
attrak­tiv; Giu­sep­pi hat­te sei­ne ganz eigenen
Ansich­ten über Musik …“ – Bill Dixon

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kolibri m5

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india : 0.14 UTC — Es ist tat­säch­lich 0 Uhr und 14 Minu­ten, kurz nach Mit­ter­nacht. Ich habe lan­ge Zeit gewar­tet, näm­lich von 22 Uhr des ver­gan­ge­nen Tages an bis zu die­ser Minu­te, um fol­gen­den Text zu wie­der­ho­len, das heißt, ich wer­de Zei­chen für Zei­chen notie­ren, was ich vor Jah­ren bereits zur sel­ben Stun­de auf­ge­schrie­ben habe. Hört Ihr das Geräusch der Tas­ta­tur? Es ist kurz nach Mit­ter­nacht. Eine Droh­ne in der Gestalt eines Koli­bris sta­tio­niert seit weni­gen Minu­ten in einem Abstand von 1,5 Metern vor mir in der Luft. Sie scheint zu beob­ach­ten, wie ich gera­de über sie notie­re. Kurz zuvor war das klei­ne Wesen in mei­nem Zim­mer her­um­ge­flo­gen, hat­te mei­nen Kak­te­en­tisch unter­sucht, mei­ne Bücher, das Later­nen­si­gnal­licht, wel­ches ich vom Groß­va­ter erb­te, auch mei­ne Papie­re, Foto­gra­fien, Schreib­werk­zeu­ge. Ruck­ar­tig ver­la­ger­te das Luft­tier sei­ne Posi­ti­on von Gegen­stand zu Gegen­stand. Ich glau­be, in den Momen­ten des Still­stan­des wur­den Auf­nah­men gefer­tigt, genau in der Art und Wei­se wie in die­sem Moment eine Auf­nah­me von mir selbst, indem ich auf dem Arbeits­so­fa sit­ze und so tue, als gin­ge mich das alles gar nichts an. Von der Droh­ne, die ich ver­sucht bin, tat­säch­lich für einen Koli­bri­vo­gel zu hal­ten, war zunächst nichts zu hören gewe­sen, kei­ner­lei Geräusch, aber nun, seit ein oder zwei Minu­ten, mei­ne ich einen lei­se pfei­fen­den Luft­zug zu ver­neh­men, der von den nicht sicht­ba­ren Flü­geln des Luft­we­sens aus­zu­ge­hen scheint. Die­se Flü­gel bewe­gen sich so schnell, dass sie nur als eine Unschär­fe der Luft wahr­zu­neh­men sind. Ein wei­te­res, ein hel­les fei­nes Geräusch ist zu hören, ein Wis­pern. Die­ses Wis­pern scheint von dem Schna­bel des Koli­bris her­zu­kom­men. Ich habe die­sen Schna­bel zunächst für eine Attrap­pe gehal­ten, jetzt aber hal­te ich für mög­lich, dass der Droh­nen­vo­gel doch mit die­sem Schna­bel spricht, also viel­leicht mit mir, der ich auf dem Sofa sit­ze und so tue, als gin­ge mich das alles gar nichts an. Ich kann natür­lich nicht sagen, was er mit­tei­len möch­te. Es ist denk­bar, dass viel­leicht eine ent­fern­te Stim­me aus dem Schna­bel zu mir spricht, ja, das ist denk­bar. Nun war­ten wir ein­mal ab, ob der klei­ne spre­chen­de Vogel sich mir nähern und viel­leicht in eines mei­ner Ohren spre­chen wird. — stop
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metamorphosen

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tan­go : 15.38 UTC — Eine Frau sitzt an einem Tisch, sie notiert Ovids Meta­mor­pho­sen auf eine Papier­luft­schlan­ge. Wie behut­sam sie vor­geht, um das Papier nicht zu zer­rei­ßen. Kaum ist sie mit der Beschrif­tung einer der papie­re­nen Stre­cken zu Ende gekom­men, ver­bin­det sie mit einem Tröpf­chen Kleb­stoff eine wei­te­re noch unbe­schrif­te­te Schlan­ge. Kurz dar­auf notiert sie wei­ter, sehr fei­ner Pin­sel. Vor drei Jah­ren war ich die­ser Frau zum ers­ten Mal begeg­net. Heu­te ist sie noch immer frisch, eine Blü­te, viel­leicht des­halb, weil ihre Auf­ga­be, ihr Pro­jekt, unend­lich zu sein scheint. Vic­tor Klem­pe­rers Tage­bü­cher bereits seit Mai, dem 5. — stop



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