whiskey : 3.05 — Es war gestern Nacht um kurz nach drei Uhr, da ist etwas Schreckliches geschehen. Eine Kaffeetasse fiel mir aus der Hand in genau dem Moment, da ich Esmeralda auf dem Weg von der Küche in mein Arbeitszimmer passierte. Die kleine Schnecke war mir auf dem Fußboden entgegengekommen, vielleicht wollte sie nachsehen, wo ich geblieben war. Natürlich wurde sie von der Tasse getroffen, ich hörte ein helles Geräusch, die Tasse zerbrach, Kaffee spritzte gegen die Wände, und ich dachte, dass Esmeralda diesen Unfall nicht überlebt haben könnte. Ich rief: Esmeralda! Um Himmelswillen! Und ging in die Knie. Aber anstatt eines Kalksteinscherbenhaufens, fand ich eine äußerlich vollständig intakte Schnecke vor, die sich allerdings nicht bewegte, vermutlich deshalb, weil sie erschrocken gewesen war. Ich hob sie vorsichtig auf, setzte sie in der Küche auf einen Teller und wartete. Es dauerte ungefähr drei Stunden, bis Esmeralda wieder Zeichen von Leben zeigte. In dieser Zeit wich ich nicht von ihrer Seite, berührte sie immer wieder vorsichtig, um sie zu wecken, redete ihr gut zu, einmal entschuldigte ich mich für meine Unachtsamkeit. Esmeraldas Körper schien in meinen Augen heller geworden zu sein, er schimmerte, plötzlich streckte sie einen Fühler nach mir aus und so war ich unverzüglich wieder glücklich geworden. Seither sind beinahe 24 Stunden vergangen. Ich kann in diesem Augenblick noch nicht sagen, ob Esmeraldas Krise überstanden ist, denn sie verhält sich weiterhin merkwürdig, kriecht den Rand des Tellers entlang, ohne eine Pause einzulegen, immer im Kreis herum, immer im Kreis herum. Zeitweise folgte ich ihr mit einer Lupe, um ihr Gehäuse nach Bruchspuren zu untersuchen. Nicht der kleinste Riss war zu erkennen, nicht einmal ein Abrieb, ich konnte den Ort, da die Tasse auf ihrem Gehäuse zerschellte, nicht finden. Und so läuft Esmeralda immer weiter im Kreis herum. — stop
Aus der Wörtersammlung: gehäuse
luftmeduse
echo : 0.28 — Eine Pflanze ist denkbar, welche zeitlebens als fliegendes Wesen existiert. Sie wird in der Luft geboren und dort stirbt sie am Ende auch, ohne je den Erdboden berührt zu haben. Irgendwie scheint sie trotzdem den Laubmoosen verwandt, sie schätzt den Wind und den Regen, vor längerer Zeit einmal muss sie dann abgehoben sein, hält sie sich nun bevorzugt in einer Höhe von 1000 bis 2000 Metern frei schwebend auf. Es darf dort nicht zu kalt und nicht zu trocken sein, sie ist demzufolge ein Geschöpf eher feuchter, warmer, äquatorialer Gebiete. Man könnte sagen, dass sie mittels einer Lupe betrachtet Medusentieren ähnlich ist, Zwergmedusen, weil von kleiner Gestalt, ihre Blüten, dort wo der Wind sie bestäubt, sind transparente Gewebe, nicht größer als Marienkäfergehäuse, welche derart angeordnet sind, dass der Wind die fliegende Pflanze in eine vorbestimmte Himmelsrichtung treibt. Man ernährt sich vom Licht der Sonne, vom Wasser, das sich in der Luft, das heißt, in den Wolken befindet, und von mineralischen Stäuben, die die Welt umkreisen. Ihre Wurzeln sind feinen Fühlern ähnlich, allerdings abwärts gerichtet, dem Erdboden zu, sie sind in der Lage, mit klebrigem Film, der sie bedeckt, alles das festzuhalten oder einzufangen, was in der Größe zu ihnen passt. Manchmal, in den Zeiten größter Not, fressen sie einander auf, was im Prinzip eine leichte Sache ist, weil man nicht selten, zu Kolonien verwachsen, in nächster Nähe zueinander lebt, weshalb man voreinander nicht flüchten kann. Die schnellere unter zwei Nachbarpflanzen gewinnt, ist allerdings sehr häufig bereits selbst schon von anderer Seite her behutsam angetastet. Das sind Tragödien der Luft, die sich unaufhörlich und vollkommen geräuschlos vollziehen, ein Kommen und Gehen, wo sie sich über den Himmel bewegen, herrscht Dämmerung, sterben die Wälder des Bodens, Wiesen, Steppen, Gärten. Fliegende Pflanzen sind nicht ohne Grund strengstens verbotene Erfindungen. – stop
batavia
ginkgo : 22.16 — Ich bin nahe daran, mich an die Existenz der Schnecke Esmeralda zu gewöhnen, die am 20. Oktober in der Gestalt eines Geschenks zu mir gekommen war. Es ist so, dass ich nun behutsam durch meine Wohnung laufe, auch niemals im Dunkeln, Esmeralda könnte vielleicht gerade über den Boden wandern. Alle Türen stehen offen, manchmal muss ich längere Zeit nach der kleinen Schnecke suchen. Heute Morgen saß sie an der Decke meines Arbeitszimmers, das war zum ersten Mal, ich entdeckte sie nach einer Stunde, ich hatte sogar hinter den Kühlschrank geschaut, einen Tisch, drei Lampen, Stühle und zwei Kommoden verrückt. Eine Schnecke, mit einem Schneckenhaus auf dem Rücken, erscheint als äußerst zerbrechliches Wesen, gerade dann, wenn sie über einem Abgrund wandelt. Eine halbe Stunde begleitete ich Esmeralda auf ihrem Weg von Ost nach West. Ich hörte, wie ich mit ihr sprach. Esmeralda, sagte ich, Esmeralda! Hielt indessen einen Hut in der Hand, um Esmeralda im Notfall auffangen zu können. Gegen den Abend zu, sie hatte eine Weile in einem Meter Höhe an der Wand neben meinen Büchern ausgeruht, erreichte sie den Boden, kroch von West nach Ost quer durch mein Zimmer, um an der gegenüberliegenden Wand wieder zur Decke hin aufzusteigen. Ich lockte mit einem Stückchen Apfel, vergeblich. Ich zog Esmeralda an ihrem Häuschen von der Wand, setzte sie in der Küche neben einem Blatt Bataviasalates ab, auch das war nicht erfolgreich gewesen. Esmeralda wendete unverzüglich, kletterte vom Tisch, um am späten Abend genau jenen Ort wieder zu erreichen, den sie zuvor eingenommen hatte. Nach wie vor wundere ich mich darüber, dass Esmeralda ihr Gehäuse wie ein Schmuckstück auf dem Rücken zu tragen pflegt. Ich habe noch nie wahrgenommen, dass sie sich in ihr Häuschen zurückgezogen hätte. Ihr Körper ist feucht, ihre Stielaugen sinken manchmal zu Boden, das ist der Moment, da sie zu schlafen scheint. — stop
bumerang
echo : 2.25 — Wenige Minuten nach Mitternacht landete ein Marienkäfer auf meiner linken Wange. Ich kann nicht entscheiden, ob das ein Zufall gewesen war oder nicht. Indem ich das rechte Auge schloss, aber mit dem linken Auge so weit wie möglich nach unten sah, konnte ich die halbkugelförmige Wölbung seines Rückens erkennen. Und ich spürte eine leichte Bewegung, der Käfer schien mich zu betasten. Natürlich überlegte ich sofort, ob es sich bei diesem Käfer nicht um ein ferngesteuertes Wesen handeln könnte, das mich besuchte, um Proben von meiner Körperoberfläche aufzunehmen. Nach einigen Minuten veränderte der Käfer seine Position, er ging zu Fuß, kletterte an mir herab, saß für einige Minuten an meinem Hals, dort konnte ich ihn weder sehen noch spüren, um kurze Zeit später auf meinem Hemd zu erscheinen, wo er sich sehr wohlgefühlt haben mochte, weil er dort eine gute Stunde seiner Lebenszeit verbrachte. Vielleicht hatte der Käfer geschlafen, oder sich von Strapazen erholt, die mir unbekannt. In diesem Moment nun, da ich meinen Text notiere, sitzt der in Wörtern vermerkte Käfer am linken unteren Rand des Bildschirmes meiner Schreibmaschine. Er presst sich fest an das Gehäuse. Weitere Käfer sitzen an den Wänden, es sind ein gutes Dutzend, auch Käfer mit gelbem Gehäuse sind darunter. Gestern habe ich beobachtet, dass gelbe Käfer mit vierundzwanzig Punkten, wenn ich sie behutsam in eine meiner Hände setze und in die Dunkelheit werfe, sofort wieder zurückkommen. Man könnte sagen, dass es sich bei dieser Art um Bumerangkäfer handeln könnte. — stop
sophia
echo : 2.10 — Ludwig schickte mir einen Wecker, der es in sich hat. Als würden fünf oder sechs Bienen im Weckergehäuse ihre Runden drehen, solch ein Geräusch kommt aus dem Wecker. Eigentlich sieht der Wecker aus wie jeder andere Wecker seiner Art, etwas altmodisch in der Gestaltung. Er ruht auf drei Beinchen, und sein Zifferblatt ist rund und mit einer Zeichnung geschmückt, irgendwelche Blumen, Blüten, weiß, rot und blau. Oben auf dem Wecker sitzen zwei metallene Schirme fest, zwischen ihnen ruht ein Kegel, damit könnte der Wecker sich verständigen, wenn man ihn dazu auffordern sollte. Natürlich handelt es sich bei diesem Wecker, den Ludwig mir schickte, um einen besonderen Apparat, der nicht nur die Zeit messen, sondern angeblich auch Zeiträume auslöschen kann, in dem er jedes menschliche Wesen, das sich in seiner Nähe aufhält, in den Schlaf zu schicken vermag. Ja, tatsächlich, kein Irrtum. Man habe, hörte ich, Ludwigs Geliebte Sophia unlängst aufgefunden, wie sie vor einem Wecker saß, genau so einem Wecker, wie Ludwig ihn mir schickte. Lange Zeit war sie verschwunden gewesen. Als man ihre Wohnung gewaltsam öffnete, war nichts zu hören als ein Radio, das leise spielte. Sophia saß in der Küche vor dem Küchentisch, ihr Kopf war etwas geneigt von der Schwerkraft, ihre Hände lagen im Schoss, ein Glas, das Wasser darin weitgehend verdunstet, stand neben dem Wecker auf dem Tisch. Sie wirkte friedvoll, schien zu lächeln, vermutlich hatte sie bis zuletzt geschlafen. Schmal war sie geworden und blass, ihre Haut fühlte sich an, als wäre sie von Papier. Die Luft im Raum muss schwer gewesen sein, und süß und scharf in gleicher Weise. Alle, die sich dem Wecker auf dem Tisch näherten, schliefen auf der Stelle ein, sodass man sich nicht anders zu helfen wusste, als auf den Wecker zu schießen. — stop
eine libelle
himalaya : 6.51 — Im Columbus Park sitzen Männer im Kreis um einen Stein und spielen mit Karten, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Vom East River her, der nah ist, das Gespräch der Schiffe. In den blattlosen Bäumen kauern kalte Vögel, äußerst langsam öffnen und schließen sie ihre Augen, Häutchen, hell wie von Milch. Ich bin auf dem Weg, Mr. Fefei in seiner Werkstatt Pell Street 8 zu besuchen. Trage die Uhr meines Vaters in der rechten Hosentasche, halte sie fest, halte sie fest. In der Werkstatt ist es dunkel. Eine alte Frau, tief gebückt, führt mich durch den schmalen Raum. Vorsichtig, sehr vorsichtig, als würde sie nie wieder vom Boden kommen, wenn sie einmal stürzen sollte, geht sie durch die stickige Luft dahin. Ein Lungenhummer kreuzt scheppernd unseren Weg. Mr. Fefei sitzt hinter einer Werkbank im Rollstuhl, einem uralten Ding mit Rädern, die so groß sind wie der alte Mann selbst. Ich werde eine Viertelstunde in seiner Nähe verbringen, ich werde ihm erzählen von der Uhr meines Vaters, dass sie nicht stehen geblieben ist, seit er starb, dass ich mir wünschte, sie würde niemals stehen bleiben, die Zeit meines Vaters. Wie, Mr. Fefei, werde ich fragen, könnte es möglich sein, die Batterien der Uhr zu wechseln, ohne sie anhalten zu müssen? Ich werde sehen, wie die zierliche Hand des alten Mannes über den Tisch wandert, um nach der Uhr zu greifen, wie er die Uhr wiegen und wie er sie betrachten wird, von allen Seiten her, wie er ein Hörrohr an das Gehäuse legen, wie er nicken, wie er lachen wird. Seine Frau wird mir einen Tee servieren, einen grünen Tee, einen sehr grünen dampfenden Tee, den ich sicher nicht vertragen und doch trinken werde, während sich Mr. Fefei wieder mit seiner Libelle beschäftigt. Vorsichtig nähert er sich dem Gesicht des wilden Tieres, das zu einem zitternden Röhrchen gefesselt vor ihm liegt, mit einer Pinzette. Alles das wird gleich geschehen, in wenigen Minuten ist wieder Abend geworden. Alte Männer sitzen im Kreis um einen Stein und spielen Karten, die ich noch nie gesehen habe. Vom East River her, der nah ist, höre ich das Gespräch der Schiffe. In den blattlosen Bäumen kauern kalte Vögel, äußerst langsam öffnen und schließen sie ihre Augen, Häutchen, hell wie von Milch. — stop
eine funkuhr
sierra : 7.01 — Wenige Stunden nachdem mein Vater im April des vergangenen Jahres gestorben war, überreichte mir meine Mutter eine Uhr. Sie sagte, ich, der älteste Sohn der Familie, solle sie tragen. Vielleicht meinte sie, ich solle die Uhr meines Vaters bewahren und damit die Zeit meines Vaters behüten. Ja, genau so könnte das gewesen sein, denn die kleinen und die großen Uhren der Menschen, die gestorben sind, bleiben nicht sofort stehen, auch die Uhr meines Vaters, die ich in diesem Moment an meinem linken Unterarm trage, zeigt unermüdlich weiter die vorrückende Zeit. Sie knistert, wenn ich sie an mein Ohr lege. Das Geräusch ist so leise, dass ich nicht sagen kann, ob das Werk der Uhr knistert oder mein Ohr in der Begegnung mit dem kühlen Gehäuse. Viele Tage und Wochen lang habe ich die Uhr meines Vaters nicht getragen, sie ruhte auf meinem Schreibtisch. Manchmal, indem ich sie beobachtete, hatte ich den Eindruck, sie warte. Immer wieder einmal hob ich sie in die Luft, um die genaue, die wirkliche Zeit angezeigt zu bekommen. Bei der Uhr meines Vaters handelt es sich nämlich um eine Funkuhr, die zu jeder Zeit auf die Sekunde genau die allgemeingültige Zeit anzuzeigen vermag. Ihr Zifferblatt ist übersichtlich gestaltet, ein großer Kreis für Halbtageszeit und kleiner Kreis in der unteren Hälfte, in dem der Sekundenzeiger sich um Minutenzeit fortbewegt. Diese Uhr und ihre drei Zeiger ist nun meine Uhr. Am vergangenen Sonntag setzte ich mich mit ihr auf mein Sofa. Es war kurz vor zwei Uhr zur Nachtzeit. Um genau zwei Uhr beschleunigte der Minutenzeiger wie von Geisterhand, drehte sich schnell einmal im Kreis herum, dann war Sommer geworden, ein seltsamer Moment, weil ich für einen Augenblick den Eindruck hatte, mein Vater selbst bewegte den Zeiger der Uhr, die seine letzte gewesen ist, weil er auf mich und meine Zeit achtet. — Gestern habe ich mir einen Hut gekauft. — stop
robert walser
~ : oe som
to : louis
subject : KORALLEN
date : jul 31 12 4.37 p.m.
Seit 552 Tagen nun befindet sich Taucher Noe vor Neufundland in 820 Fuß Tiefe von einem eisernen Anzug umfangen. Es ist ein Wunder wie gut sich Noe hält. Jeden Morgen, wenn ich unseren Funkraum betrete, lausche ich in die Tiefe, freu mich, wenn ich Noe’s lesende Stimme oder seinen Atem höre. Während meines Besuches vor Kurzem im Mai, habe ich Korallengewächse von seinem Gehäuse entfernt, Schnecken und andere kleine Tiere, die sich dort festgesetzt hatten. Ich beobachtete Noe sehr genau, seinen Blick, seine Augen hinter der gepanzerten Scheibe. Wie er sich doch über meinen Besuch gefreut hatte, gemeinsam schaukelten wir durchs Meer vielleicht einhundert Meter eines Weges in ewiger Dämmerung auf und ab. Ich hielt mich fest an seinen Anzug gepresst. Kurz vor meiner Rückkehr an die Wasseroberfläche fragte ich Noe, ob er noch eine Weile aushalten würde, dieser Blick, lieber Louis, dieser Blick. Manchmal denke ich bei mir, wir sollten aufhören, wir sollten ihn zurückholen. Aber immer dann, wenn wir Noe in Bewegung setzen, wenn wir ihn anheben wollen, beginnt er zu protestieren, ein seltsames Geräusch, das ich so nie zuvor vernommen habe. Aus dem heutigen Tag ist ein äußerst angenehmer Sommertag geworden. Das Meer vollständig ohne Bewegung. Fliegenschwärme stehen dicht über dem Wasser. Wir haben keine Vorstellung, woher sie kommen und wohin sie wollen. Noe liest mir sanfter Stimme seit fünf Stunden aus einem weiteren Unterwasserbuch, Robert Walsers Geschichten, das wir vor einer Woche fertigstellen konnten: Es gibt Vormittage in Schusterwerkstätten, Vormittage in Straßen und Vormittage auf den Bergen, und letztere mögen so ziemlich das Schönste auf der Welt sein, aber ein Bankhausvormittag gibt entschieden noch mehr her. – Ahoi! Bis bald einmal wieder Dein OE SOM
gesendet am
31.07.2012
1877 zeichen
lichtluftnetz
india : 2.05 — Ich habe das Haus verlassen. Es ist Nacht. Der Wind raschelt in den Blättern der Kastanienbäume. Gerade eben ist die letzte Straßenbahn des Abends an mir vorübergefahren, ein leeres Gehäuse, nur der Fahrer war zu sehen gewesen. Ich sitze in einem Häuschen einer Haltestelle, weil ich nach einer Erscheinung suche. Ich halte meinen kleinen Computer in der einen Hand, mit der anderen navigiere ich den Mauszeiger über den Bildschirm, auf dem schon ein paar zarte, staubige Falter sitzen. Wenn ich die Anweisung gebe, Netzwerkverbindungen anzuzeigen, die sich in meiner Nähe befinden, ist da eine, die einen besonderen Namen trägt: Lichtluftnetz. Dieses Netzwerk existiert seit ungefähr drei oder vier Wochen. Es ist mittels eines Passwortes geschützt. Irgendjemand muss also das Wort Lichtluftnetz als Bezeichnung für ein neues Netzwerk eingegeben haben. Eine feine Erfindung. Wenn ich auf und ab gehe, kann ich sehen, dass sich die Signalstärke des Netzwerkes verringert oder vergrößert, ein nicht sehr starker Sender. Ich hatte für einen Moment die Idee, dass vielleicht über mir in den Bäumen eine Person mit einem Computer heimlich wohnen könnte. Ich habe, man wird mich vielleicht für verrückt erklären, gerufen: Hallo! Ist da jemand? Bisher war mein Rufen vergeblich gewesen. Und so sitze ich nun ganz still und versuche, mich mit jenem Netzwerk in Verbindung zu setzen. Ich habe den Verdacht, dass ich bereits beobachtet werde. Es ist eine wirklich schöne Nacht. So friedlich. — stop
fischvögel
~ : louis
to : Madame van Lishout
subject : FISCHVÖGEL
Sehr geehrte Madame van Lishout, verzeihen Sie bitte vielmals mein Schreiben auf elektrischem Wege. Ich bin nicht sicher, ob ich Ihre korrekte Adresse erinnere. Ein Brief auf Papier mit unterzeichneter Bestellung wurde an folgende Anschrift gesendet: M.v.L., Challions 7, 4968 Malmersby, Belgium. Es geht um ein dringendes Geschenk, das bis zum 10. August für einen Freund fertiggestellt sein muss. Sie erinnern sich vielleicht, es geht um jenen Freund, der seit einem Jahrzehnt im Wasser existiert. Da die Kreation unter der Wasseroberfläche lebender Singvögel nicht möglich ist, – ich habe Ihre Erläuterungen verstanden -, sehr wohl aber die Manufaktur eines Fischpärchens, das in Gestalt und Benehmen Singvögeln ähnlich sein könnte, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie für mich ein oder zwei Entwürfe zur Verwirklichung formulieren würden. Auch einen Käfig, der in Süßwasser längere Zeit überdauern könnte, habe ich vor, in Auftrag zu geben, schön wäre ein filigranes Gehäuse von dunklem Holz. In der Größe sollte das Pärchen vogelähnlicher Fische die Dimension der Zeisige nicht übertreffen, da die Wasserwohnung meines Freundes eher bescheiden ausgefallen ist. In der farblichen Ausführung wünsche ich weiche pastellfarbene Töne. Ein gewisses Leuchtvermögen von innen her wäre wundervoll. Könnte dies alles möglich sein, würden Sie mich sehr glücklich erleben. Der Gesang der kleinen Fische sollte fröhlich, nicht allzu laut, vor allem eben heiter sein. Ich erwarte Ihre Antwort dringend und verbleibe hochachtungsvoll mit freundlichen, dankbaren Grüßen. Ihr Mr. Louis
gesendet am
5.06.2012
2.58 MEZ
1551 zeichen