nordpol : 0.25 — Als der Beamte, der für das Friedhofswesen zuständig ist, winkend eine Wiese überquerte, stand ich mit einem Gärtner unter einer blattlosen Ulme. Der Mann rauchte einen Zigarillo. Später Nachmittag. Flügeltiere, goldfarbene Gespenster, flatterten in der Luft herum. Ich hatte gerade die Frage gestellt, ob der Baum, unter dem wir warteten, noch am Leben sei, als uns der Beamte erreichte. Er war etwas außer Atem und lachte, weil ich ein altes Eisenkreuz in meinen Händen drehte. Er sagte sofort, dass dieses Kreuz an Ort und Stelle denkbar sei. Das können sie hier aufstellen! Also waren wir sehr zufrieden alle, wir hatten in gemeinsamer Gegenwart kaum dreifach geatmet und schon konnten wir wieder auseinandergehen, wenn da nicht jener Baum gewesen wäre ohne Blätter, weswegen wir über das Wetter zu sprechen begannen, über Wintertage, die keine mehr sind. Und über Sommerzeiten, die den Herbstzeiten von Jahr zu Jahr ähnlicher zu werden scheinen. Ein Eichhörnchen tollte über ein Grab in unserer Nähe, grub sich in die Erde, Steine flogen durch die Luft. Vielleicht weil sich das kleine Tier sichtbar in die Tiefe voran arbeitete, hatte ich die Idee, meine Vorstellung unterirdischer Musik vorzutragen, die ich vor Monaten bereits einmal notierte. Und so erzählte ich, wie ich geschrieben hatte, dass nämlich auf meiner letzten Ruhestätte einmal ein Windrad stehen könnte. Das Rad würde, in dem es sich drehte, Strom erzeugen. Mittels eines Kabels würde dieser Strom zu einer Batterie unter die Erde geführt. Sobald nun durch kräftige Winde ausreichende Mengen von Strom gesammelt sein werden, würde sich ein Musikabspielgerät in Bewegung setzen, um etwas Charlie Parker oder Benny Goodman zu spielen. Eine reizende Vorstellung, sagte ich, eine Überlegung, die mich seit dem vergangenen April täglich begleitet. Und wie nun der Friedhofsgärtner anfing zu lachen, ein Lachen, das wärmte, und wie aus dem Beamten der kleinen Stadt, ein Beamter für unterirdische Musik zu werden begann. — stop
Aus der Wörtersammlung: geste
kamele
alpha : 8.02 — Wartete in der Metrostation Charles Michels auf einer hölzernen Bank, hatte meine Füße in warmen Sand gesteckt. Dünen, kniehoch, eilten von Süden nach Norden durch die Untergrundstation, ohne dass eine Windbewegung zu spüren gewesen wäre. Da waren Kamele in der Größe menschlicher Hände. Sie bewegten sich mit den Dünen und sie waren blau, von einem vornehmen Blau, ultramarin oder etwas dunkler. Bald ließen sie sich vor mir nieder und ruhten, wie Kamele ruhen, den Kopf hocherhoben, kauend, mal das eine Auge geschlossen, dann das andere. Wie ich sie so träumend betrachtete, erinnerte ich mich, dass ich diesen Traum schon einmal träumte. Ich ahnte, dass bald ein Zug aus dem Tunnel kommen würde, ein Zug gefüllt mit Sand, und dass ich mich erheben und in den Zug steigen und erwachen würde. Genau so ist es gekommen. Und jetzt sitze ich hier am Schreibtisch und notiere diesen Traum, obwohl ich doch von der Entdeckung der Eisbücher berichten wollte. – Guten Morgen!
fischvögel
~ : louis
to : Madame van Lishout
subject : FISCHVÖGEL
Sehr geehrte Madame van Lishout, verzeihen Sie bitte vielmals mein Schreiben auf elektrischem Wege. Ich bin nicht sicher, ob ich Ihre korrekte Adresse erinnere. Ein Brief auf Papier mit unterzeichneter Bestellung wurde an folgende Anschrift gesendet: M.v.L., Challions 7, 4968 Malmersby, Belgium. Es geht um ein dringendes Geschenk, das bis zum 10. August für einen Freund fertiggestellt sein muss. Sie erinnern sich vielleicht, es geht um jenen Freund, der seit einem Jahrzehnt im Wasser existiert. Da die Kreation unter der Wasseroberfläche lebender Singvögel nicht möglich ist, – ich habe Ihre Erläuterungen verstanden -, sehr wohl aber die Manufaktur eines Fischpärchens, das in Gestalt und Benehmen Singvögeln ähnlich sein könnte, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie für mich ein oder zwei Entwürfe zur Verwirklichung formulieren würden. Auch einen Käfig, der in Süßwasser längere Zeit überdauern könnte, habe ich vor, in Auftrag zu geben, schön wäre ein filigranes Gehäuse von dunklem Holz. In der Größe sollte das Pärchen vogelähnlicher Fische die Dimension der Zeisige nicht übertreffen, da die Wasserwohnung meines Freundes eher bescheiden ausgefallen ist. In der farblichen Ausführung wünsche ich weiche pastellfarbene Töne. Ein gewisses Leuchtvermögen von innen her wäre wundervoll. Könnte dies alles möglich sein, würden Sie mich sehr glücklich erleben. Der Gesang der kleinen Fische sollte fröhlich, nicht allzu laut, vor allem eben heiter sein. Ich erwarte Ihre Antwort dringend und verbleibe hochachtungsvoll mit freundlichen, dankbaren Grüßen. Ihr Mr. Louis
gesendet am
5.06.2012
2.58 MEZ
1551 zeichen
pseudonym no 5
ulysses : 6.05 — Gestern war das Wetter schön, ich suchte spazierend im Park nach einem Namen für mein Pseudonym No 5. Sobald ich glaubte, einen geeigneten Namen gefunden zu haben, sagte ich ihn laut vor mich hin, ich sagte zum Beispiel: Felix Mayer Kekkola. Als Nachmittag geworden war, gefiel mir dieser Name noch immer, ich hatte Lilli M. Murphy bereits verworfen, auch Kaspar Joe Weidemann und weitere Namen waren gründlich vergessen. Ich notierte den gewählten Namen Felix Mayer Kekkola in mein Notizbuch und ging nach Hause. Es ist seltsam, ich war mit meinem neuen Namen an der Seite stark unruhig bis in den Abend hinein. Ich konnte mir diese Unruhe zunächst nicht erklären, dann hatte ich die Idee, dass ich nachsehen sollte, ob der Name Felix Mayer Kekkola vielleicht im Internet schon längere Zeit existiert, ein Mensch also, der genau so heißt, oder ein Mensch, der diesen Namen verwendet, um sich zu verbergen und zu veröffentlichen in ein und demselben Moment. Mehrfach prüfte ich mit Suchmaschinen die Existenz einer Spur. Kein Ergebnis für „Felix Mayer Kekkola“ war zu finden. Ich könnte nun also erstens annehmen, dass ein Mensch, der diesen Namen trägt, nicht existiert, was sicher nur sehr vorsichtig formuliert werden darf. Zweitens könnte ich jenen feinen Namen nun für mich besetzen, okkupieren sozusagen nach bestem Wissen und Gewissen, was in dieser Sekunde genau so geschieht, indem ich meinen Text in die digitale Sphäre sende. — stop
wolfgang herrndorf : arbeit und struktur
himalaya : 6.52 — Ich weiß nicht wie viel ich zitieren darf. Aber ich will das zitieren, aufbewahren, festhalten, verweisen. Wolfgang Herrndorf zählt in seinem Blog Arbeit und Struktur Monate. Im April notiert er von Essaouira aus: 26.4. 11:46 Drei oder vier asynchrone Muezzins. Auf der Hoteldachterrasse in praller Sonne sitzend und arbeitend, überrascht mich die Meldung vom Tod einer Brieffreundin aus Freiburg. Ihre Erstdiagnose war im Dezember 2010, nach jeder von drei Operationen wuchs das Glioblastom sofort weiter. Im Gegensatz zu mir machte sie sich große Hoffnungen, klammerte sich an neue Mittel und suchte in Studien reinzukommen. Vor zwei Monaten mailte sie: Tamoxifen scheint zu wirken, neuer Herd löst sich auf, alte, bestrahlte Stelle unverändert. Vor fünf Tagen starb sie. / Eine Freundin von ihr schreibt, sie sei zuletzt rund um die Uhr betreut worden, selbst zum Tippen zu schwach. Der Versuch, sie mit den Mitteln der Palliativmedizin in einen stabilen Zustand zu bringen, hatte wenig Erfolg. Auch im Hospiz kam sie nicht zur Ruhe und schrie die Nacht durch vor Angst. Die offensichtliche Kraft, die zum Schreien vorhanden war, habe, so die Freundin weiter, im krassen Gegensatz zum geschwächten Gesamtzustand gestanden. Die Ärzte konnten sie nur beruhigen, indem sie sie komplett sedierten. Sie hat die durchschnittliche Lebenserwartung von siebzehn Monaten knapp verfehlt, in der ungünstigen MGMT–Gruppe gehörte sie noch zu den glücklicheren 15 Prozent. / Unten in der Hotellobby finde ich Per und Lars, an denen ich mich festhalten kann zum Glück. / 26.4. 18:46 Hinter den anderen her durch die Medina auf der Suche nach dem nördlichen Strand und der Fabrik, in der Per seine Schatullen herstellen läßt. Das Gewimmel der vor sich hin krepelnden Menschen, die aus Müll und Abwasser gemachten Straßen, der Gestank, das Geschrei, der Schmutz alles Lebendigen lassen mich umkehren. Sofort verlaufe ich mich. Zweimal renne ich die verstopfte Hauptstraße hoch und runter, bis ich endlich die mit einem Stadttor markierte Abzweigung zum Hotel gefunden habe. / Dann Badehose, dann Spaziergang zum leer und befreiend vorgestellten, aber vermüllten und von Quads zerfetzen südlichen Strand, der vor zwei Jahren noch schön gewesen war. Ich gehe so weit ich kann und über den Fluß und zurück, um wenigstens erschöpft zu sein für den Abend. Ich versuche, mir eine Vorstellung davon zu machen, was es bedeutet, eine Nacht durchzuschreien vor Angst. Ich könnte nicht einmal sagen, ob es Empathie ist oder Selbstmitleid. Ich denke nicht nach. / Auf dem Weg zum Italiener verliere ich erneut die Orientierung und bin froh, als ich endlich im Bett liege und der Muezzin zum hundertsten Gebet des Tages ruft. Ein großer, mächtiger, tödlicher Gott, der so anhaltend bebetet werden muß. [tbc] > Impressum
posaune
india : 0.28 — Ich habe vor wenigen Minuten mittels eines Filmdokuments den Posaunisten Fred Wesley solange beobachtet, bis ich der festen Überzeugung sein konnte, die Posaune habe auf Fred Wesleys Schulter wie ein Tier Platz genommen, sie habe den korpulenten, alten Herrn sozusagen okkupiert, um auf ihm Musik zu machen. Funky! Funky! Mit Fred Wesley ist das so: Er bewegt sich geschmeidig und elegant, er scheint zu tanzen, selbst dann noch, wenn er reglos, wie scheinbar angehalten, vor einem Mikrofon verharrt. Seit Monaten habe ich den Verdacht, dass der alte Posaunist außergewöhnlich lange Zeit die Luft anzuhalten vermag. Ich werde deshalb sofort, in dieser Nacht noch, eine E‑Mail verfassen und mich erkundigen, ob ich mit meiner Vermutung recht haben könnte. Sehr geehrter Mr. Wesley, so vielleicht sollte ich beginnen, es ist Mitternacht in Europa. Ich heiße Louis, und ich wüsste gerne, wo Sie sich gerade befinden, weil ich ein Gespräch mit Ihnen zu führen wünsche über das Anhalten der Luft und diese Dinge, die einem Posaunisten, wie sie einer sind, vielleicht außerordentlich gut gelingen. Gestern auf dem Weg von einem Zimmer in ein anderes Zimmer, wäre ich um Haaresbreite umgefallen, weil mir schwindelig wurde, weil ich kurz zuvor eine Minute und eine halbe Minute nicht geatmet hatte. Ich frage mich, ob ich vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte. Wie trainiere ich am besten und was sind sinnvolle Ziele, die ein Mensch in diesem Sport erreichen kann, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen? Soll ich mir eine Posaune kaufen? Wie auch immer, verehrter Mr. Wesley, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir recht bald antworten würden, damit ich in meinen Übungen fortfahren kann. Ihr Louis — stop
rund um das müllnerhorn
sierra : 0.02 — Den halben Abend mit der Überlegung zugebracht, was ein moderner Kentaur, ein Kentaur unserer Tage, der in der Gegend um das Müllnerhorn in einem Laubwald unter Buchen, Eichen und Lindenbäumen leben könnte, zum Frühstück gerne zu sich nehmen würde. Wie im Flug ist die Zeit vergangen, ein Zustand leichter Selbstvergessenheit. Ich habe mir zunächst Dunkelheit vorgestellt, Dämmerung, dann, in diesem glimmenden Licht des nahenden Tages, die Umrisse eines Kentaur von zierlicher Gestalt, wie er noch schlafend seitlich auf etwas Moos gebettet liegt und träumt. Kaum sichtbare Atmung, die Hände, lose gefaltet, ruhen auf der Brust, ein Auge leicht geöffnet, peitschende Bewegung der weißhaarigen Spitze seines Schwanzes. Von einem ersten Sonnenstrahl berührt, setzt er sich auf, reibt sich das Fell, kurz darauf eine schwungvolle Bewegung und schon steht der Kentaur auf seinen vier Beinen. Ein wunderbar blauer Himmel über ihm, ein Himmel, den man sofort für ein gestürztes Meer halten könnte, ein Meer ohne Wind, ruhig, da und dort eine Wolke von Fisch. Jetzt liegt der Kentaur wieder seitlich auf dem Boden, seinen schönen Kopf auf eine Hand gestützt, nascht er von einem Häufchen Beeren, blättert in einem ramponierten Telefonbuch der Stadt Chicago, liest den ein oder anderen Namen laut vor sich hin, einmal eine Himbeere, dann wieder einen Namen. Ja, ich ahnte, Kentauren bevorzugen vielleicht wilde Waldhimbeeren zum Frühstück. Und nun, es ist kurz nach Mitternacht, stellt sich die Frage, ob es Kentauren möglich ist, Bäume zu besteigen? — stop
für h.d.
siatista mittags
tango : 0.02 — Man erzählt, aus Verzweiflung über die politische Lage seines Landes, andere meinen, weil er im hohen Alter noch hungern musste, soll sich gestern, gegen 14 Uhr mitteleuropäischer Zeit, ein alter Mann auf dem Marktplatz der malerischen Stadt Siatista, demzufolge in einer nördlichen Provinz Griechenlands, erschossen haben. Er habe ein Sturmgewehr für seinen letzten Schuss verwendet, eine Waffe, die seit dem Jahre 1944 im Keller seines Elternhauses in Ölpapier gewickelt lagerte. Beinahe wäre das Gewehr, einst Stolz des jungen Mannes im Kampf gegen deutsche Faschisten, für immer in Vergessenheit geraten. Im Detail war zu erfahren, die Kugel habe zunächst den Unterkiefer des alten Mannes durchschlagen, sei von dort aus in das Gehirn vorgedrungen und habe den Kopf über das linke Auge wieder verlassen. Bruchteile einer Sekunde später tötete das Projektil eine Fliege, die sich kurz zuvor auf den Weg südwestwärts gemacht hatte, um sich zuletzt in den Ast eines Salzbaumes zu bohren. Ist das nun eine Geschichte oder eine Nachricht? — stop
schirmsamenwölkchen
echo : 0.03 — Ich träume zur Zeit von Blumen. Sie liegen in Bergen herum, Blütenberge, solche Blumen. Gestern, das habe ich nicht geträumt, war ich auf dem Friedhof und habe das Grab meines Vaters besucht. Ich hatte einen Zollstock bei mir, um eine Vorstellung aus der Luft zu holen, die Vorstellung eines Windrades, das ich einmal für meinen Vater bauen werde. Viele Menschen waren auf dem Friedhof unterwegs, manche trugen Gießkannen, andere Windlichter oder Blumen in kleinen Töpfen, Hornveilchen, Ringelblumen, Vergissmeinnicht. Es war ein ganz normaler Tag gewesen. Ich glaubte, beobachten zu können, dass manche der Menschen sich noch nicht ganz sicher fühlten in der neuen Umgebung ihres Lebens, andere begrüßten einander, winkten sich über die Reihen der Gräber hin zu. Einige knieten, wühlten mit bloßen Händen in der dunklen Erde. Eine Frau, sie war von zwergenhaftem Wuchs, überquerte eine Wiese voller Löwenzahn. Unter ihren Füßen stiegen Schirmsamenwölkchen auf. Sie ging so langsam, das heißt, mit derart kleinen Schritten, dass sie sich zunächst kaum zu bewegen schien. Ihr Gesicht war dem Boden zugewandt, weil sich ihr Rücken, wohl unter der Wirkung der Zeit, gekrümmt hatte. Als sie das Grab erreichte, das zu ihr gehörte, war dort ein ebenso kleiner, gebückter Baum zu erkennen, ein Baum, der die Gestalt der alten Frau nachzuahmen schien. — Ob vielleicht Kakteen existieren, die im Norden, die auch im Winter blühen und gedeihen? — stop
apnoe
tango : 0.01 — Auf einem Passagierlinienschiff gestern Nachmittag, während einer Überquerung des Starnberger Sees, im Selbstversuch zunächst 1 Minute und 28 Sekunden, kurz darauf 1 Minute und 52 Sekunden die Luft angehalten. Tatsächlich wieder der Eindruck, dass meine Augen in dieser Übung des Nichtatmens größer werden. — stop