echo : 6.48 — Es war das erste Mal, dass ich ein Hutgeschäft betreten habe. Es roch sehr gut, es roch nach feinen Stoffen und nach Leder, es roch eigentlich eher nach einem Schuhgeschäft als nach einem Geschäft für Hüte. Der Mann hinter dem Tresen trug natürlich selbst einen Hut auf dem Kopf. Als ich mich näherte, war er gerade in ein Gespräch vertieft mit einem Herrn, der sich Hüte vorführen ließ. Er schien über sehr viel Geld zu verfügen, weil er jeden Hut, der ihm gefiel, unverzüglich kaufte. Ein Turm von Hutschachteln, so hoch wie der Mann selbst, hatte sich neben ihm gebildet. Der Turm wurde von einem Angestellten des Ladens festgehalten, damit er nicht stürzte. Ein weiterer junger Mann kletterte auf einer Leiter hinter dem Tresen vor einem Regal herum, das aus einem früheren Jahrhundert zu kommen schien, das heißt, das Regal war übrig geblieben, während andere Gegenstände derselben Zeit längst verschwunden waren. Einige Minuten nahm keiner der Menschen, die sich in dem Laden befanden, Notiz von mir, und so konnte ich diese kleine Geschichte beobachten, auch den Ausführungen lauschen, mit welchen der Mann, der Hüte kaufte, sein Verhalten begründete. Obwohl auf seinem Kopf noch sehr viel Haar zu entdecken war, schien der Mann sich bereits jetzt Gedanken darüber zu machen, wie lang er über sein Haar noch verfügen würde. Er schien damit zu rechnen, dass er bald kein einziges oder nur räudiges Haar auf dem Kopf tragen würde, darunter bloße Haut, nichts also als seinen Kopf, was für ihn inakzeptabel sein konnte. Er wollte nun vorsorglich Hüte wie Frisuren besitzen, wollte nichts anderes, als mächtig sein über seine Zukunft, vorbereitet, sagen wir. Selbst noch nachts, stellte er sich vor, sollte ein Hut seinen Kopf bedecken, weswegen er nach Nachthüten fragte, aber so etwas gibt es nicht, oder bisher nicht, Mützen ja, aber nicht Hüte, nicht Nachthüte, was seltsam ist, nicht wahr, dass es alles Mögliche gibt auf dieser Welt, aber keine Hüte, die reine Nachthüte sind. Seit ich das Hutgeschäft vor Stunden verlassen habe, denke ich darüber nach, was einen Nachthut genau genommen ausmachen würde, was ihn von anderen Hüten unterscheiden würde. Es müsste vermutlich sehr weich sein, das könnte sein. Sehr viel weiter bin ich in meinen Überlegungen bislang nicht gekommen. Es ist jetzt kurz nach drei Uhr. Schneewolken nähern sich von Nordosten her. – stop
Aus der Wörtersammlung: gedanken
nummer 6
tango : 3.56 — An einem Sommertag gehe ich mit Tom spazieren. Er ist ein ziemlich großer, junger Mann, schlaksig, der, während er von seinen Erlebnissen im Präpariersaal erzählt, immer wieder einmal einen Stein oder ein Stück Holz vom Boden hebt, um es in den Fluss zu werfen. Da ist nämlich ein Fluss, Tom wollte am Fluss spazieren, ich ahne weshalb. Er scheint, indem er Steine wirft, genauer denken zu können. Hin und wieder läuft er in den Wald, der unseren Weg begleitet und bleibt für einige Minuten verschwunden. Er spricht sehr schnell, ich kann kaum folgen, er will mir deshalb noch einige Gedanken notieren, damit ich sie ausdrucken kann. Wenige Tage nach unserem Spaziergang kommt tatsächlich eine E‑Mail, eine sehr präzise Form der Beobachtung. Tom: > Ich versuche jetzt näher heranzugehen. Noch haben wir den 1. Tag. Wir haben mit der Präparation des Körpers begonnen. Wir haben die Körper auf den Tischen inspiziert, wir haben ein Leichenprotokoll angefertigt, Hautschnitte gesetzt. Sie sehen, wie wir uns über unsere Arbeitstische beugen. Vier von uns befinden sich auf der einen, vier auf der anderen Seite des Tisches. Jedem von uns wurde eine Position am Präparat zugeordnet. Ich habe die Nummer 6. Also arbeite ich zu diesem Zeitpunkt in der Höhe der Brust. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich Katharina. Von den Leichen steigt ein Dunst auf, den man nicht sehen kann, aber zu spüren bekommt. Unsere Augen sind gerötet. Das ist eine Situation, an die wir uns zunächst noch zu gewöhnen haben. Skalpelle, Pinzetten, Hände sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Wir könnten uns verletzen, deshalb halten wir unsere Werkzeuge, als würden wir Bleistifte führen. Wir zeichnen auf sehr engen Bahnen. Wir beginnen in der regio praesternalis. Dort haben die Hautschnitte des Assistenten Zugang erzeugt, dort können wir die Haut mit unseren Pinzetten aufnehmen und etwas vom Körper heben. Eine erste unsichere Bewegung. Wir spannen die Haut. Wir schneiden von der subcutis in Richtung der gespannten Haut, arbeiten von innen nach außen, arbeiten von medial nach lateral. Haben wir gesprochen? Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich sehe, dass ich meine Hand bereits auf die Brust des Toten gestützt habe. Ich spüre die Erschütterungen, die durch die Bewegungen meiner Freunde in dem Körper hervorgerufen werden. Wenn ich mich aufrichte, um meinen Rücken zu entspannen, erkenne ich die Fortschritte meiner Arbeit. Ich habe ein Stück der Haut so weit vom Körper gelöst, dass ich es zurückklappen kann. Woran habe ich gedacht, in dieser ersten Stunde der Arbeit? Habe ich daran gedacht, dass ich begonnen habe, einen Leichnam zu zergliedern? Ich weiß es nicht! Aber ich kann Ihnen sagen, dass es nicht leicht ist, ein Skalpell zu führen, als würde man damit schreiben. Ich kann Ihnen versichern, man geht nicht in die Tiefe, wenn man Haut präpariert. Man packt einen Körper aus. Eine wahre Geduldsprobe. Zentimeter um Zentimeter arbeitet man sich über die Oberfläche des Körpers voran. Erstaunlich, wie nah wir dem Leichnam nach zwei Stunden bereits gekommen sind. — stop
PRÄPARIERSAAL : nachthörnchen
nordpol : 5.15 — Seit zwei Stunden sitzt ein Eichhörnchen auf meinem Fensterbrett. Es ist mitten in der Nacht und so kalt, dass ich den Atem des kleinen Tieres, das um diese Uhrzeit eigentlich tief schlafen sollte, in der Dunkelheit zu erkennen vermag. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht vielleicht täusche. Es ist denkbar, dass ich mir das Eichhörnchen nur vorstelle. Und wie ich über die Möglichkeit der Täuschung nachdenke, bemerke ich, dass die Vorstellung eines Eichhörnchens mittels weit geöffneter Augen tatsächlich gelingen kann, und zwar je für ein oder zwei Sekunden in einem Bild, das pulsiert, das in der dritten Sekunde schon wieder verloren ist und zunächst dann wieder erscheint, wenn ich das Wort Eichhörnchen denke oder Eichhörnchenschweif. Ich muss das weiter beobachten. Wenn ich nun die Notizen Michaels aus dem Präpariersaal, die vor mir auf dem Tisch liegen, betrachte, weiß ich, dass sie keine Täuschung sind, weil ich das Papier, auf dem sie sich befinden, berühren, vom Tisch heben, falten und wieder entfalten kann, und damit gleichwohl Michaels Zeichen, die keinerlei pulsierender Bewegung unterworfen sind. Er schreibt: Ich beobachte, dass ich meinen lebendigen Körper mit dem toten Gewebe vor mir auf dem Tisch vergleiche. Ich lege Nerven, Muskeln und Gefäße einer Hand frei, bestaune die Feinheit der Gestaltung, überlege, wie exakt das Zusammenspiel dieser anatomischen Strukturen doch funktionieren muss, damit ein Mensch Klavier spielen, greifen, einen anderen Menschen streicheln kann, wie umfassend die Innervation der Haut, um Wärme, Kälte, verschiedene Oberflächen erfühlen, ertasten zu können. Immer wieder pendelt mein Blick zwischen meiner lebendigen und der toten Hand hin und her. Ich bewege meine Finger, einmal schnell, dann wieder langsam, ich schreibe, ich notiere, was ich zu lernen habe, bis zur nächsten Prüfung am Tisch, und beobachte mich in diesen Momenten des Schreibens. Abends treffen wir uns in der Bibliothek hier gleich um die Ecke und lernen gemeinsam. Vor allem vor den Testaten werden die Nächte lang. Ich kann zum Glück gut schlafen. Unsere Assistentin ist eine junge Ärztin, die noch nicht vergessen hat, wie es für sie selbst gewesen war, im Saal. Sie ist immer sehr warm und freundlich zu uns. Aber natürlich achtet sie streng auf die Einhaltung der Regeln, kein Handy, kein Kaugummi im Mund, angemessene Kleidung. Manchmal versammelt sie uns und wir proben am Tisch stehend das nahende Testat, es gibt eigentlich kaum einen Tag, da wir nicht von ihr befragt werden, das erhöht natürlich unsere Aufmerksamkeit und Konzentration enorm. Einmal erzählte sie uns eine Geschichte, die mich sehr berührte. Sie sagte, ihre Mutter sei sehr stolz, dass sie eine Ärztin geworden ist. Sie habe ihr eingeschärft: Was Du gelernt hast, kann Dir niemand mehr nehmen. Aber natürlich, als wir die feinen Blutgefäße betrachteten, die unser Gehirn mit Sauerstoff versorgen, wurde mir bewusst, dass wir doch auch zerbrechlich sind, dass unser Leben sehr plötzlich zu Ende gehen kann. Gegenwärtig will ich daran aber nicht denken. Ich bin froh hier sein zu dürfen, ich habe lange darauf gewartet. Manchmal gehe ich durch den Saal spazieren. Wenn ich Lungenflügel betrachte, oder Herzen, oder Kehlköpfe, Lage und Verlauf einzelner Strukturen, dann erkenne ich, dass im Allgemeinen alles das, was in dem einen Körper anzutreffen ist, auch in dem anderen entdeckt werden wird, kein Körper jedoch ist genau wie der andere, damit werde ich in Zukunft zu jeder Zeit rechnen. — stop
emilia nabokov no2
delta : 6.36 — Ich hatte ein Gespräch mit einem Freund, der seit vielen Jahren in digitalen Räumen arbeitet, beinahe könnte ich sagen, ich hatte ein Gespräch mit einem Freund, der seit vielen Jahren in digitalen Räumen zu existieren scheint. Zahlreiche seiner Arbeiten verbinden sich mit Arbeiten anderer Menschen, weil man auf ihn verweist, weil man auf ihn wartet, auf Texte, auch auf Bilder, Filme, Geräusche, die er aufnimmt, sobald er etwas Interessantes zu hören meint. Mit jeder Minute der vergehenden Zeit wächst sein elektrischer Schatten. Er macht das ähnlich wie eine New Yorker Fotografin, die stundenlang durch die Stadt spaziert und mit einem iPhone all das fotografiert, was ihr ins Auge fällt. Manchmal sind es hunderte Fotografien an einem einzigen Tag, die nur Sekunden nach Aufnahme von ihrem Fotoapparat, mit dem sie gleichwohl telefonieren kann, an das Flickr – Medium gesendet werden. Mein Freund erzählte, dass er den Eindruck habe, die junge fotografierende Frau in Echtzeit zu beobachten, ihr im Grunde so nah gekommen zu sein, dass er kurz vor Weihnachten fürchtete, etwas Ernsthaftes könnte ihr widerfahren sein, weil drei Tage in Folge keine Fotografie gesendet wurde. Am vierten Tag erkundigte er sich mittels einer E‑Mail, die er an Flickr sendete, ob es der schweigsamen Fotografin gut gehe, er mache sich Gedanken oder Sorgen. Man muss das wissen, mein Freund hatte der Fotografin nie zuvor geschrieben, kannte nicht einmal ihren wirklichen Namen, sondern nur ein Pseudonym: Emilia Nabokov No2. Eine halbe Stunde, nachdem die E‑Mail gesendet worden war, erschien, als habe ihm die spazierende Künstlerin zur Beruhigung geantwortet, eine Fotografie ohne Titel. Diese Fotografie erzählte davon, dass sich Emilia Nabokov No2 vermutlich nicht in New York aufhielt, sondern in Montauk, weil auf der Fotografie ein Leuchtturm auf einem verschneiten Hügel zu sehen war, der eindeutig zur kleinen Stadt Montauk an der nordöstlichen Spitze Long Islands gehörte. Im Hintergrund das Meer, und vorne, ob nun mit Absicht oder nicht, ein Fuß in einem Gummistiefel von knallroter Farbe. — stop
amsterdam avenue
~ : malcolm
to : louis
subject : AMSTERDAM AVENUE
date : jan 18 13 0.12 a.m.
Gestern, in den frühen Morgenstunden, meldete Allison, sie habe Frankie verloren. Kein Signal, keine Bewegung. Sie war sehr aufgeregt gewesen, hatte sich auf ihr Fahrrad gesetzt und einige Runden durch den Park gedreht, ehe sie uns alarmierte. Es ist seltsam, wir haben nie daran gedacht, dass das Eichhörnchen Frankie den Central Park ohne unsere Erlaubnis je verlassen könnte. Zunächst glaubten wir, Frankie sei vielleicht von einem Waschbären oder einem streunenden Hund oder einem Luchs gefangen worden. Auch haben wir daran gedacht, dass auf ihn geschossen worden sein könnte. Aber das würde nicht erklären, weshalb Frankies Sender nicht länger funktionierten. Es war einzig denkbar, dass Frankie in das Reservoir gefallen sein könnte, vielleicht, obwohl ein hervorragender Schwimmer hatte ihn die Kälte des Wassers getötet. Aber dann meldete Henry, er habe wieder ein Signal, und zwar in der 59. Straße Ecke Amsterdam Avenue. Ich vermutete, dass irgendjemand Frankie gefangen haben könnte, was kaum vorstellbar war, so schnell sich das kleine Tier zu bewegen vermag, mit seinem Körper und auch mittels seiner Gedanken. Es ist jetzt früher Nachmittag. Ein eisiger Wind bläst von Westen her durch die Straßen. Und wenn ich nun erzähle, dass wir Frankie lebend in Freiheit entdeckten, werden Sie das vielleicht kaum glauben. Er sitzt in unserer unmittelbaren Nähe auf dem Dach eines Zeitungskiosks und nascht aus einer Tüte, ich meine, Frankie hat ein paar Nüsse erbeutet. Er wirkt gesund, der Lärm der Straße scheint ihn nicht weiter zu berühren. Ich glaube, er hat uns bemerkt, scheint vielleicht zufrieden zu sein, unsere vertrauten Erscheinungen zu sehen. Wir kommen sehr nah an ihn heran. Was sollen wir tun? Sollen wir den Versuch unternehmen, Frankie einzufangen, oder sollen wir abwarten, was geschehen wird? Allison spekuliert, Frankie könnte sich planvoll in Richtung des Hudson River Parks bewegen. Melden Sie sich bitte, melden Sie sich so bald wie möglich! — Allerbeste Grüße sendet ihn Malcolm / codewort : indianertrompete
empfangen am
18.01.2013
2035 zeichen
PRÄPARIERSAAL : feuerherz
nordpol : 7.07 — In der vergangenen Nacht habe ich in meinen Verzeichnissen nach einem E‑Mailbrief gesucht, den mir eine junge Frau, Lidwien, vor einigen Jahren notiert hatte. Ich konnte den Brief nicht finden, keine meiner Suchmaschinen, weil ich den Brief versehentlich ohne Namen abgelegt hatte. Ich erinnere mich noch gut an Lidwien. Sie war eine zierliche, freundliche und zielbewusste Person, die mit einem leicht französischen Akzent formulierte. Ich hatte sie einmal beobachtet, wie sie im Präpariersaal mit ihren Händen in einem Säckchen wühlte, um kurz darauf innezuhalten und die Augen zu schließen. In dem Säckchen, das von schwarzem, lichtundurchlässigem Stoff gewesen war, befanden sich Knochen einer Hand. Es war die Aufgabe Lidwiens gewesen, unter den Knochen einen bestimmten Knochen zu finden und durch reines Tasten eindeutig zu identifizieren. Ich beobachtete die junge Frau, wie sie während ihrer Suche in dem strahlend hellen Licht des Saales stehend die Augen schloss, als ob sie in dieser Weise mit ihren Fingerspitzen in der Dunkelheit des Säckchens besser sehen könnte. Ein Gespräch folgte über Bilder, die der Saal in Lidwiens Geist erzeugte. Kurz darauf erhielt ich einen Brief, in dem sie ihre Gedanken präzisierte. Genau diesen Brief suchte ich vergeblich, dann erinnerte ich mich an den Titel eines Films, von dem die junge Frau berichtet hatte, und schon war der Brief in meinen Archiven aufzuspüren gewesen. Lidwien notierte unter anderem Folgendes: Wissen Sie, auf die Frage, ob die Bilder aus dem Saal in meinen Alltag hinübergleiten, kann ich mit einem total aufrichtigen NEIN antworten. Ich habe überlegt, wie das überhaupt sein kann, da muss ein Filter sein und ich finde diesen Filter in meinem Gehirn wirklich faszinierend. Neulich habe ich ein Interview mit einer ehemaligen Kindersoldatin aus dem Sudan gesehen, die eine Biografie mit dem Titel FEUERHERZ geschrieben hatte. Dramatische Dinge muss sie erlebt und für uns nahezu unvorstellbare Bilder gesehen haben. Auf die Frage, wie sie mit diesen grausamen Bildern umging, antwortete sie: Ich habe diese Bilder nicht besonders verarbeitet, denn ES WAR UNSER ALLTAG UND WIR WAREN ES NICHT ANDERS GEWOHNT. Ich habe diese Aussage mit meinen Erfahrungen in Beziehung gesetzt. Von dem Moment an, da ich die Präparierhallen regelmäßig betrete und viele Stunden des Tages darin verbringe, werden all die toten Körper, all die Präparate, die man auf ungewohnte und seltsame Weise mit den eigenen Händen bewirkt, ja gerade zu erschafft, und der beißende Geruch des Formalins, zu meinem Alltag. In diesem Alltäglichen, in der Routine, verlieren menschliche Emotionen und die dazugehörigen Bilder an Gewicht und Polarität: Aus leidenschaftlicher Liebe wird Freundschaft und Zusammenhalt, und aus Angst und Furcht wird Fatalismus und Gelassenheit. – Und deshalb bleiben meine Bilder im Saal und ich lasse sie dort, wenn ich nach Hause zu meiner Familie gehe. — stop
teegedanken
~ : oe som
to : louis
subject : TEEGEDANKEN
date : dec 21 12 11.05 p.m.
Einige Tage und Nächte haben wir alle gemeinsam in der Werkstatt zugebracht. Noe konnte uns hören in der Tiefe, wir hatten unsere Mikrofone nicht ausgeschaltet, um ihn teilhaben zu lassen, an unserem Leben. Jetzt, lieber Louis, jetzt, da der Heilige Abend näher kommt, wird Noe melancholisch. Er fragte wieder nach seinen Eltern, ob seine Mutter und sein Vater noch lebten. Was sollen wir antworten? Was nur, verdammt, sollen wir antworten? Nichts als die Wahrheit? Wir wissen es nicht! Und so tun wir unser Bestes, Noe aufzuheitern. Benny Goodman spielt von der Konserve: Live at Carnegiehall. Noe liebt Benny Goodman seit Kindheitstagen. Weiterhin haben wir Noe in eine leichte, beruhigende Schwingung versetzt, er pendelt jetzt unter dem Schiff mit einer Amplitude von 20 Metern nach links und nach rechts. Indessen ahnt Noe nicht, was hier oben bei uns vor sich geht. Es ist nämlich so, dass wir unserem Taucher eine Überraschung bereiten werden. Eric, unser Maschinist, hatte die Idee, einen Weihnachtsbaum für Noe zu konstruieren, die Anmutung eines Weihnachtsbaumes genauer, der geeignet ist, in die Tiefe gelassen zu werden. Wir haben uns Mühe gegeben, der Baum ist hübsch geworden, drei Meter hoch, ein Gebilde aus Metall, das über einen Stamm und Äste verfügt. Da und dort haben wir Unterwasserfackeln befestigt, die wir von der Ferne zünden werden. Ein besonderer Abend, lieber Louis, steht bevor! Ob wir das Licht erkennen werden an der Oberfläche des Meeres? Was wird Noe sagen? Und wie werden die Fische, die großen und die kleinen Raubfische reagieren? — Es ist jetzt Freitag und spät. Ein Duft von Zimt, Gewürznelken und Kaffee strömt durch das Schiff. Am Montag werden wir uns ein paar junge Süßwasserwelse braten. Es geht alles also einen guten Weg. Vor Stunden noch zitierte Taucher Noe aus dem Gedächtnis einen weisen Satz, den der Philosoph Guido Ceronetti in seinen Teegedanken notierte. Noe sagte: Wenn ich wie ein Verlierer leben könnte, wäre ich es etwas weniger. — In diesem Sinne, lieber Louis: Ahoi! Dein OE SOM
gesendet am
22.12.2012
2065 zeichen
vor den kapverden
delta : 6.58 — Vor zwei Jahren einmal meldete sich mein Vater am Telefon, er wollte mir einige Gedanken übermitteln. Ich hatte ihn gefragt, ob es Tiefseeelefanten in physikalischer Hinsicht möglich sei, Atemluft über kilometerlange Rüssel in die Tiefe zu leiten. Mein Vater sendete mehrere Varianten einer Lösung dieses Problems, unter anderem dachte er darüber nach, dass die Luft gegen den steigenden Druck des Wassers vermutlich in einem Kammersystem in kleineren Portionen nach unten gedrückt werden könnte. Das leuchtete mir ein, ich war sehr zufrieden mit dieser Vorstellung eines Lufttransportwesens. In der vergangenen Nacht habe ich mich an die Vorstellungen meines Vaters erinnert, in einer Nacht, da ich Meldung erhielt, man habe vor den Kapverden Tiefseeelefanten gesichtet. Wieder ein Fischerboot, wie es sich in einer leichten Meeresströmung dreht. Schweigende Männer. Lampenlicht, das über das Wasser springt. Die Männer betrachten auch in diesen Minuten der Nacht schnaubende Rüsselspitzen einer riesigen Herde Tiefseeelefanten, die sich vielleicht soeben auf den Weg begeben, den Atlantik zu durchqueren, geräuschvoll atmende, sich liebkosende, samtig fleischige Knitterblüten. — Leichter, kühler Regen. – stop
atolle
delta : 6.58 — Gegen 2 Uhr heute Nacht folgende Beobachtung. Wenn ich um die Wortgruppe schweres Wasser ein Verzeichnis leichtsinniger Assoziationen lege, verschwindet der Begriff in der Gestalt eines Atolls. Ob nicht vielleicht Erinnerung in dieser Form organisiert sein könnte? Gedankenkreise um untergegangene, ursprüngliche Landschaften. — stop
georges perec
tango : 22.01 — Folgendes. Immer gegen 8 Uhr in der Früh brechen wir auf, Georges und ich. Wir gehen ein paar Schritte über die Rue de Javel, nehmen die 6er-Metro durch den Süden, steigen dann um in Richtung Porte Dauphin, fahren mal unter, mal über der Erde im Kreis herum, bis es Abend oder noch später geworden ist. So kann man gut sitzen, zufrieden, durchgeschüttelt, Seite an Seite für viele Stunden, und Menschen betrachten, wie sie hereinkommen, Fahrgäste, wie sie im Waggon Platz nehmen, wie sie beschaffen sind, davon legen wir Verzeichnisse an, Georges ein Verzeichnis, und ich ein Verzeichnis. Weil es aber sehr schwer ist, ein Verzeichnis aller Erscheinungen eines Raumes anzulegen, der nicht gerade erfunden wird, eines Raumes, der sich fortbewegt, der betreten und verlassen wird von Menschen im Minutentakt, das Verzeichnis eines Raumes, dessen Fenster sich von Sekunde zu Sekunde neu bespielen, weil es also unmöglich ist, das Verzeichnis eines wirklichen Raumes anzulegen, machen wir das so: in der ersten Stunde des Reisetages notieren wir ein Verzeichnis der zugestiegenen Krawatten, in der zweiten ein Verzeichnis der Schuhe und der Strümpfe, ein Verzeichnis, sagen wir, der Gehwerkzeuge und ihrer Bekleidung, dann ein Verzeichnis der Haartrachten, der Taschen, der Methoden sich im fahrenden Zug einen sicheren Stand zu verschaffen, der Gesprächsgegenstände, der Art und Weise sich zu küssen, zu streiten, oder aber ein Verzeichnis abseitiger Gestalten, ein Verzeichnis der Diebe, der Bettler, der Posaunisten, der Verwirrten ohne Ziel, je ein Verzeichnis der Sprachen und kleiner Geschichten, die wir aus der allgemeinen Bewegung zu isolieren vermögen. Von Zeit zu Zeit, während wir so fahren und notieren, höre ich neben mir ein Lachen. Wenn Georges lacht, hört sich das an, als habe er einen Vogel verschluckt, als lache er nur deshalb, weil er Mademoiselle Moreau wieder freilassen wolle. Dann weiß ich, Georges hat etwas gefunden, das er mir abends in irgendeinem Café, wenn wir fertig, wenn Papier und Strom zu Ende sind und unser beider Köpfe so voll, dass sich nichts mehr in ihnen aufbewahren lässt, vortragen wird, – „Auf Krawatte gelb, zehnzwei, lebende Ameise, argentinisch, kreuz und quer. Der Codename Servals war Louviers“, sagt Georges und hebt sein Glas. Fünf Gläser Pastis, fünf Gläser Wasser, – dann sind wir wieder leicht geworden, und weil die Luft warm ist, weil Mai ist, nehmen wir den letzten Überlandzug nach Norden oder den 11er nach Süden, dorthin, wo die Feuernelken blühn, und wenn es endlich Morgen geworden ist, steigen wir um, öffnen die Fenster und fahren nach Westen in unserer Windmaschine spazieren. Der Regen schlägt uns ins Gesicht und wir sehen Gewitter aufsteigen und Schwefel vom Himmel kommen und weißes Licht, das die Landschaft entzündet. So haben wir schon sehr schöne Gedanken über das Feuer gefangen und über das Schlagzeug in diesem gewaltigen Raum, der über uns hängt, einem Raum, dessen zentrales Verzeichnis von nicht menschlichen Maßen ist, sodass wir bald nur schweigen und auf entfernte Menschen schauen, auf Szenen im rasenden Vorüberkommen, auf Filme, die in unseren Hin und Her hastenden Augen derart kurze Filme sind, dass sie einer Fotografie sehr nahe kommen, nicht mehr Film sind und noch nicht ganz unbewegt. Es ist ganz so, als würden wir an einer gewaltigen Aufnahme der Zeit vorüber kommen, an einer Fotografie, deren Gegenwart wir nicht berühren, weil wir nicht aussteigen können, ohne das Leben zu verlieren, weil wir zu schnell, weil wir in einer anderen Zeit sind. — stop / koffertext