romeo : 0.14 — Habe gelernt, was eine Fassbombe ist, weil ich das Wort Fassbombe mehrfach hörte, darum habe ich nach Fassbomben in der digitalen Sphäre gesucht, nach Erläuterungen, was eine Fassbombe sein könnte und was sie bedeutet, wenn sie als Fassbombe tatsächlich vom Himmel fällt. Weitere sehr interessante Wörter und ihre Bedeutung sind in der Umgebung der Fassbombenberichte möglich geworden: Leitflügel . Aufschlagzünder . Schrapnell . Weiches Ziel. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich mich selbst als ein weiches Ziel zu betrachten habe, weil ich ein Mensch bin. Ich dachte, nehmen wir einmal an, eine Fassbombe nähere sich, und ich dachte plötzlich, dass in meiner Nähe, in meiner Umgebung, also in der Stadt, in der ich mich befinde, Menschen angekommen sind, die wissen, wie sich eine Fassbombe anhört, wenn sie explodiert. Ich könnte einige Städte weiterfahren mit dem Zug, und auch dort werden Menschen angekommen sein, die wissen, wie sich eine Fassbombe anhört oder anfühlt, wenn sie vom Himmel fällt, wenn sie in die Luft geht, wenn sie den Menschen um die Ohren fliegt, weiche Menschen, ja, weiche Menschen, wie weich wir Menschen sind. Ich bin froh, dass ich weiß, weiche Menschen ich fragen könnte, was eine Fassbombe ist, gleich hier in meiner Stadt könnte ich sie fragen. — stop
Aus der Wörtersammlung: eiche
pocket george
tango : 2.58 — George schrieb vor wenigen Tagen einen handschriftlichen Brief. Er wende sich mit einer dringenden Bitte an mich, er benötige etwas Geld, weil er im Moment zu wenig davon habe. Seine Telefonrechnung sei ihm über den Kopf gewachsen, außerdem habe er sich bei einem Auftrag für den Druck eines Buches vertippt, er habe anstatt 200 Exemplaren 20000 Exemplare seiner Geschichte vom Walfischorchester bestellt. Diese wunderbare Auflage sei prompt und ohne jede Nachfrage geliefert worden. Während er sich noch wunderte, wie ein Paket nach dem anderen Paket von drei oder vier Männern in seine Wohnung verfrachtet wurde, war bereits ein erheblicher Betrag von seinem Konto abgebucht, sodass er jetzt kaum noch die Möglichkeit habe, sich Brot, Käse oder Wasser zu besorgen, er sei verschuldet bis über beide Ohren hinaus bereits seit drei Monaten. Natürlich habe er gehofft, aber sein Hoffen habe nicht gewirkt, nun seien nicht nur er selbst, sondern auch seine Archive bedroht, die er in digitaler Sphäre auf Position POCKET gesammelt habe. Ihm sei damit gedroht, bei weiterem Zahlungsverzug, sein professionelles Konto unverzüglich in ein nicht professionelles Konto zu verwandeln, seine Daten würden verloren gehen, weswegen er nun sehr verzweifelt sei, nicht nur verzweifelt, sondern müde, er zögere, seinen Computer überhaupt noch mit dem Internet zu verbinden, weil das Internet dann seine Daten sogleich aus seinen Speichern zurückholen würde, er habe nicht geahnt, dass er einmal in eine derart verzweifelte Lage kommen, dass sich das Internet als ein derart gefräßiges Tier darstellen würde, welches seinen Computer, seine Sammlung aus dem Web verschwundener Seiten an sich reißen würde, man kann mit diesen Raubtieren nicht einmal telefonieren, schrieb George vor wenigen Tagen.- stop
tintenfinger
lima : 0.55 — Mit dem langsamen Verschwinden der Briefe flüchten unsere Postwertzeichen in Schachtelbehälter, in Alben, in Museen, kostbare, bunte Wesen von Papier, die wir noch mit unseren Zungen befeuchteten, um sie mit Briefumschlägen für immer zu verbinden. Auch Gesten, die den Briefen zugeordnet sind, werden sich nach und nach verlieren. Die Geste des Zerreißens beispielsweise, oder die Geste des Zerknüllens. Wann habe ich zuletzt beobachtet, wie der Empfänger eines Briefes sich dem geöffneten Dokument mit der Nase näherte, um von der Luft der geliebten schreibenden Person zu atmen, die mit dem Brief gereist sein könnte? Verloren die Abdrücke der Tintenfinger, die Ränder einer Briefseite zierten, verloren auch das feine Geräusch der Skalpelle, indem sie teilend durch das seidene Futter der Kuvertkoffer ziehen. Ein absurder Gedanke möglicherweise, wie ich den E‑Mailbrief einer Behörde, der mich zornig werden lässt, ausdrucke, wie ich ihn in einen Umschlag stecke, wie ich ihn für einige Sekunden in Händen halte, wie ich mich konzentriere, wie ich den Brief genussvoll in winzige Teile zerlege. — stop
zerzaust
victor : 0.55 — L. erzählt, sie habe einmal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zeitungen. Trotzdem sei diese Frau, deren Namen sie nicht in Erinnerung habe, Wörtern sehr eng verbunden gewesen, da sie pausenlos Wörter notierte. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafés, U‑Bahnen, auf Bänken sitzend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie verlassen haben soll. Sie schrieb an einem einzigen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer weiteren Variante mit sich führte, im Grunde an einem Buch einerseits, das sie bereits aufgeschrieben hatte, und einem Buch andererseits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrieben worden war, wiederholte, aber natürlich nicht, ohne das Buch im Prozess des Abschreibens zu ergänzen. Jede Ergänzung wurde sorgfältig überlegt, manchmal wurden Wörter ersetzt, ganze Sätze oder ein Gedanke hinzugefügt, selten eine Passage gestrichen. In dieser Weise veränderte sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wurde langsam schwerer. Immer dann, wenn ein Buch abgeschrieben worden war, verschwand das abgeschriebene Buch. Und wiederum begann die Frau eine weitere Kopie anzufertigen, die sich im Prozess der Verdopplung scheinbar nur unwesentlich von ihrem Original unterscheiden würde. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spazieren und war stets sorgfältig gekleidet. Sie soll schon ein wenig wild ausgesehen haben, zersaust, aber glücklich, sagen wir, zerzaust und immer beschäftigt und irgendwie fröhlich. Sie notierte zierliche, äußerst exakte Zeichen. — stop
transfer
echo : 3.05 – Vor fünf oder sechs Jahren schrieb ich einen Brief an einen verschollenen Freund. Ich erzählte ihm von der Welt der Fährschiffe, wie ich sie erkundet hatte auf der Upper New York Bay. Ich bat ihn, er möge sich um Himmelswillen melden. Vermutlich war ich nicht wirklich überzeugt gewesen, dass meine E‑Mail den verschwundenen Freund erreichen würde, er war zuletzt doch schon sehr verrückt gewesen, er hielt sich für einen anderen, und war seit bereits zwei Jahrzehnten vermisst. Ich notierte also eine Botschaft für einen auch von mir selbst verehrten Schriftsteller, die ihn unmöglich oder sehr wahrscheinlich nicht erreichen würde. Ich sendete mein Schreiben an einen E‑Mail-Dienst im finnischen Turku, der versprach, Schriftsätze an Menschen weiterzuleiten, die verschwunden waren, vielleicht gegen ihren Willen wie vom Erdboden verschluckt oder weil sie sich versteckten. Einige Stunden später wurde der Eingang meiner E‑Mail bestätigt mit dem Versprechen einer Nachricht, sobald die E‑Mail weitergegeben werden konnte. In diesem glücklichen Falle sollte ich 85 Dollar überweisen an ein Postamt eben der Stadt Turku, ein ganz angemessener Betrag, wie ich finde. Vor wenigen Minuten nun erhielt ich meine E‑Mail mit dem Vermerk zurück: Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihre E‑Mail an Mr. John Dos Passos nicht zustellen konnten. Mit freundlichen Grüßen — stop
es ist abend
marimba : 6.02 – Wie Schnee, ein gutes Dutzend Menschenfotografien. Von L., die über einem Buch eingeschlafen ist, wie sie an einem Küchentisch sitzt, den Kopf auf ihre Hände gebettet, sie muss bemerkt haben, dass sie gleich das Bewusstsein verlieren wird. Von M., der im Wald über eine Wiese voller Schneeglöckchen spaziert, ein Manuskript in der linken Hand, dessen Sätze er auswendig lernen muss, um sie auf einer Bühne zu sprechen. Er geht schnell, weil kaum noch Zeit ist, aber das ist auf der Schwarz-Weiß-Fotografie nicht zu erkennen. Von P., die vor einer Erdmulde unter einer Birke steht. Das Grab der Eltern ist verschwunden, der Hügel voller Blumen, ein Gedenkstein, aber die Birke ist noch da, sie war schon da, als sie geboren wurde, und sie weiß, dass tief da unten auch die Knochen der Eltern noch immer anwesend sind. Von I., der sich, wie ein Jahr zuvor, Tag für Tag darüber freut, dass er das Wort Kühlschrank zu erinnern vermag. Von J., die einen Fotoapparat auf sich selbst richtet an einem Abend, da sie bemerkt, dass das Sausen in ihren Ohren plötzlich verschwunden ist, wie sie der Stille lauscht. Von K., die über eine Straße stürmt auf dem Weg zum Tanz, barfuß, ihre roten, flachen Lederschuhe in der rechten Hand, und obwohl es regnet, wirbeln nasse Blätter hinter ihr durch die Luft. Von N., deren Schwester in Kobanê kämpfte, wie sie schläft. Die Schwester soll N. ähnlich gewesen sein, aber niemand weiß das so genau, weil die Schwester vor 15 Jahren in den Untergrund verschwand, weil sie in den Bergen kämpfte, weil der Krieg mit Menschengesichtern macht was er will, weil sie nie wieder zurückkehren wird. Von M., die im Dezember noch in den Bergen wanderte auf einer Alm, wo der Schnee Muster auf eine Wiese zeichnete, wie sie auf der Haut der Sommerkühe anzutreffen sind. Von dem kleinen H. aus Aleppo, der sich wundert, dass er noch immer lebt. Er zeigt gerade Siegeszeichen mit beiden Händen, als der Fotograf seinerseits seine letzte Aufnahme macht. Von K., der mit geschlossenen Augen auf einer Violine spielt, die aus Stirnknochen eines gestrandeten Wales geschnitzt wurde. Von Y., die in einem feinen dunkelblauen Kostüm nahe Columbus Circle im Central Park neben einem Rollkoffer steht und mit einem Eichhörnchen spricht, das mit gespitzten Ohren vor ihr sitzt. Es ist Abend. — stop
2 minuten
alpha : 5.25 – Eine Freundin, B., erzählte, sie sei kürzlich in einer Straßenbahn gefahren, da habe ein Mann in ihrer Nähe Platz genommen. Sie habe gerade gelesen, als sich der Mann fast lautlos setzte, sie habe kurz ein wenig den Blick gehoben und auf dem Unterarm des Mannes die Zeichen ISLAM entdeckt, diese Zeichen seien dort eintätowiert gewesen, eine Hautbeschriftung wie für die Ewigkeit eines ganzen Lebens. Sie habe dann erst einmal ihre Lektüre fortgesetzt, aber sie habe sich nicht länger auf ihr Buch konzentrieren können, darum habe sie den Blick gehoben. Ihr Blick sei über die Inschrift ISLAM, sie war tatsächlich noch immer dort gewesen, hinweggehuscht zum Gesicht des Mannes hin, das ein junges Gesicht gewesen sei. Der Mann habe sie äußerst bedrohlich, also aggressiv oder so ähnlich, betrachtet, ein Blick unentwegt, ein Blick ohne einen Lidschlag, da habe sie sich gefürchtet, habe ihren eigenen Blick wieder gesenkt und das Buch angesehen, aber natürlich nicht gelesen, sondern nachgedacht. Ja, was sie gedacht habe, sei nicht gerade angenehm gewesen, sie habe sich überlegt, ob der Mann, der ihr gegenübersaß, vielleicht eine Waffe, gar einen Sprengstoffgürtel tragen könnte. Ihr sei auch in den Sinn gekommen, dass sehr viele Menschen in der Straßenbahn gefahren seien, was eigentlich ein gutes Zeichen gewesen sei, weil man ihr hätte helfen können, einer gegen viele, aber dann habe sie daran gedacht, dass gerade dort, wo viele Menschen sich befinden, Bomben explodieren, weil man in dieser Weise viele Menschen auf einmal umbringen könne, und sie habe den Eindruck gehabt, dass sie sofort aufstehen und aussteigen sollte. Aber dann habe sie sich gesagt, dass sie das jetzt aushalten müsse, und deshalb sei sie sitzen geblieben, und das alles in ein oder zwei Minuten. — stop
shanghai
echo : 0.55 – In Shanghai soll eine Wohnung existieren, die sich zwischen zwei moderne Wolkenkratzer schmiegt. 26 Zimmer zu je 3 Quadratmetern, 2.5 Meter hoch, liegen unmittelbar übereinander und sind je mit einer Leiter durch Luken zu erreichen. In dieser Wohnung soll ein drahtiger, älterer Mann leben, davon träumte ich vorgestern, ich schlief also und beobachtete mich selbst, wie ich der Stimme des Mannes folgte, der lange Zeit nicht sichtbar gewesen war. Die Stimme feuerte mich an, komm, komm, Louis, nicht müde werden! Aber ich war nicht müde, niemals war ich müde geworden, sondern sah mich in jedem der Zimmer nur um, ehe ich zum nächsten Zimmer weiter stieg. Die Wände einiger Zimmer waren Fotografien vorbehalten, an den Wänden anderer Zimmer stapelten sich Bücher, in jedem Zimmer stand ein Stuhl vor einem Fenster, im 24. Stock entdeckte ich eine Küche, und wie ich das Zimmer unter dem Dach erreichte, wurde ich vom Herrn der Turmwohnung begrüßt. Er war ein kleiner Mann, recht alt, er sah im Grunde ganz genauso aus, wie ich mir vorstelle, selbst einmal auszusehen, wenn ich ungefähr 150 Jahre alt geworden sein werde. Der Mann trug eine Khakihose und ein weißes Hemd. An Weiteres erinnere ich mich nicht. — stop
vor schnee
marimba : 6.18 – Ein Zoologe, L., mit dem ich gestern am späten Abend telefonierte, erzählte von einer Reise nach Grönland im vergangenen Frühling. Er sei eingeladen gewesen, an der Besichtigung eines schlafenden Wales teilzunehmen, der in einer tiefen Bucht vor Oqaatsut senkrecht mit dem Kopf nach oben im kalten Wasser schwebte. Ein großartiger Anblick, dieser mächtige Körper, umschwärmt von Seehunden, die unter gleichermaßen neugierigen Fischen wilderten. Von der nautischen Gesellschaft der Universität Oslo seien mehrere Kameras eingesetzt gewesen, die den Wal Zentimeter für Zentimeter untersuchten. Erste Hinweise deuteten auf eine möglicherweise noch unbekannte Spezies hin. Man sei am zweiten Tage der Untersuchung behutsam mittels eines Körper-U-Bootes in das Innere des Wales vorgedrungen, habe in die Dunkelheit des Magens geleuchtet, um dort zwei sehr alte Kämme von Elfenbein vorzufinden, ein Kofferradio, drei Rettungsringe ohne Beschriftung, einen Peilsender, sowie fünf Bücher, die merkwürdigerweise von wasserfester Substanz gewesen seien. Am kommenden Sonntag, so L., reise er nach Oqaatsut zurück, der Wal schlafe noch immer, er habe indessen kaum an Körpermasse verloren, was höchst erstaunlich sei. – Freitag. Früher Morgen. Die Luft duftet nach Schnee. – stop
paris : 5 minuten
sierra : 3.15 – Der junge Mann will wissen, ob ich vielleicht gerade Nachrichten lese, die von der Stadt Paris erzählen. Sein Gesichtsausdruck, indem er auf mein Mobiltelefon deutet, ist ernst. Ich wohne in Paris, sagt er, ich bin dort aufgewachsen, ich studiere in Deutschland, ich habe versucht meinen Großvater zu erreichen, aber er meldet sich nicht, ich komme nicht durch, ich bin so aufgeregt, auch meine Freundin ist verschwunden. Wir stehen am Bahnhof, warten auf einen Zug, der in Richtung des Flughafens fährt. Es ist kurz nach Mitternacht. Auf dem Mobiltelefon des jungen Mannes wird von achtzehn Todesopfern berichtet, auf meinem sind bereits über vierzig Menschen gestorben. Der junge Mann läuft immer wieder einmal einige Meter den Bahnsteig entlang, schaut auf sein Telefon, hält es an sein Ohr, kommt wieder zu mir zurück, fragt, ob ich etwas Neues in Erfahrung bringen konnte. Ich sage: Ich glaube, für Frankreich wurde gerade der Ausnahmezustand erklärt. Oh Gott, antwortet der junge Mann, was ist nur geschehen! Er steht ganz still vor mir, schaut mich an. Wir kennen uns eigentlich nicht gut. Fünf oder sechs Minuten Zeit sind vergangen, seit der junge Mann fragte, ob ich Nachrichten lese, die von der Stadt Paris erzählen. Plötzlich klingelt sein Telefon. – stop