nordpol : 0.01 — Donnerstag, später Abend. Mrs. Lillue spielt Mozarts Violin Concerto No 5. Schwere Schneeflocken schaukeln vom dunklen Himmel. Eisige Kälte da draußen über der Upper Bay, in der Wartehalle Whitehall Ferry Terminal aber ist es warm und die Luft so trocken, dass Mrs. Lillue ihren Mantel ablegt. Sie trägt jetzt ein dunkelgrünes Kleid, das bis zum Boden reicht und feuerrote Turnschuhe. Ein schwarzer Junge sitzt in ihrer Nähe auf seinem Basketball und hört ihr zu, mit ernstem Gesicht. Kaum ein weiterer Laut zu hören, obwohl hunderte Menschen darauf warten, auf das nächste Schiff treten zu dürfen, das gleich anlegen wird. In diesem Moment nähert sich eine zierliche alte Frau der Künstlerin. Sie ist beinahe durchsichtig, so hell ihre Haut, so hell ihre Augen, und auch ihre Stimme so hell, dass man sie kaum noch vernehmen kann. Sie will wissen, wie alt die Geige sei, auf der Mrs. Lillue spielt? Wie sich die alte Frau so weit streckt, bis sie auf den Spitzen ihrer Zehen zu stehen kommt, um mit dem Rücken ihrer Hand über das Holz des Instruments zu streichen. — stop
Aus der Wörtersammlung: eiche
roosevelt island : lawrence
ulysses : 1.58 — Wolkenloser Himmel. ‑8° Celsius. Ich trage heute zum ersten Mal Lawrence spazieren unter Mantel, Pullover, Hemd unmittelbar auf meiner Haut, ein Schlangenwesen mit einem kleinen Kopf, der in der Nähe meines Halses zu liegen gekommen ist. Dort lurt er jetzt unterm Schal hervor, man muss sich das einmal vorstellen, Lawrence’s sandfarbenen Kopf ohne Augen, Ohren, Nase, aber von einem Mund beseelt, den ich mit getrockneten Speckstreifen füttere, während ich durch die knisternde Winterluft stelze. Ich kann Lawrence hören, er ist ein leiser, ein gemächlicher Fresser. Und die Wärme fühlen, wundervoll, die sein feinhäutiger Körper erzeugt, der mich fest umwickelt, meine Brust, meinen Bauch, meine Arme, meine Beine. Speck für sechs Stunden Wanderzeit habe ich in meine Taschen gepackt. Es ist jetzt 10 Uhr vormittags, um kurz vor vier Uhr nachmittags sollte ich zurückgekommen sein, dann sehen wir weiter. Sonntag ist geworden. Und so gehen wir an diesem Sonntag also spazieren, Lawrence und ich. Zunächst gehen wir die 5th Avenue nordwärts und ein wenig durch den Central Park. Tausende heller Wölkchen steigen dort aus den Mündern tausender New Yorker Menschen. Höhe 67. Straße drehen wir wieder um, laufen zurück, folgen der 59. Straße westwärts, bis wir den East River erreichen, Roosevelt Island Tramstation. In der Seilbahn übergesetzt, einmal hin und sofort wieder zurück, Pingpong. In einem Baum, 61. Straße, lungerten Hunderte schlafender Tauben, als wären sie Blüten. — stop
echo
india : 16.32 — Beobachtete, dass die Wahrnehmung eines Gedankens stets nur von einem weiteren, einem zweiten Gedanken aus möglich zu sein scheint. — Wieder die Fragen: Existieren Satzzeichen in der Gedankensphäre? Ist es möglich, einen ursprünglichen Gedanken zu erfinden? — stop
spulen
sierra : 15.01 — Ich hatte eine Spule digitaler Speicherscheiben von einem Zimmer in ein anderes Zimmer getragen. Wie ich über eine Türschwelle trete, wurde mir bewusst, dass ich in meinen Händen 500 Filme transportierte oder 750 Stunden Zeit, die vergehen würde, wenn ich jeden dieser Filme einmal betrachten sollte. Ich setzte mich auf mein Sofa und legte eine der Scheiben in meinen Computer. Kaum 2 Minuten waren vergangen, und schon hatte ich 5 Filme, die auf dem Datenträger seit Jahren gespeichert waren, von ihrem ursprünglich Ort in einen Kasten von der Größe einer Zigarrenschachtel transportiert. Mein Computer arbeitete indessen so leise, dass ich mein Ohr an sein Gehäuse legen musste, um gerade noch seinen Atem vernehmen zu können. Zwei Stunden atmete mein Computer, in dem er alle Filme der Spule, Scheibe um Scheibe, in den kleinen Kasten, der neben ihm auf dem Sofa ruhte, transferierte. Dann holte ich eine weitere Spule und setzte meine Arbeit fort, bis auch diese Spule und ihre Filme in das Kästchen übertragen waren, Spule um Spule, eine Nacht entlang. Nun ist das so, dass sich in meinem neuen Filmmagazin ungefähr 3000 Filme befinden, ohne dass das Datenkästchen größer oder schwerer geworden wäre. Ich glaube, ich habe etwas Welt verdichtet, einen Raum gespeicherter Filmbetrachtungszeit verkleinert, eine Möglichkeit der Zeit, die sich selbst nicht verändert haben sollte. — stop
102 minuten
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : 102 MINUTEN
Vormittag. Der Himmel sonnig, die Spitzen der Berge weiß seit Tagen. Wenige Wochen vor meiner Reise nach New York, liebe Daisy, liebe Violet, will ich Euch berichten von einer kleinen Probe, die ich unternommen habe, um vorzuprüfen, ob ich in der Lage sein werde, in der großen Stadt mit meinen Untersuchungen der Wirklichkeit rasch voranzukommen. Ich habe nämlich gerade einen Koffer mit allen möglichen Gegenständen gefüllt, die ich vorhabe mitzunehmen, ein Jackett, Pullover, Wildlederfäustlinge, einen Schal, Wanderschuhe, zwei Norwegermützen, sowie einen Schneeschirm, der in der Lage sein sollte über meinem Kopf durch die Luft zu schweben. Des Weiteren eine Schreibmaschine, eine elektrische Maus, zwei Fotoapparate, ein Tonbandgerät, das gerade so groß ist, dass ich es mit einer Hand umfassen kann. Außerdem einen Reisebehälter, wie unlängst berichtet, für Trompetenkäfer polaren Ursprungs, Spazierpläne, Subwaykarten, Bücher für Ruhezeiten abends und nachts. Da wären Robert Falcon Scotts Aufzeichnungen einer letzten Reise, Wilhelm Genazinos Roman Wenn wir Tiere wären, das Buch der 102 Minuten, das mich seit Tagen fesselt, weil es auch von Holly erzählt. Kurzum, diese Gegenstände nun waren in einem großen und einem weiteren, kleineren Koffer aufgehoben. Ich habe beide Reiseobjekte neben mich gestellt und angehoben für zwei Minuten. Ich sage Euch, es geht. Was machen die Simmons? Ist alles o. k.? Ahoi – Euer Louis
gesendet am
10.12.2011
18.30 MEZ
1433 zeichen
tastende fingerohren
alpha : 15.01 — Seit Wochen mobilisiert eine junge Frau meinen rechten Arm in Portionen der Zeit, die wohltuend sind. Eine eigenartige Erfahrung. Als würde sich die junge Frau mit meinem Arm unterhalten in einer Sprache komplizierter Bewegung. Dehnen. Strecken. Drehen. Ziehen. Drücken. Kreisen. Streichen. Dann Phasen der Ruhe. Bald scheint sie in meinen Arm hineinzuhören, als ob ihre Finger über sensible Ohren verfügten, tastende Ohren, die nach Bewegungen meiner Sehnen, meiner Muskeln fragen. Ein feines Gehör. Eine Sprache nachhaltiger Argumente, die meine Muskeln aus ihrer Schutzspannung lösen. Das Gespräch der Hände, Beschwörung, nachdrücklich, auch Ermunterung, Ermutigung: Erinnert Euch! – Schnee über Nacht. Sturmwind auf den Bergen. Dohlen sind ins Tal gekommen. — stop.
polartrompete
ginkgo : 6.55 — Eine Käfergestalt, die gleichermaßen die Eigenschaften eines Trompetenkäfers wie die Eigenschaften eines Polarkäfers in sich vereinigen würde, ein Käfer demzufolge, der Trompetengeräusche von sich zu geben in der Lage wäre einerseits, anderseits sich vom Licht der Sonne ernährte, von feinsten Stäuben der Luft und vom gefrorenen Wasser zu seinen Füßen. Diese Persönlichkeit wäre das erste Wesen seiner Gattung, die antarktische Landschaft bewohnte, ein Käfer feinster Musik. Er würde vermutlich Geräusche der Eisstürme nachempfinden, würde sich mit Hornfüßen in den Boden stemmen, würde das erinnerte Sausen polarer Nordwinde mit dem erinnerten Sausen polarer Südwinde verquirlen, West und Ostorkane darüber pfeifen, ohne je zu wissen, warum er in dieser Weise handelte. Und wenn man nun reiste? Nun, der Koffer eines Trompetenkäfers polaren Ursprungs sollte einer Zigarrenkiste ähnlich sein. Ich meine die Größe des Koffers, in deren gefütterter Mitte eine Vertiefung zu finden wäre, den präzisen Körperlinien des Käfers folgend, sodass sich der Käfer dort einschmiegen würde, schlafen, ohne im Koffer selbst hin und her zu fallen. Nicht rot der Samt des Futterals, sondern weiß, nämlich von Schnee gemacht, weil es sich bei dem Reisekoffer eines Trompetenkäfers polaren Ursprungs nicht eigentlich um eine Zigarrenschachtel handelte, viel mehr um einen Reisekühlschrank in der Gestalt eines hölzernen Behälters für Rauchwaren in länglicher Form. — Ort: Dome A. Position: 80°22’ S 77° 21’E. Temperatur: — 82,5 °C. – stop
obersalzberg : kentauren
sierra : 12.10 — Man sollte meinen, ein Buch sei ausschließlich zum Lesen geeignet, eine Substanz hellen Papiers, Zeichen in gefalteter Linie, die mit den Augen studierend entlangzuarbeiten ist, Farben, Gerüche, Klänge, Drama. Seit einigen Stunden nun weiß ich, Bücher helfen gleichwohl in mechanischer Weise anatomisch wieder beweglich zu werden. Toni Morrisons Roman Jazz, zum Beispiel, 402 Gramm Gewicht für Minuten in meiner Hand am Ende eines Unterarmes, den ich zu strecken wünsche, widerspenstig ist er noch, bewegt sich nicht von eigener Kraft in jede der von mir gewünschten Richtungen. Wie er jetzt von der Schwerkraft der Dichtung nach unten gezogen wird, behutsam, in der Art und Weise langsam fallender Äpfel, sagen wir, eine Bewegung, mit den Augen nicht wahrnehmbar. – Kurz vor 12 Uhr. Mittag. Jenseits des Tales, das ich vom Hospital aus überschauen kann, spaziert gleißendes Sonnenlicht über den Obersalzberg hin, unheimliche Gegend. Ich meinte für Sekunden ein Rudel Kentauren gesehen zu haben, die den Saum eines Buchenwaldes entlang galoppierten. stop. Großartige erste Sätze im Kopf. stop. Toni Morrison. stop. STH, I know that woman. She used to live with an flock of birds on Lenox Avenue. Know her husband, too. He fell for an eighteen-year-old girl with one of those deepdown, spooky loves that made him so sad and happy he shot her just to keep the feeling going. When the woman, her name is violet, went to the funeral to the the girl and to cut her dead face they threw her to the floor and out of the church. She ran, then, through all that snow, and when she got back to her apartment she took the birds from their cages and set them out the windows to freeze or fly, including the parrot that said, „I love you.“
radio
echo : 15.05 — Ich war einmal Besitzer eines Radios mit elektrischem Auge. Sobald ich auf einen Knopf drückte, glühte das Auge zunächst dämmernd, dann leuchtete das Auge grün wie das Wasser eines Bergsees und ich hörte seltsame Stimmen und Rauschen und Pfeifen. Das Radio war ein sehr gutes Radio. Es existierte seit dem Jahre 1952, war also viel älter als ich selbst und musste nie zur Reparatur gebracht werden. Nur einmal hüpfte eine Taste heraus und das Radio sah fortan aus, als habe es einen Zahn verloren. An einem sehr heißen Julitag des Jahres 1974 saß ich gerade vor dem Radio ohne Zahn, als gemeldet wurde, Fallschirmjäger seien über Zypern abgesprungen. Von einem Konflikt war die Rede und das Auge des Radios leuchtete dazu und die Membran seines Lautsprechers zitterte. Ich erinnere mich, dass ich dachte, dass nun Krieg sei, ein wirklicher Krieg, der erste Kriegsbeginn, den ich als Wellenempfänger miterlebte. Irgendwann verschwand das alte Radio und ich bekam ein neues Radio. Dieses Radio konnte Geräusche speichern, und so speicherte ich Geräusche, singende Frösche vielleicht, oder meine Stimme, die mich befremdete, die nie meine eigene Stimme gewesen war, sondern immer die Stimme eines anderen, der ähnliche Dinge sagte. Bald machte ich mit einer weiteren Maschine Filme, nein, ich zeichnete Filme auf ein Band, den Film der Stadt Bagdad an einem Vorkriegsmorgen zum Beispiel. Die Sonne strahlte vom Himmel, und ein Vogel, der nicht zu sehen war, zwitscherte. Vielleicht saß der Vogel auf einer gepanzerten Kamera, die das Bild der leuchtenden Stadt zu mir hin übertrug. Dieser Vogel war noch Radio gewesen. — stop
eine fliege
india : 6.28 — Eine Fliege war unlängst aus großer Höhe abgestürzt und vor mir auf den Tisch gefallen. Die Vorstellung zunächst, das Tier könnte, noch im Flug befindlich, aus dem Leben geschieden sein, dann aber war Bewegung im liegenden Körper zu erkennen, zwei der vorderen Fliegenbeinchen bewegten sich bebend, bald zuckten zwei Flügel. Die Fliege schien benommen, aber nicht tot gewesen zu sein, weswegen sie bald darauf erwachte, eine äußerst schnelle Bewegung und schon hatte die Fliege auf ihren Beinen Platz genommen, das heißt genauer, auf Fünfen ihrer sechs Beine Platz genommen, das linke hintere Bein streckte die Fliege steif von sich. Keine Bewegung der Flucht in diesem Zeitraum meiner Beobachtung. Auch dann, als ich mich mit dem Kopf näherte, keine Anzeichen von Beunruhigung. Die Fliege schien mit sich selbst beschäftigt zu sein, tastete mit einem ihrer Hinterbeinchen nach der gestreckten Extremität, die verletzt zu sein schien, gebrochen, vielleicht oder gestaucht. Natürlich stellte sich sofort die Frage, ob es möglich ist, das Bein einer Fliege medizinisch erfolgreich zu versorgen, Bewegungsstillstand zu erreichen, sagen wir, um eine Operation zum Beispiel, die dringend geboten sein könnte, vorzubereiten. Ich machte ein paar Notizen von eigener Hand, ich notierte in etwa so: Forschen nach Mikroskop, Pinzetten, Skalpellen, anatomischen Aufzeichnungen, Schrauben, Narkotika und Verbandsmaterialien für Operation an geöffneter Calliphora vicina. Nein, fangen wir noch einmal von vorne an. Unlängst. Eine Fliege. — stop