sierra : 23.55 — In U‑Bahnen reisend immer wieder der Eindruck, Menschen würden mittels ihrer raschelnden Zeitungen zueinander sprechen. Eine Weile ist Ruhe, aber dann blättert jemand eine Seite um, und schon knistert der Waggon von Reihe zu Reihe weiter. Man möchte in diesen Momenten meinen, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal habe ich mir Zeitungspapiere von stoffartiger Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, sodass keinerlei Geräusch von ihnen ausgehen würde, sobald man sie berührte. Eine eigentümliche Stille, Geräuschlosigkeit, Leere, ein Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung. — Kurz vor Mitternacht. Ich habe diese kleine Geschichte soeben Schnecke Esmeralda vorgelesen, um sie zu wecken. Sie war in der Abenddämmerung über meinen Küchentisch gekrochen, hatte sich auf eine Banane gesetzt und war dann vermutlich eingeschlafen, während ich eine Debatte des griechischen Parlaments via Livestream beobachtete. Dort auf dem Bildschirm aufgeregte Menschen, die in einer wohlklingenden Sprache formulierten, die ich nicht verstehe, aber sofort erkenne, sobald ich sie vernehme. Einmal meinte ich, den Namen Willy Brandts gehört zu haben. — stop. Wolkenloser Himmel. stop. Nichts weiter. — stop
Aus der Wörtersammlung: gerade
timi
nordpol : 5.32 — Seit fünf Tagen bereits versuche ich von einem Zimmer zu träumen, in dem es immerfort regnet. Ich mache das so, dass ich in den Minuten, da ich einzuschlafen wünsche, überlege, wie es wäre, wenn in dem Zimmer, in dem ich mich gerade befinde, Regen fallen würde. Diese Methode des Regendenkens ist leider bislang nicht sehr erfolgreich gewesen. Einmal schlief ich ein. Als ich erwachte, hörte ich wirklichen Regen draußen in den nächtlichen Bäumen. Ich ging dann spazieren, dachte finnisch klingende Namen aus: Satu N. Mäkela . Annukka R. Timi. Helena Paivi . Jonathan Paivi . Janne Ollila. Zwei dieser ausgedachten Namen zeitigen Spuren wirklicher Menschen in der Sphäre der Suchmaschinen, einer scheint männlicher Natur zu sein, obwohl ich ihn weiblich überlegte. — stop
von regenschirmen
romeo : 6.48 — In der Dämmerung die Vorstellung, ich würde unter Bäumen liegen, Vögel singen, was für ein wunderschöner Morgen, es ist warm, es ist kurz vor fünf. Ich höre wie sich ein großes Tier durchs Unterholz bemüht, das könnte ein Bär sein oder ein Hirsch oder ein Bison. Häuser existieren an diesem Morgen keine, weder Briefkästen noch Fahrräder, ich ruhe auf Blättern, die ich am Abend zuvor zu einem Haufen legte. Es ist vielleicht das Jahr 8022 vor Beginn unserer Zeitrechnung. Ich ahne noch nicht, dass ich bald eine Tasse Kaffee begehren werde. Ich bin glücklich, ich bin noch keinem Wolf begegnet. Aber ich habe, glaube ich, die Apparatur eines Regenschirms bereits erfunden, sie ist, wie mein Bett, von hölzernen Stäbchen und Blättern gefertigt. Vermutlich werde ich an einem weiteren Tag in demselben Leben erkennen, dass ich aus einem größeren Regenschirm ein Haus bauen könnte, heute aber, in der Morgendämmerung, gerade beginnen die Vögel zu singen, ich bin noch schläfrig, noch kein Erfindergeist. Es ist warm, es existieren weder Häuser noch Fahrräder, noch Briefkästen, noch Uhren. — stop
von der wirbelkastenschnecke
tango : 3.52 — Gestern war ein heißer Tag gewesen, es war heiß in der Küche, heiß in den Zimmern zum Schlafen, zum Spazieren, heiß im Bad, im Treppenhaus, sogar im Keller, auf der Straße und in der Trambahn war es so heiß, dass ich mich gern sofort in einen Kühlschrank gesetzt haben würde. Als ich das Wort Kühlschrank dachte, erinnerte ich mich an einen hölzernen Kühlschrank, den ich mir einmal ausgemalt hatte, da war ich gerade auf dem Postamt, auch da war es heiß, und die Männer und Frauen hinter dem Tresen schwitzten. Ausgerechnet an einem Tag heißer Luft erreichte mich ein Päckchen, auf das ich seit beinahe zwei Wochen in außerordentlicher Kälte wartete. Ich hatte bei Hvalfjördur Corporation eine Scheibe aus dem Brustbein eines Pottwales bestellt, aber die isländische Post war acht Tage lang in einen Streik getreten, und so war das gekommen, dass das Päckchen einen erbärmlichen Gestank verströmte, was mich nicht im Mindesten wunderte, da man vergessen hatte, das Brustbein des Wales, der bereits im Mai gefangen und zerlegt worden war, ganz und gar von Blut zu befreien. Nun aber ist alles wieder in Ordnung. Ich habe den Knochen, der erstaunlich leicht in der Hand liegt, gründlich gereinigt, nur noch ein leiser Verdacht von Verwesung liegt in der Luft, ist vermutlich nicht tatsächlich, ist vielmehr ein Faden von Erinnerung. Sobald der Knochen getrocknet sein wird, werde ich einen ersten Versuch unternehmen, eine Schnecke aus ihm zu schnitzen, die der Wirbelkastenschnecke einer Geige ähnlich sein wird. – Samstag, kurz vor Dämmerung. Es ist noch immer heiß. Vor den Fenstern jagen Fledermäuse. – stop
terminal 1
india : 7.02 — Eine kugelrunde Frau sitzt am Flughafen sehr aufrecht auf einer Bank. Sie hält in jeder Hand ein Telefon. Einmal betrachtet sie das eine Telefon, dann wieder das andere Telefon. Wie ich sie so beobachte, glaube ich zu bemerken, dass sie für beide Telefone zärtliche Gefühle zu hegen scheint, als seien sie kleine Tiere, die manchmal zu ihr sprechen. Ich spüre plötzlich selbst zärtliche Gefühle in mir wachsen für diese Frau oder dieses Bild der Frau mit ihren Telefonen. Unvermittelt schaut sie mich an, und ich senke meinen Blick, öffne schnell meine Schreibmaschine und beginne zu notieren, obwohl ich nichts im Kopf habe, das ich notieren könnte. Also schreibe ich zunächst, dass ich soeben notiere, obwohl ich nichts zu notieren habe, weil ich verlegen bin. Ich schreibe, eine kugelrunde Frau sitzt frühmorgens sehr aufrecht auf einer Bank. Bald wird Sommer werden. Am Flughafen existieren weder Vögel noch Mäuse. — stop
ein ball
whiskey : 0.12 — Einmal beobachtete ich in New York einen Mann, wie er das Verhalten eines Balles in einem Waggon der Subway studierte. Es war ein sonniger Tag im Januar, ich fuhr gerade mit der Linie N Richtung Coney Island, als der Mann, der mir im Zug unmittelbar gegenüber Platz genommen hatte, einen roten Ball, von weißen Punkten bedeckt wie ein Fliegenpilz, aus einer Tasche holte und auf den Boden legte. Sofort rollte der Ball gegen die Fahrtrichtung davon, verlor sich zunächst zwischen den gestiefelten Beinen einiger Reisender, war dann für einen Moment nicht zu sehen, sodass der Mann, der den Ball freigelassen hatte, sich nach vorn beugen musste, um ihn wieder in den Blick zu bekommen. Kurz darauf kehrte der Ball zurück, beschrieb einen weiten Bogen, stieß mehrfach gegen die Füße einer schlafenden Frau, die die Berührungen des Balles aber nicht zu bemerken schien und einfach weiterschlief. Indessen verzeichnete der Mann mittels eines Bleistiftes den Weg des Balles durch den Waggon in ein Notizbuch, scharfe Richtungswechsel, enge Kreise, oder auch ruhigere Bewegungen des Balles über den Gang des Waggons wurden in dieser Weise präzise dokumentiert. Einmal nahm ein Kind den Ball in seine Hände, da machte der Mann an dem Ort, da der Ball den Boden verließ, ein Kreuz auf sein Papier. Nach einer halben Stunde stieg der Mann aus dem Zug, und ich dachte noch, dass ich diesem Mann und seinem Ball vielleicht nie wieder begegnen würde. Ich notierte: Hier in New York begegnet man ständig Menschen, die man nie wieder sehen wird. Drei Tage später bemerkte ich einen roten Ball mit weißen Punkten auf einer Fähre nach Staten Island, er rollte langsam über das Hurricane-Deck. — stop
dos passos
india : 0.28 — Der Mann im Traum könnte John Dos Passos gewesen sein. Er trug einen Kittel wie ihn Ärzte tragen. Ich kam gerade sehr vorsichtig eine steile Treppe herunter, als ich ihn entdecke. Er stand breitbeinig unter einer Lampe, die sich langsam hin und her bewegte, weil wir uns auf einem Schiff befanden. Leichter Seegang. Um die Lampe herum schwebte ein Kind. Es musste gerade erst geboren worden sein, ein Stück der Nabelschnur baumelte noch von seinem Bauch, außerdem schien das Wesen feucht zu sein, es war so groß wie eine Mandarine, anstatt Armen und Händen verfügte es über Flügel, damit schwebte das Kind, und John Dos Passos schaute ihm zu. Er schien sich nicht zu wundern, ich hatte vielmehr den Eindruck, als würde er das Kindwesen prüfen. Eine Mutter war nicht zugegen. — stop
chicago
tango : 6.05 — Im Palmengarten abends bei leichtem Regen auf einer Bank. Neben mir saß ein Mann, der mich nicht sehen, aber hören konnte. Ich bemerkte nicht sofort, dass er blind war, weil ich unter einem Regenschirm saß, auch der Mann hatte einen Regenschirm über sich aufgespannt. Kaum hatte ich Platz genommen, notierte ich zunächst eine Liste von Büchern in mein Notebook, die sich mit der Arbeitswelt der Menschen beschäftigen. Sie schreiben schnell, sagte der Mann plötzlich, sie sind wohl geübt. Sie haben vielleicht etwas im Kopf, das sie loswerden wollen. Als ich mich dem Mann zuwendete, bemerkte ich, dass er den Regenschirm in eine langsame Drehung versetzt hatte, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Wenn das meine Schreibmaschine wäre, könnte ich Ihnen genau sagen, was sie gerade geschrieben haben. Ich kann hören, was meine Schreibmaschine schreibt. Der Mann machte eine kurze Pause. Was haben sie denn aufgeschrieben, wollte er dann wissen. Ich antworte: Einige Namen, Namen, die sie vielleicht schon einmal gelesen haben. Melville. Bukowski. Upton Sinclair. Max von der Grün. – Gelesen nicht, antwortete der Mann, aber gehört habe ich zwei der Namen. Upton Sinclairs Dschungelbuch existiert in englischer Sprache als Hörbuch für Blinde oder für Menschen, die nicht lesen wollen. Ich würde gerne lesen, aber das geht ja nicht so leicht, wenn man nichts sieht. Der Mann lachte. Ich höre dem Regen gerne zu, aus meiner Sicht der Dinge ist das so, als würde der Regen schreiben, hören Sie, wie es regnet, wie es schreibt. Ist das nicht wunderbar! – Ich fragte den Mann, ob er denn lesen oder hören könne, was der Regen genau notiert in diesem Augenblick. – Aber natürlich, antwortete der Mann, es ist mit jedem Regen etwas anderes, nicht wahr, der Regen, der auf das Meer fällt, erzählt etwas anderes, als dieser Regen hier, der über einem kleinen See niedergeht. Für einen Moment stand der Regenschirm neben mir ganz still. Ich hörte ein Flüstern: Dieser Regen hier erzählt von Chicago. — stop
lilly
delta : 0.05 — Ich wollte mit einem armen Menschen sprechen, wollte erfahren, wie es ist, mittellos geworden zu sein. Ich hatte Glück, eine Bekannte, die für die Bahnhofsmission arbeitet, erwähnte eine seltsame Frau, Lilly, die sich seit Monaten auf den Bahnsteigen 22, 23 oder 24 gewöhnlicherweise aufhalten würde, sie sei sehr lieb und sehr arm und würde gerne erzählen. Ich entdeckte Lilly auf einer Bank sitzend, Bahnsteig 18, sie war zunächst eher scheu gewesen, aber dann doch bereit sich mit mir zu unterhalten. Ja, Lilly. Sie spricht schnell, wenn sie spricht, und sie schämt sich ein bisschen, vielleicht deshalb, weil sie ahnt, dass sie nicht so gut riecht, wie sie gerne riechen möchte, und ihr Haar, das hell geworden ist an der ein oder anderen Stelle, scheint feucht und klebrig geworden zu sein vom Talg. Ich fasse zusammen, was Lilly etwas durcheinander herumerzählte. Wenn eine Frau arm geworden sei, wenn eine Frau auf der Straße leben müsse, erklärte Lilly, sollte sie zunächst versuchen, solange Zeit wie möglich ihren Status der Armut zu verbergen, sie sollte so wirken, als habe sie noch Geld zur Verfügung, als sei alles in Ordnung, dann würde man sie aus den Warteräumen eines Bahnhofes beispielsweise oder eines Flughafens nicht vertreiben. Sie trage aus genau diesem Grund noch immer einen Hosenanzug, manchmal, bei gnädigem Licht, wirke sie so, als würde sie zur Arbeit gehen oder soeben von der Arbeit kommen. Meine Schuhe sind geputzt, und wenn ich sie schonen werde, sollten sie doch noch lange Zeit als Schuhe einer erfolgreichen Frau erscheinen. Ich habe gelernt, im Sitzen zu schlafen, weiß jederzeit, wo ich mich waschen könnte, auch meine Bluse, meine Strümpfe, es ist sehr anstrengend, mich selbst und meine Kleidung in allgemein zugänglichen Toilettenräumen zu säubern, immerzu bin ich erschöpft, niemand kennt mich persönlich, weiß, woher ich komme, ahnt, wer ich einmal gewesen bin. Ich esse sparsam, ich esse, was ich finde, und trinke aus öffentlichen Brunnen. Ich darf nicht rauchen, ich darf keinen Alkohol trinken, das ist ja selbstverständlich in meiner Lage! Einmal im Jahr nehme ich einen Zug und fahre im Winter nach Süden, ein weiteres Mal fahre ich im Sommer nach Norden, aber das ist nur ausgedacht. Ich lese Zeitungen, die ich da und dort entdecke. Ich spreche mit den Tauben, leise, sehr leise, damit ich nicht verrückt werde. In meinem Koffer befindet sich eine zweite Bluse, und dies und das und ein Paar Turnschuhe, ein Halstuch in roter Farbe, ein Halstuch in gelber Farbe, ein Halstuch in blauer Farbe, das grüne Tuch trage ich gerade in diesem Moment, ich habe einen schönen Hals, nicht wahr! Ja, ich darf nicht rauchen und nicht trinken und nicht verrückt werden, das ist dringend, ich muss bei mir sein, ich fürchte Schlafhäuser, ich fürchte diese schrecklichen Schlafhäuser, ich bin mir nicht sicher, ob ich noch bin. — stop
ai : SUDAN
MENSCH IN GEFAHR: „Sandara Farouq Kadouda wurde am 12. April vermutlich von Angehörigen des sudanesischen Geheimdienstes entführt. Der Verbleib der Ärztin und zweifachen Mutter ist unbekannt. Sandara Farouq Kadouda war am 12. April zu einer Veranstaltung in Omdurman unterwegs, die von der politischen Opposition in den Räumlichkeiten der National Umma Party organisiert worden war. Kurz nach 17.00 Uhr wurde ihr Wagen von einigen Männern in Zivilkleidung angehalten, die allem Anschein nach Angehörige des Geheimdienstes (National Intelligence Security Service — NISS) waren. Die Männer nahmen ihr das Handy ab, als sie gerade mit einer Freundin telefonierte. Diese hörte laute Stimmen, als Sandara Farouq Kadouda jemanden nach seinem Ausweis fragte. Kurz darauf wurde das Handy abgestellt. Der Wagen von Sandara Farouq Kadouda wurde 30 Minuten später an der Straße gefunden, er war verlassen und die Schlüssel steckten noch. Die Familie von Sandara Farouq Kadouda zeigte den Vorfall bei der Polizei und dem NISS an. Bisher weigern sich die Behörden jedoch, Informationen über ihren Verbleib und ihren Gesundheitszustand preiszugeben. Sandara Farouq Kadouda hat keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand oder ihrer Familie. Sie leidet an chronischer Unterzuckerung und muss daher einen speziellen Ernährungsplan einhalten und täglich Medikamente einnehmen. Allerdings ist unklar, ob sie Zugang zu der benötigten medizinischen Versorgung hat. Sie ist zudem in Gefahr, gefoltert und anderweitig misshandelt zu werden.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 25. Mai hinaus, unter »> ai : urgent action