echo : 0.08 — Eine alte Dame am Morgen, wie sie vor einer Uhr steht. Es handelt sich um eine große, schwere Standuhr, Zifferblatt und Zeiger lungern in einer Höhe von 1 Meter 80 über dem Boden. Nahe der Stelle, da die Achsen der Zeiger sich in das Uhrwerk vertiefen, befindet sich eine Öffnung für einen Schlüssel, mit welchem die Uhr aufgezogen werden kann. Ein Pendel setzt sich dann nach leichtem Stoß in dauerhafte Bewegung, die Uhr scheint leise zu atmen, kaum ein tickendes Geräusch ist zu vernehmen, aber zur vollen Stunde, ja, zur vollen Stunde, im Garten fliegen die Vögel von den Bäumen auf, Frösche verschwinden kopfüber im Teich, Katzen jagen wie irr umher, am Tisch im Wohnzimmer ist dem ein oder anderen Gast vor Schreck bereits eine Tasse oder ein Löffel oder eine Gabel aus der Hand gefallen. Vor dieser Uhr nun steht die alte Frau, vor einer Zeitmaschine, die sie für die Nacht zum Schweigen brachte, ihre pendelnde Bewegung demzufolge stoppte, um sie morgens wieder ins Leben zurückzurufen. Folgendes geschieht: Die zierliche Frau stellt sich auf ihre Zehenspitzen und beginnt damit, den Minutenzeiger der Uhr vorwärtszubewegen. Es geht darum, die verlorene Zeit einzuholen, Stunde um Stunde, ein Anblick, der Philosophen begeistert. Draußen im Garten bewegt sich die Welt plötzlich schneller, und wieder fliegen die Vögel auf und die Katzen beißen sich in den Schwanz, und die Fische gehen schwungvoll über den Rasen spazieren, nur die Frösche, sie tun so, als wäre all das nichts Besonderes. Nach fünf Minuten ist Ruhe. – stop
Aus der Wörtersammlung: gin
in der rue de javel 151
ginkgo : 0.02 — Ich fahre in einem Zug. Vor dem Fenster schlendert karge Landschaft, Büsche, kein Schnee, kein Gras, aber Moose und Steine. Dämmerung. Stundenlang nicht Tag und nicht Nacht. Die Waggons des Zuges scheinen von Holz zu sein, aus ihren Wänden wachsen winzige, wilde Bäume in den Raum. Diese Bäume sind nicht höher als ein Finger, winzige Affen turnen herum, auch Vögel kreisen, wenn ich mich nähere mit einem Ohr, vermag ich Pfiffe zu hören. Auf einer Bank vor dem Fenster sitzt ein älterer Herr mit einem Telefon. Er notiert große, ungelenke Buchstaben in ein Heft. Sturzprotokoll No 75: Im Nachthemd ist Mademoiselle Livin, 92, über eine Treppe vom fünften Stock des Hauses 151 in der Rue de Javel in den vierten Stock gestürzt. Paris, 10. Dezember 2014, 3 Uhr 5 Minuten. — stop
ein junge
india : 7.08 — Im Café No 5 unter dem Flughafenterminal beobachtete ich einen Mann, der sich äußerst sparsam, lange Zeit überhaupt nicht bewegte. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zeitung, neben der Zeitung Folgendes: eine Tasse Kaffee, ein Glas Wasser, Zuckerwürfel, Notizblock und Bleistift. Eine halbe Stunde verging in dieser Weise, die Hände des Mannes ruhten in seinem Schoß. Einmal rückte der Mann seinen Koffer, der hinter ihm an der Wand parkte, ein kleines Stück zur Seite, ein andermal hob er seine Kaffeetasse in die Luft, um sie in einem Zug auszutrinken. Dann wieder keinerlei Bewegung, der Mann schien kaum zu atmen. Er reagierte weder auf Lautsprecherdurchsagen noch kümmerte er sich um Menschen, die das Café auf Laufbändern passierten, es waren viele chinesische Reisende darunter, die gerade erst aus Shanghai und Peking in großen Flugzügen eingetroffen waren. Der Mann starrte auf eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die auf der Titelseite einer Zeitung abgedruckt worden war. Ein Junge lag dort unbekleidet auf einer Bastmatte mitten auf einer schmutzigen, feuchten Straße. In einiger Entfernung, im Hintergrund, warteten Menschen, die den Jungen beobachteten. Der Junge schwitze, seine schwarze Haut war von Fliegen bedeckt, er sah mit halb geschlossenen Augen zu einem Wesen hin, das in einem Schutzanzug steckte. Anstatt eines Kopfes war auf den Schultern des Wesens ein Helm zu sehen, eine zerknitterte Haube, genauer, die unter Luftdruck zu stehen schien. Das Wesen hatte seine rechte Kunststoffhand nach dem Jungen, der einsam auf dem Boden liegend verharrte, ausgestreckt, es wollte ihn vielleicht ermutigen, aufzustehen und zu ihm an den Rand der Straße zu kommen. Obwohl sich die Hand nicht bewegte, vermittelte sie den Eindruck, dass sie sich bewegt haben musste und weiterhin bewegen würde, weil die Stellung ihrer Finger nur in dieser vermuteten Bewegung einen Sinn ergab. Ja, diese Hand musste in der Zeit des Bildes eine winkende Hand gewesen sein, aber es war deutlich zu sehen, dass der Junge vermutlich nicht länger die Kraft hatte, aufzustehen oder zu kriechen oder etwas zu sagen, zu rufen, zu flüstern, oder die Fliegen auf seinem Körper zu vertreiben. Es war still, vollkommen still, nichts zu hören. — stop
anna ludmilla
norpol : 0.33 — Während ich aus dem Fenster schaue, höre ich einen Bericht, der vom Fernsehen gesendet wird. Ulyana M., das heißt die Stimme ihrer Übersetzerin, erzählt, sie habe mit ihrem Mann nahe Mariupol Zuflucht vor Granatbeschuss im Keller eines Nachbarn gesucht. Ein Mann, den sie von Ferne kannte, habe den Keller verlassen, um nach seinem Häuschen zu sehen. Er sei nicht zurückgekommen. Als der Beschuss aufgehört habe, seien sie zu ihrem Haus zurückgekehrt. Auf dem Weg fanden sie den Mann, der nach seinem Häuschen gesehen hatte. Er lag in seinem Garten ohne Kopf, sein Häuschen brannte. An dieser Stelle des Berichtes machte die Stimme, die ich hörte, eine kurze, seltsame Pause. Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Stimme der originalen Erzählerin Ulyana M. eine Pause machte, aber die Übersetzerin macht eine Pause, ihre eigene Pause. Fünf Sekunden später fuhr sie fort in ihrer Arbeit. Sie sagte, man habe nach dem Kopf des Mannes gesucht, man habe ihn gefunden und zurückgebracht zu dem Körper des Mannes, der in seinem Garten lag. – Früher Abend. Kastanienbäume tief unten stehen bereits in Flammen, Bahnsteige der Straßenbahnhaltestelle bedeckt von Stachelfrüchten, die nicht zerplatzen. Eichhörnchenschatten tragen sie nachts davon, obwohl noch Anfang September ist. Anna Ludmilla L.. Ich erinnere mich an Anna Ludmilla L., die in St. Petersburg geboren wurde. Sie lebt seit 15 Jahren in Deutschland, wollte Modell werden, heitatete, gebar eine Tochter und wurde geschieden. Seit Jahren arbeitet sie in der Poststelle eines Frankfurter Verlagshauses. M. erzählte, Anna zwinkere seit einigen Wochen, wenn man mit ihr spreche, mit einem Auge, eine flatternde Bewegung. Er habe sie einmal gefragt, wie es ihr gehe, wie ihrer Familie, ob sie Verwandte in der Ukraine habe. Sie habe sich über seine Frage vielleicht gefreut, er sei sich aber nicht sicher. — stop
wanda
delta : 0.18 — Wie Wanda gerade wieder einmal glücklich ist, weil ihm sein Freund Joseph ein Buch Peter Nadas’ schenkte, 1305 Seiten: Das Buch der Erinnerung. Wenn man das Buch in die Hand nimmt, wird man vermutlich sagen: Das ist ein schweres Buch. Das Papier scheint dünn zu sein, auch die Schatten der Buchstaben sind gut zu erkennen, so dünn sind die Seiten des Buches, dass das Licht sie zu durchdringen vermag. Wanda hat das sofort bemerkt. Seither nimmt er jede Seite, ehe er zu lesen beginnt, zärtlich zwischen seine Finger, fährt ihre Ränder entlang, legt kurz darauf ein Blatt Papier auf einen Tisch, der sein persönlicher Tisch ist, spitzt einen Bleistift und notiert einen weiteren Satz des Buches der Erinnerung. Winzige, wunderbare Schriftzeichen, akkurat gesetzt. Sobald Wanda am Ende des Satzes angekommen ist, hält er inne, um jedes niedergelegte Wort Zeichen für Zeichen zu prüfen: … hatte ich schon Budaörs erreicht, der Weg dorthin war lang, kurvenreich und dunkel gewesen, eine Art Steilpfad führte hinunter in die Ebene ein umgepflasterter Graben mit gefrorenen Wagenspuren, auf beiden Seiten das dichte Spalier hoch aufgeschossenen Gestrüpps … So arbeitet Wanda Stunde um Stunde voran, er beginnt am Morgen um kurz nach Acht, mittags schläft er von Eins bis Drei, Punkt sechs Uhr abends schließt er das Buch und löscht das Licht über dem Tisch. Vorsichtig verlässt er den Saal, er kann kaum noch sehen. Er sagt, er mache noch dieses eine Buch, aber das hat er schon oft gesagt, seinem letzten Buch folgte ein weiteres letztes Buch, das ihm Joseph schenkte. Joseph ist ein Guter unter den Menschen. Joseph sagt: Solange Du Bücher notierst, solange Du arbeitest, wird Dich niemand fragen ... — stop
herr bisaso
himalaya : 2.08 — Jeden Morgen, im Frühling oder im Sommer, Herbst oder Winter, erscheint Herr Bisaso gegen 4 Uhr am Terminal 1 des Frankfurter Flughafens. Er trägt eine graue Hose, ein dunkelblaues Hemd, eine gelbe Krawatte und ein Schildchen, auf dem das Wort SECURITY zu lesen steht, außerdem ein Stäbchen von etwa 1 Meter 50 Länge, das er in der rechten oder linken Hand mit sich zu führen pflegt. Das Stäbchen scheint aus Bambusrohr gemacht, an seiner Spitze sitzt eine weiche Beere von Leder und Samt, die von Herrn Bisaso vermutlich höchstpersönlich dort angebracht worden war. Der alte Mann ist von stattlicher Erscheinung, beinahe zwei Meter groß, er wurde in Mombasa geboren, lebt aber schon lange Zeit, Jahrzehnte, in Europa. Blitzblanke, schwarze Schuhe. Auf diesen Schuhen macht er sich nun auf seinen morgendlichen Weg, der ihn über das Terminal 1 zum Terminal 2 und wieder zurückführen wird. Ich sehe ihn, wie er sich umsieht und pfeift, er scheint fröhlich zu sein, er liebt den Morgen und vielleicht auch seine Arbeit, seinen Auftrag. In dieser Weise, leise pfeifend, nähert er sich einer Bank, auf welcher ein Mann liegt, der schläft. Das Hemd des Mannes ist verrutscht, sein Bauch zu sehen, auch sind seine Schuhe zu Boden gefallen. Es riecht ein wenig bitter in der Luft. Behutsam berührt Herr Bisaso den Mann mit jenem weichen Ende seines Bambuszeigers an der Schulter, und schon fährt der Mann hoch aus einem Traum, reibt sich die Augen, fuchtelt dann mit den Händen, und beginnt laut zu schimpfen. Guten Morgen, entgegnet Herr Bisaso mit tiefer Stimme. Er steht ganz ruhig und wartet, bis der noch halbwegs, Schlafende aufgestanden ist. Jetzt ist er zufrieden. Er schlendert zur nächsten Bank, die zum Nachtlager einer jungen Frau geworden ist, auch sie scheint ein wenig bitter zu riechen und ohne Koffer zum Flughafen gekommen zu sein. Bald steht auch sie, reibt sich die Augen, betrachtet den großen Mann und sein Stäbchen, das Herr Bisaso noch nicht sehr lange Zeit mit sich führt. Folgende Nachricht wäre vor wenigen Wochen noch möglich gewesen. MELDUNG: Von 4 bis 5 Uhr wurden in den Terminals des Frankfurter Flughafens 87 Personen, die auf Sitzgelegenheiten ruhten, von Mr. Bisaso geweckt. Er musste deshalb 2 Tritte, eine Umarmung, allesamt unwillkürlich, aber nur zwei Ohrfeigen entgegennehmen. — stop
herzgeschichte
tango : 5.12 — In der vergangenen Nacht hörte ich eine Tonaufnahme, die vor einigen Jahren während eines Spazierganges an der Isar in München aufgezeichnet wurde. Ein herbstlicher Tag. Das Rauschen des Flusses, bisweilen tosende Geräusche, wie ein weiteres Gespräch im Hintergrund. Und Hunde, und Gitarrenmusik immer wieder, und Schritte, nicht die Schritte der zwei Gehenden vor dem Mikrofon, sondern Schritte entgegenkommender Passanten. Wir unterhalten uns über Arme und Beine, Muskeln, Sehnen, Nervenstränge. Einmal beginnt es zu regnen, aufschlagende Tropfen sind auf Schirmen deutlich zu hören. Aber wir verlieren kein Wort über den Regen. Die junge Frau, die an meiner Seite wandert, spricht sehr langsam, macht lange Pausen, manchmal scheint sie nicht mir, sondern dem Wasser zuzuhören. Immer wieder erkundigt sie sich, ob das gut so sei, was sie sage, ob ich eine Geschichte daraus machen könne. Sie will nicht, dass ich ihren Namen wiedergebe: Nenn mich ‚junge Frau‘ oder nenn mich ‚Studentin‘. Manchmal sei sie müde, sagt sie, weil sie bis spät in der Nacht als Platzanweiserin in einem Kino arbeite. Sie sei so müde, dass sie einmal im Präpariersaal am Tisch beinahe eingeschlafen wäre. Das Skalpell sei ihr aus der Hand gerutscht und zu Boden gefallen, da sei sie gerade noch rechtzeitig wieder ganz wach geworden. Der Job wäre aber sehr praktisch, weil sie in den Zeiten der laufenden Filme, manchmal lernen könne, sie führe ihren Taschenatlas immer in ihrer Handtasche mit sich, Notizen und das Skript. Als Kind habe sie ihren Eltern gesagt, dass ihr Herz nicht dort schlagen würde, wo es bei den anderen Kindern üblich wäre. Sie fühlte ihr Herz immer auf der rechten Seite schlagen. Niemand habe sie ernst genommen. Nicht einmal ihr erster liebster Freund habe ihr zugehört, und auch nicht ihr zweiter Freund, der immer an der falschen Stelle sein Ohr an ihre Brust gelegt habe. Der dritte Freund war ein Mediziner gewesen, ein Student, der habe endlich nicht nur nach ihr, sondern auch nach ihrem Herzen an der richtigen Stelle gesucht. Er habe gesagt: Ein Situs inversus, eine Normabweichung. In dieser Sekunde habe sie beschlossen, Ärztin zu werden. — stop
josef
echo : 5.01 — Ich weiß nicht, wie oft ich schon die Treppen in Josefs kleine Wohnung gestiegen bin. Vielleicht einhundertmal in den siebten Stock unters Dach, seit er mich mit der Aufsicht seiner Blumen beauftragte. Als ich gestern am späten Abend die Tür hinter mir schloss, entdeckte ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter seines Telefons. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Nachricht vielleicht abhören sollte, ich dachte, eine wichtige Nachricht könnte hinterlegt worden sein. Also drückte ich einen Kopf und die Maschine begann alle bisher nicht gehörten Nachrichten abzuspielen, die auf ihr verzeichnet und von mir bis dahin nicht bemerkt worden waren. Rosie erkundigte sich nach Josefs Verbleib, sie waren verabredet, Josef nicht gekommen. Dr. Tauber ließ ausrichten, dass eine Untersuchung für Oktober geplant werden müsse, reine Routine, es war inzwischen Juni geworden. Im Dezember lud Emilie Josef zum Weihnachtssingen in die Schillerschule ein, es ging um ihren Enkel, der in den Chor berufen worden war. Im Januar wurden zwei Botschaften hinterlassen, je ohne eigentliche Nachricht, einmal waren Menschenstimmen zu hören, die Sirene einer Ambulanz, dann eine Stimme, die in englischer Sprache verkündete, dass der nächste einfahrende Zug in Richtung Coney Island fahren würde. Im März wieder Rosies einerseits ärgerliche, andererseits besorgte Frage: Josef, wie geht es Dir? Anfang Mai eine weitere Botschaft, die nur aus Geräuschen bestand, ich glaube, ich hörte das Dröhnen eines Schiffsmotors. Ende des Monats war ein Onkel Josefs gestorben, man bat ihn zu kommen, er sollte sprechen, weswegen man sich drei Tage später noch einmal erkundigte. Im Juni wieder Stadtgeräusche, ein Gewitter im Hintergrund, Stimmen in einer Sprache, die ich nicht kannte. Die letzte Aufnahme, die ich hörte, war von einer ganz besonderen Art gewesen, Glocken waren zu hören, Glocken, wie sie unter den Hälsen von Kühen baumeln. Es war eine sehr lange Aufnahme, kurz bevor sie endete, Josefs Stimme: Kohleralm, Sandwespengesang. — stop
geschichte von einem chinareisenden
olimambo : 0.28 — Alles fing damit an, dass M. ein besonderes Schulheft, welches sich seine Tochter wünschte, nicht bezahlen konnte. In dieser Sekunde, da er die Enttäuschung in den Augen des Kindes wahrnehmen musste, entschloss sich der Vater zu handeln. Er rangierte sein kleines Auto aus der Garage, rollte Ersatzreifen und Fahrräder in den Garten, fegte Blätter und Papiere auf die Straße, entfernte Ölflecken und Spinnennetze, dann begann er zu sparen. Er sparte so sehr, dass er mager wurde. Manchmal besuchte er abends nach der Arbeit seine Garage und stellte sich vor, mit welch wunderbaren Waren er sie bald füllen würde. Als er lange genug gespart hatte, 12 Monate und drei Wochen, setzte er sich in ein Flugzeug und reiste nach China. Es war ein Abenteuer, er konnte weder Chinesisch und noch Englisch, er konnte nur die türkische und ein wenig die deutsche Sprache. Am Flughafen wurde er abgeholt von einem Landsmann, den er seit sehr langer Zeit kannte. Sie fuhren aus der Stadt Peking heraus nordwärts nach Yanging, dort besuchten sie eine Fabrik, die DVD-Scheiben produzierte, sie war groß wie eine kleine Stadt. Zwei Tage blieb M. noch in Peking, er besuchte den Platz des himmlischen Friedens, dann flog er zurück nach Europa. Vier weitere Monate später landete ein Container im Hamburger Hafen an. Einhunderttausend DVD-Scheiben, unbespielt, waren im Container enthalten. Zu diesem Zeitpunkt ist das Ende der Geschichte, einer wahren Geschichte, noch vollständig offen. stop. Zwei Uhr achtundzwanzig in Gaza City. – stop
am karibasee
alpha : 20.22 — Nadine Gordimer erzählte vor wenigen Tagen in einem Fernsehgespräch, man habe vor langer Zeit ihren Roman Burger’s Daughter auf geheimen Wegen zu Nelson Mandela ins Gefängnis geschmuggelt. Auf denselben geheimen Wegen sei ihr kurz darauf ein persönlicher Brief Nelson Mandelas übermittelt worden, zeitlebens ein kostbares Dokument. Ich hörte Nadine Gordimer’s helle Stimme zum ersten Mal. Während ich lauschte und ihr anmutiges Gesicht betrachtete, erinnerte ich mich an den ersten Moment, da ich vor Jahren die Lektüre einer ihrer Erzählungen aufgenommen hatte, Something out There. Ich folgte damals nach wenigen Sätzen dem Wunsch, in der digitalen Sphäre eine Fotografie des Karibasees zu suchen, weil Nadine Gordimer vom künstlichen Gewässer in der Savannenlandschaft erzählte, von Elefanten gleichwohl, die sich in seine Fluten stürzten, um uralten Wanderrouten zu folgen. — Was hatten die ertrinkenden Tiere dort unter dem Wasserspiegel gesehen? — Wovon hatten sie gehört in ihrer letzten Lebenssekunde? — Ich las von der Tiefe des Sees, von Fischen, die in ihm leben sollen, von der Luftfeuchtigkeit und vom Gewicht der Elefantenkörper, von der Biodichte ihrer Körper und von Kulturen in Seenähe siedelnder Menschen. Und während ich so vor mich hin studierte, von Seite zu Seite, von Link zu Link, verging eine Stunde Zeit. Plötzlich erinnerte ich mich an das Buch, das ich neben mir abgelegt hatte, und setzte meine Lektüre fort. — Heute ist Nadine Gordimer gestorben. — stop