sierra : 5.22 – Ich könnte vielleicht sagen, dass ich die Anatomie meiner Wohnung großzügig kenne. Ich weiß zu beschreiben, wo sich meine Küche befindet und wo genau dort Kühlschrank, Tassen, Kaffee. Aber schon mit meinem Radio, seiner inneren Gestalt, fängt die Welt der nächsten Nähe an, seltsam unbekannt zu werden. – Da ist noch etwas. Seit zwei Tagen habe ich das Gefühl, für jedes neue Wort, das ich lerne, ein anderes zu vergessen. Warum? — stop
Aus der Wörtersammlung: etwas
zwei erfinder
~ : louis
to : Mr. sami tupavuari
subject : penelope
Sehr geehrter Herr Tupavuari! Guten Abend! Ich heiße Louis. Sie werden mich nicht kennen. Ich hörte, Sie sollen ein Geräuschworterfinder sein. Bis vor Kurzem wusste ich nicht, dass Menschen wie Sie existieren. Umso glücklicher fühlte ich mich, als mir ein Freund von ihren Fähigkeiten berichtete. Ich wende mich nun mit einer dringenden Bitte an Sie. Es geht darum, dass ich Ihnen von Penelope zu erzählen wünsche, einer sehr besonderen Person, einer Frau, die in der Lage ist, Finger in der Art und Weise der Eidechsen von sich zu werfen. Sie werden sich vielleicht wundern, wie so etwas möglich ist. Glauben Sie mir, auch ich wundere mich von früh bis spät über dieses faszinierende Geschöpf. Reine Erfindung und doch schon ein dringender Fall. Sie müssen wissen, ich komme nicht weiter, weil ich ein Wort entbehre, das mir nicht einfallen will, ein Wort, eine Lautschrift, die ein Geräusch wiedergeben oder darstellen könnte, das in genau jenem Moment entsteht, wenn sich ein Finger Penelopes von ihrem Körper löst. Ein Wort müsste das sein, welches von Haut und Knochen ist, ein leichtes, windiges, sanftes, erstaunliches Wort. Wie unermesslich dankbar wäre ich Ihnen, lieber Herr Tupavuari, wenn Sie mir weiterhelfen, wenn sie sofort Ihre Arbeit aufnehmen könnten. Ich frage Sie nun in aller Eile: Was würde ein Wort, wie das gewünschte Wort, in etwa kosten? Mit besten Grüßen – Ihr Louis
gesendet am
28.09.2009
23.58 MESZ
1405 zeichen
situs inversus / apsis 5
tango : 8.58 – Früher Morgen. Eine Nacht schwerer Arbeit liegt hinter mir. Ich hatte gestern noch einer Freundin, deren Vater gerade gestorben ist, während eines Spazierganges von meiner Suche nach Rheinelefanten erzählt. Wie ich auf und ab fahre, Stunde um Stunde mit dem Zug zwischen Bingen und Koblenz, die Kamera gezückt. Und wie sie in ihrer Trauer doch für einen Moment herzhaft lachte. Dann sitze ich vor dem Schreibtisch und habe partout kein Verlangen nach anatomischen Dingen. Dem entgegen menschenleere Szenen weiter gelesen. Ich lehne an einer Wand des Präpariersaal’s. Irgendwo klappert ein Stück Metall, nichts weiter ist zu hören. Oder doch vielleicht ein schimmerndes Geräusch in meinem Kopf, leise, leise. Jenseits der Fenster hüpfen Vögel in den Bäumen, Bewegung, die anzeigt, dass ich weder vor einem Gemälde noch vor einer Fotografie Platz genommen habe, dass ich mich von der Wand lösen und zu einem der Tische wandern könnte, etwas verändern, den Faltenwurf einer Decke vielleicht, oder eine Seite umblättern in einem anatomischen Atlas, der im Saal zurückgelassen wurde. Ich sollte ein Stück Kreide in die Hand nehmen und auf eine Tafel schreiben: Situs inversus / Apsis 5 Tisch 82
kaukasus : unsichtbare fotografie
sierra : 2.08 – Oktoberlicht, das auf eine Straße fällt. In der Mitte dieser Straße liegt eine junge Frau auf dem Rücken. Sie liegt, als würde sie bald schlafen, die Beine von sich gestreckt. Eine blaue Bluse. Gelbe Turnschuhe. Jeans. Da und dort segelt ein Schatten unter der Haut ihrer Wangen, und doch ist das Gesicht ein schneeweißes Gesicht mit einem roten, blühenden Mund. Augen, die halb geschlossen sind. Unendlich müde blaue Augen oder doch eher unendlich müde dunkle Augen, ja, doch eher dunkle Augen, das Blau der Bluse irrt auf ihrem Gesicht herum. Auch ihre Hände sind weiß und etwas blau. Eine Hand liegt auf der Straße, die andere Hand auf dem Bauch der jungen Frau. Hände, die etwas planten vielleicht, Hände, die angehalten wurden oder aufgehalten, indem man die Zeit im Körper der jungen Frau stoppte oder löschte. Ja, kühl muss sie sein, kühl geworden, ohne jedes Lebensfeuer, wie sie so auf der Straße liegt. Kein Blut weit und breit. Nur ihr Mund, der blüht, weil die Farbe nicht ihre Farbe ist im Sternlicht auf einem Gesicht ohne Namen. Man darf das Gesicht jetzt fotografieren von allen Seiten. Also fotografiert man das Gesicht von allen Seiten. Man darf jetzt schreiben, die junge Frau sei aus dem Süden gekommen, vom Kaukasus her. Also schreibt man, die junge Frau sei aus dem Süden gekommen, vom Kaukasus her. Eine weite Reise, ihre Reise nach Moskau. Dort liegt sie jetzt. Eine Bombe. Sie soll eine lebende Bombe gewesen sein. Welche Schule besuchte sie? Was hatte sie erlebt? Schwarzes Haar. — stop
sprechgeräusche
ginkgo : 2.15 – Etwas Seltsames ist geschehen. Bin gestern Abend im Garten eingeschlafen, obwohl ich in einem äußerst spannenden Buch geblättert hatte. Vielleicht war’s die schwere, warme Luft oder eine schlaflose Nacht der vergangenen Jahre, die rasch noch nachgeholt werden musste. So oder so schlief ich eine Stunde tief und fest im Gras und wäre vermutlich bis zum frühen Morgen hin in dieser Weise anwesend und abwesend zur gleichen Zeit auf dem Boden gelegen, wenn ich nicht sanft von einer nachtwandelnden Ameise geweckt worden wäre. Kaum hatte ich die Augen geöffnet, war ich schon mit einer Frage beschäftigt, die ich erst wenige Stunden zuvor entdeckt hatte, mit der Frage nämlich, wie Tiefseeelefanten hören, was sie miteinander sprechen, da doch die Sprechgeräusche ihrer Rüssel sehr weit von ihren Ohren entfernt jenseits der Wasseroberfläche zur Welt kommen und rasch in alle Himmelsrichtungen verschwinden. Eine diffizile Frage, eine Frage, auf die ich bisher vielleicht deshalb keine Antwort gefunden habe, weil ich eine Antwort nur im Schlaf finden kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Fangen wir an. – stop – Drei Uhr und zwölf Minuten in Isfahan, Iran. – stop
zeppeline
alpha : 8.06 — Seit Tagen denke ich darüber nach, weshalb mich die Ansicht japanischer Fesselbombenballone irritiert. Ich komm nicht dahinter. Vielleicht einmal eine Geschichte erzählen, die von oder mit Bombenballonen handelt, eine Art fabulierende Denkbewegung, die die Substanz dieser seltsamen Idee in meinem Leben wirklicher, greifbarer werden lässt. Nicht also erfinden, sondern etwas Gefundenes buchstabieren, um es genauer denken oder überhaupt als etwas Eigenes spüren zu können. Gestern Abend noch erzählte ich in einem Gespräch von Zeppelinkäfern, wie sie durch meine Wohnung schweben. Ich erzählte in einer Weise, dass ich eher sagen müsste, dass ich von der Erscheinung der Zeppelinkäfer in meinem Zimmer berichtete, weil sie, im Februar zunächst wortweise auf Notizpapier gesetzt, für mein Gehirn zur einer wirklichen Erscheinung geworden sind. — Eine beruhigende Beobachtung. — stop
ohrwesen
romeo : 0.08 – Kurz nach Mitternacht. Leichter Regen, aber nur als Vorstellung, als Übung, als Suche in den Magazinen meines Gehörs. Plötzlich erinnerte ich mich, einmal heimlich ein Ohr aus nächster Nähe beobachtet zu haben, ein Wunder der Schöpfung. Ich betrachtete dieses Ohr so liebevoll und so lange Zeit, dass ich bald etwas ganz anderes in ihm sehen wollte, als eine halbe Stunde noch zuvor, ein Wesen nämlich ganz für sich. Der Gedanke, ich könnte jederzeit ein schlafendes Ohr mit meinem Blick berühren, ohne dass es davon wach werden würde, fasziniert mich außerordentlich. Wenn ich aber sagen würde, leise, leise: Du bist wunderschön, dann würde das Ohr mich vielleicht ansehen, ein noch halbwegs träumendes Auge von einer Sekunde zur anderen Sekunde, und ein Mund, ein Mund, der lächelt. — Gute Nacht.
quito
foxtrott : 0.02 – Es ist früher Abend, ich liege in einer Wiese, ein Ohr gegen den Himmel, das andere Ohr gegen die Erde gerichtet, und höre Gräsern und sehr kleinen Tieren zu, wie sie sich auf die Nacht vorbereiten. Noch etwas Zeit ist, Minutenzeit, weil ich warte. Ein angenehmes Warten, ein Warten voller Freude. Nichts ist so lange zu tun, als der großen Welt am Himmel und der kleinen Welt unter mir zuzuhören. Man raschelt dort für mich und der Himmel schweigt, um nicht zu stören. Es ist seltsam, je glücklicher ich bin, desto beweglicher kann ich denken. So beweglich bin ich geworden, dass ich von Zeit zu Zeit überhaupt aufhöre, an irgendetwas zu denken. Und doch bin ich niemals abwesend, sondern hier und warte und höre den Gräsern zu und atme und halte etwas Papier fest in der Hand, von dem ich bald vorlesen werde. 1 x schlafe ich kurz ein. — stop
kapriole
sierra : 6.15 — Ich erwachte, weil ich Schritte hörte, tanzende Füße in Tanzschuhen auf Parkett. Unmöglich, dachte ich, so etwas geht doch nicht. Ich machte Licht und hüpfte aus dem Bett. Wie ich so im geräumigen Hotelzimmer stand, bemerkte ich, die Geräusche der Schuhe kamen nicht von oben, sondern von unten her, weshalb ich eine Treppe abwärts vor verdächtiger Türe energisch klopfte, weshalb mir geöffnet wurde, weshalb ich unverzüglich in ein höchst seltsames Zimmer trat. Tisch und Stühle und Bett und weitere kommode Dinge befanden sich dort an der Decke. Ein Mann, sehr fein gekleidet, ein Tänzer im dunklen Anzug grüßte kopfüber zu mir herunter. Er sagte, angenehme Stimme: Guten Morgen, mein Herr! Sie sind wohl einer, der an der Decke zu gehen vermag. — stop
aquarium
whiskey : 0.01 — Ein seltsames Geräusch, das mich weckte, als würden singende Grillen in meinem Zimmer sitzen. Ich stand dann auf und träumte in der Küche, während ich das Frühstück machte, noch etwas weiter, aber bald hörte ich es wieder, das Geräusch durch den Flur um die Ecke. Nein, Grillen waren das nicht, auch keine heiseren Vögel. Was ich hörte, war das glückliche Trompeten einer Herde Tiefseeelefanten, die im Aquarium zwischen Johnson und Melville im Kreis herumspazierte. Nicht größer als Murmeln und von tiefblauer Farbe, tasteten sie mit haarfeinen Rüsseln im Sand und an den Scheiben. Die ein oder andere Dschungelpflanze hatten sie, während ich schlief, aus dem Boden gerissen, überhaupt war die Landschaft, die ich seit Jahren kenne, in Aufruhr geraten, Muschelhäuser segelten durchs warme Wasser, auch Panzerwelse und ein paar Sumatrabarben, ohne Fassung, wie irr, mit dem Bauch nach oben. Ein faszinierender Anblick, ein Tollhaus. Wie ich mich liebevoll über das Aquarium beugte, hoben sie ihre Rüssel aus dem Wasser und ich spürte den Luftzug ihrer Instrumente auf der Stirn. Und jetzt ist Mitternacht geworden, das Ende eines wunderschönen Tages der Beobachtung, den ich auf meinem Gartenstuhl verbrachte. Ich habe weder gelesen noch sonst gearbeitet, nur geschaut habe ich und gestaunt. — stop