Aus der Wörtersammlung: gerade

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nachtmensch

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romeo : 0.08 – Man­che Men­schen, zum Bei­spiel, wenn ich ihnen nachts auf der Stra­ße begeg­ne, grü­ßen mich, als wür­den wir uns gera­de im Hoch­ge­bir­ge oder in einer ande­ren Wild­nis befin­den. Wir set­zen uns dann auf die nächs­te Bank, tau­schen ein wenig Pro­vi­ant und die letz­ten Nach­rich­ten aus, und füh­len ein­an­der ver­bun­den, sagen wir, durch den Man­gel an Licht. Ande­re Men­schen wie­der­um fürch­ten sich vor mir, wie jene uralte Dame mit ihrem noch älte­ren Hund, sie fletscht die Zäh­ne, sobald sie mich sieht gegen drei Uhr auf dem Ador­no­platz. Viel­leicht gehört sie bereits in den her­an­rü­cken­den Mor­gen, ist Tag­mensch, nicht Nacht­mensch, hält mich für licht­scheu­es Gesin­del. Obwohl ich ihr längst in mei­ner gan­zen Harm­lo­sig­keit bekannt sein müss­te, doch stets die­sel­be urmensch­lich dro­hen­de Hal­tung. Viel­leicht ist sie halb­wegs schon blind gewor­den. Oder aber ich wer­de ver­ges­sen, immer wie­der ver­ges­sen, ein­mal um die eige­ne Ach­se gedreht, und schon bin ich zu wei­te­rem tau­fri­schen Schre­cken geworden.
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bagdad

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nord­pol : 0.05 — In Bag­dad spricht ein Repor­ter vor einer Fern­seh­ka­me­ra. Men­schen, Pas­san­ten, schau­en ihm über die Schul­ter, sie machen Vic­to­ry­hand­zei­chen in Rich­tung der Kame­ra und lachen. Im Hin­ter­grund kreuzt ein Crui­se-Mis­sile eine Stra­ße. Der Flug­kör­per kommt von rechts und fliegt nach links, er fliegt genau in Ampel­hö­he und gera­de so schnell, dass er nicht zu Boden fällt. Er fliegt in einer Art und Wei­se, als wür­de er sich an Ver­kehrs­re­geln hal­ten. Kur­ze Zeit spä­ter eine Deto­na­ti­on, kaum hör­bar, aber sicht­bar, eine Erschüt­te­rung des Bodens, eine Erschüt­te­rung der Luft, eine Erschüt­te­rung, die auf den Kör­per des Kame­ra­man­nes ein­wirkt, die sich durch den Kör­per des Kame­ra­man­nes fort­setzt bis zur Kame­ra hin und die Sta­bi­li­tät des Bil­des beein­flusst. Auch Hori­zont und Him­mel sind erschüt­tert, wie die Men­schen und ihre Vic­to­ry­handzei­chen. stop. Wür­den SIE eine 500-Pfund-Bom­­be nach einem Men­schen wer­fen? — stop

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flaubert

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india

~ : louis
to : Mr. gust­ave flaubert
sub­ject : MEMPHIS

Ver­ehr­ter Mr. Flau­bert, ges­tern, am spä­ten Nach­mit­tag, knis­ter­te ein fei­ner Regen ans Dach­fens­ter mei­nes Zim­mers und ich habe mich auf den Rücken gelegt und ihr ägyp­ti­sches Rei­se­ta­ge­buch geöff­net, eine sehr fei­ne Arbeit, detail­liert, das Abschied­neh­men, ihre vor­aus rei­sen­den Kof­fer. Wäh­rend Sie gera­de an Bord der Can­ja Mem­phis pas­sier­ten, bin ich ein­ge­schla­fen, viel­leicht weil ich müde war von einer viel zu kur­zen Nacht. Als ich wie­der wach wur­de, knis­ter­te der Regen noch immer gegen das Fens­ter, und ich erin­ner­te mich, ihnen erzäh­len zu wol­len, dass ich seit vor­ges­tern, 15 Uhr mit­tel­eu­ro­päi­scher Som­mer­zeit, Augen­paa­re samm­le, die mei­ne elek­tri­sche Sei­te besu­chen. Ver­mut­lich wer­den Sie mich für einen selt­sa­men Vogel hal­ten, weil ich Augen paar­wei­se zäh­le, ihre Exis­tenz und woher sie kom­men und wel­che Bril­len sie tra­gen und die Zeit mes­se, die sie mit mei­nen Wör­tern ver­brach­ten. Ges­tern Abend um 22 Uhr 17 Minu­ten und 11 Sekun­den hat­te ich Besuch aus Shang­hai. In gro­ßer Ent­fer­nung lur­ten also ein paar Augen, ver­weil­ten, kaum zu glau­ben, sechs Sekun­den auf mei­nen Zei­len, dann waren sie wie­der weg. Ich habe mir gedacht, dass die­se has­ti­gen Augen viel­leicht mei­ne Schrift­zei­chen nicht ent­zif­fern konn­ten, dass sie des­halb nur zwei oder drei Atem­zü­ge lang bei mir ver­weil­ten. Ja, lie­ber Flau­bert, das könn­te sein, nein, ich hof­fe, dass es so gewe­sen ist. Spä­ter Abend schon wie­der. Wer­de jetzt wei­ter lesen in Ihrer ägyp­ti­schen Rei­se, wäh­rend die Augen­zähl­ma­schi­ne arbei­tet, ohne dass ich mich auch nur ein­mal für sie bewe­gen müss­te. Ihr Lou­is, mit aller­bes­ten Grüßen.

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doppelhelix

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echo : 0.01 — Eine Foto­gra­fie, die James Wat­son und Fran­cis Crick vor ihrem Modell einer DNA-Dop­pel­he­lix zeigt. Der Ein­druck, Wat­son wür­de einen an der Zim­mer­de­cke lun­gern­den Trom­pe­ten­kä­fer betrach­ten, des­sen Gat­tung zum Zeit­punkt der Auf­nah­me sich bereits abzu­zeich­nen beginnt.

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Viel­leicht soll­te ich sagen, dass Trom­pe­ten­kä­fer rein pneu­ma­ti­sche Arbei­ter sind, wäh­rend Posau­nen­kä­fer sowohl pneu­ma­ti­sche als auch mecha­ni­sche Ver­fah­ren der Ton­erzeu­gung in sich ver­ei­ni­gen. Drum­mer knal­len elek­trisch. Bas­sis­ten ver­fü­gen über einen Kör­per von unge­wöhn­li­cher Län­ge, über ein Gehäu­se, wel­ches von feins­ten Lamel­len­kno­chen aus­ge­bil­det sein wird. Gera­de die­se wohl­klin­gen­den Wesen wer­den eines Tages mit Zigar­ren leicht zu ver­wech­seln sein. Das Erstaun­li­che an musi­zie­ren­den Käfer­we­sen ist, dass sie den Musi­ker sowohl als auch ein Instru­ment, das von Men­schen erfun­den wur­de, mit sich füh­ren, dass sie also sym­bio­ti­sche Wesen sind. — stop
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nasa

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echo : 0.15 — Im bota­ni­schen Gar­ten spa­ziert. Das ange­nehm ras­seln­de Geräusch des Regens, die Luft hell vom Was­ser, das noch kalt und geruch­los ist. Stö­ber­te in Notiz­bü­chern. Ent­deck­te fol­gen­de Sequenz: Sonn­tag. Heu­te ist Schwes­ter Julia wie­der im Dienst. Sehe zu, wie sie Marik­ki vor­sich­tig wäscht. Behut­sa­me Bewe­gun­gen, ja, sehr fei­ne Berüh­run­gen, bei­na­he zärt­lich. Sie trägt einen Mund­schutz, der sich, wenn sie lacht, wie ein Segel bläht. Sie sagt, dass Marik­ki uns hören kön­ne, des­halb sum­me sie und des­halb hört Marik­ki gera­de etwas NASA, wäh­rend ich in ihrer Nähe sit­ze und notie­re und im Chee­ver lese, hei­te­re Gesprä­che der Apol­lo 14 Besat­zung auf dem Flug vom Mond zurück. Habe bemerkt, dass ich die Luft anhal­te, wenn ich sie betrach­te, dass ich jen­seits der ame­ri­ka­ni­schen Stim­men, die links und rechts ihres zier­li­chen Kop­fes wis­pernd durch die Häu­te der gepols­ter­ten Ohr­hö­rer drin­gen, nach wei­te­ren, beru­hi­gen­den Geräu­schen suche. 18. Juni 2006
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roman opalka

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tan­go : 2.15 – Eines Tages im Jah­re 1965, viel­leicht an einem Sams­tag, viel­leicht an einem Sonn­tag, ich konn­te schon lau­fen und hat­te gelernt, mir die Schu­he zu bin­den, nahm Roman Opal­ka den kleins­ten sei­ner ver­füg­ba­ren Pin­sel in die rech­te Hand und mal­te mit titan­wei­ßer Far­be das Zei­chen 1 auf eine schwarz grun­dier­te Lein­wand­flä­che. Bevor er die­se ers­te Zif­fer mal­te, foto­gra­fier­te er sich selbst. Er war gera­de 34 Jah­re alt gewor­den, und als er etwas spä­ter sei­ne Arbeit unter­brach, — er hat­te wei­te­re Zif­fern, näm­lich eine 2 und eine 3 und eine 4 auf die Lein­wand gesetzt -, foto­gra­fier­te er sich erneut. Er war nun immer noch 34 Jah­re alt, aber doch um Stun­den, um Zif­fern geal­tert. Auch am nächs­ten und am über­nächs­ten Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr, wur­de er älter, indem er Zif­fern mal­te, die an mathe­ma­ti­scher Grö­ße gewan­nen. Wenn eine Lein­wand, ein Detail ( 196 x 135 cm ), zu einem Ende gekom­men war in einer letz­ten Zei­le unten rechts, setz­te er fort auf einer wei­te­ren Lein­wand oben links, die indes­sen eine Licht­spur hel­ler gewor­den war, als die Grun­die­rung des Bil­des zuvor. Bald sprach er Zahl für Zahl laut­hals in die Luft, um mit sei­ner Stim­me auf einem Ton­band die Spur sei­ner Zei­chen zu doku­men­tie­ren. — In unse­rer Zeit, heu­te, ja, sagen wir HEUTE, oder nein, sagen, wir mor­gen, ja, sagen wir MORGEN, wird Roman Opal­ka mit wei­ßer Far­be auf wei­ßen Unter­grund malen, Zif­fern, die nur noch sicht­bar sind durch die Erhe­bung des Mate­ri­als auf der Ober­flä­che des Details. Der Betrach­ter, stel­le ich mir vor, muss das Bild von der Sei­te her betrach­ten, um die Zei­chen in ihren Schat­ten erken­nen zu kön­nen. — stopping

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hu jia

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6.08 — Ich besit­ze eine klei­ne Fern­seh­ma­schi­ne. Sie steht auf einem Brett, unter dem sich Rol­len befin­den, sodass sich das emp­fan­ge­ne Licht­bild im Raum her­um­fah­ren lässt. Ges­tern Abend, ich saß auf dem Sofa und schau­te in das Licht die­ser klei­nen Fern­seh­ma­schi­ne, kam eine jun­ge Frau ins Bild, das heißt, genau­er, die Kame­ra­ma­schi­nen, die das Licht für mei­ne Fern­seh­ma­schi­ne ein­zu­fan­gen, beauf­tragt waren, hat­ten sich weit weg in Chi­na auf die Gestalt die­ser jun­gen Frau aus­ge­rich­tet und für einen kur­zen Zeit­raum ihres Lebens hiel­ten sie an ihr fest, an ihrem jun­gen Gesicht, das vol­ler Trau­er gewe­sen war. — Was habe ich gese­hen, was habe ich gehört? — Da war eine jun­ge Frau, eine sehr blas­se jun­ge Frau, die in der chi­ne­si­schen Spra­che spre­chend davon erzähl­te, dass ihr Mann, Hu Jia, soeben von einem Volks­ge­richt zu 3 Jah­ren und 6 Mona­ten Haft ver­ur­teilt wor­den war, weil er sein Men­schen­recht auf freie Rede aus­übend gesagt und geschrie­ben hat­te, die Olym­pi­schen Spie­le des Jah­res 2008 sei­en für die Men­schen­rech­te in sei­nem Hei­mat­land eine Kata­stro­phe. Die jun­ge Frau hielt ein Kind in ihren Armen, einen Säug­ling. Wäh­rend sie sprach, beweg­ten sich ihre Hän­de in einer selt­sa­men Art und Wei­se vor Mund und Nase, Ges­ten von tie­fer Trau­rig­keit und Ver­zweif­lung, Ges­ten, die ihr Gesicht viel­leicht vor den Licht­ma­schi­nen schüt­zen soll­ten. Ich habe gese­hen, dass ihre Hän­de beb­ten. Dann war sie wie­der weg und auch ihr Kind.  – Fünf­zehn Uhr sie­ben in Lha­sa, Tibet. — stop

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körperzeit

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15.35 – Kör­per­zeit kennt nur eine Rich­tung. Die elek­tri­sche Wahr­neh­mung der Wirk­lich­keit, der gegen­wär­ti­gen wie der ver­gan­ge­nen Wirk­lich­keit, scheint dage­gen nie­mals line­ar zu sein. Viel­leicht des­halb, weil sich die Sub­stan­zen der Erin­ne­rung wie Flüs­sig­kei­ten ver­hal­ten. Eine Ord­nung hin­ein­zu­den­ken for­dert Arbeit, ein Vor­her und Nach­her zu iden­ti­fi­zie­ren, Kon­se­quenz. Nie kann ich sicher sein, ob ich mei­ne ver­gan­ge­ne Zeit gera­de wie­der­fin­de oder ob ich eine ganz ande­re, nie dage­we­se­ne Zeit erfin­de. — Habe einen Kata­log jener Erschei­nun­gen erstellt, die ich in der Goog­le Earth Pixel­welt auf­su­chen wer­de, bei­spiels­wei­se Kamel­ko­lon­nen auf einer Wüs­ten­ober­flä­che oder die Spu­ren des Krie­ges in der Stadt Gros­ny, Ground Zero, Gold­grä­ber­sied­lun­gen am Ama­zo­nas, mei­ne alten Spa­zier­we­ge in Paris, Eis­ver­käu­fer im Cen­tral Park, die klei­ne Stadt Petusch­ki und ihre Eisen­bahn, Ele­phan­tis­land, Men­schen­ka­ra­wa­nen auf dem Cho­mo­lung­ma, Sove­to, Lam­pe­du­sa, Alca­traz. — Null Uhr sieb­zehn in Lha­sa, Tibet. — stop

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louis armstrong

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5.15 — Ges­tern, in den frü­hen Abend­stun­den, eine zau­ber­haf­te Text­pas­sa­ge erin­nert, die ich vor lan­ger Zeit ein­mal gele­sen habe. Sie erzähl­te etwas von der Lie­be zu Honig­bro­ten und von der Ruhe eines Mor­gens vor einem lee­ren Schreib­tisch und von Lou­is Arm­strongs knur­ren­der und schnar­ren­der Stim­me, und weil ich gera­de in einem Super­markt unter­wegs gewe­sen war, habe ich mir ein Glas Honig gekauft. Ich woll­te der Kas­sie­re­rin erzäh­len, wes­halb ich mir Honig kau­fe und dass die­ses Glas das ers­te Glas Honig sei, das ich seit Jah­ren mit mir nach Hau­se neh­men wür­de, und dass man, wenn es reg­net, zu Hau­se her­um­sit­zen kön­ne und Geor­ge Gershwins Sum­mer­ti­me hören in 20 Varia­tio­nen. Dann wahr­ge­nom­men, wie müde, wie erschöpft die Frau gewe­sen ist. Anstatt zu spre­chen, etwas Scho­ko­la­de ange­bo­ten. Ihr selt­sa­mer Blick ins rote Licht des Scan­ners. — Wenn man jah­re­lang Bom­ben unter Men­schen wirft, genügt die Behaup­tung einer Bom­be, um eine Men­schen­men­ge in eine töd­lich wir­ken­de Panik zu ver­set­zen. — stop

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trompetenkäfer

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~ : louis
to : Mr. eliot
sub­ject : TROMPETENKÄFER

Lie­ber Eli­ot, bei uns ist jetzt schon Diens­tag. Ges­tern, also am Mon­tag noch, war ich spa­zie­ren im schöns­ten Gar­ten der Stadt. Stür­mi­sche Luft, alles ging ver­kehrt her­um, es reg­ne­te aus dem Boden, die Son­ne war auch irgend­wo da unten und ich konn­te nicht notie­ren, weil mir mein Notiz­buch davon geflo­gen war. Ich habe Dir des­halb nicht viel zu berich­ten, weil ich ohne mein Notiz­buch nicht anfan­ge zu den­ken. An den letz­ten Gedan­ken, den ich in mein Notiz­buch notier­te, ehe es an den Wind ver­lo­ren ging, kann ich mich gera­de noch erin­nern. Das also sollst Du wis­sen, ich habe ent­deckt, dass ich, sobald ich einen Trom­pe­ten­kä­fer zu ent­wer­fen wün­sche, über die Lun­ge die­ses Wesens, genau­er über sei­ne Luft­pum­pe und ihre Posi­ti­on in den Zusam­men­hän­gen eines Käfer­kör­pers nach­zu­den­ken habe, ande­rer­seits, aus vor­wie­gend phy­si­ka­li­schen Grün­den, über die Füße des Käfers, die der­art zu kon­zi­pie­ren sind, dass der Käfer, sobald er einen Trom­pe­ten­ton zu erzeu­gen wünscht, in der Lage sein wird, sich zunächst fest auf dem Boden, einem Blü­ten­blatt oder einem mensch­li­chen Fin­ger zu ver­an­kern, um dem Rück­stoß, den wir sehr sicher erwar­ten dür­fen, Wider­stand ent­ge­gen­set­zen zu kön­nen. Zu wei­te­ren Gedan­ken, lie­ber Eli­ot, war ich ges­tern nicht in der Lage. Bald wird der Sturm auch zu Euch her­über­ge­kom­men sein. Die­se E‑Mail ist schnel­ler als der Wind. Dein Louis

gesen­det am
11.03.2008
22.56 MEZ
1068 Zeichen

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