zoulou : 2.18 — Jeder Mensch sollte für Zeiten der Sorge, der Furcht, der inneren Not über einen Koffer kleiner Geschichten gebieten, Geschichten, die man sich selbst erzählen kann, ohne die Lippen öffnen zu müssen, heitere, tröstliche Kopfgeschichten, Geschichten, die sich bei Tag und bei Nacht, auch eben im Dunkeln ereignen. Ich selbst trage seit bald 15 Jahren einen Koffer dieser Art mit mir herum. Manchmal, wenn ich an meinen Koffer denke, fange ich an zu lachen, ohne ihn noch geöffnet zu haben. Es ist ein Koffer, – jeder, der selbst einen Behälter dieser Art besitzt, wird das wissen -, der durch seine reine, geheime Anwesenheit bereits wirksam werden kann. Manche meiner Geschichten sind kurzen Filmen ähnlich, sie verfügen über kaum eine Handlung, und weil ich sie mir immer wieder vorstelle oder erzähle, sind sie zu wahren Geschichten geworden. Einmal, zum Beispiel, in einem weit in der Zeit zurückliegenden Sommer saß ich auf meinem Sofa und las in irgendeinem Buch herum. Als ich kurz zum Fenster sah, flatterte ein Zitronenfalter vorüber, er flog von links nach rechts, und zwar sehr gerade, das heißt in ein und derselben Höhe. Kaum war er verschwunden kehrte er wieder, dieses Mal flog er von rechts nach links, war nun allerdings nicht mehr allein, ein Engel, groß wie ein Menschenfinger, folgte ihm. Dieser hellhäutige Engel versuchte in der Art und Weise der Zitronenfalter zu fliegen. Er hatte eine Fliegerbrille auf den Kopf gesetzt und seine äußerst filigranen Arme über einem runden Bauch gefaltet, er flog nämlich auf dem Rücken und stürzte aus dieser ungewöhnlichen Haltung ab. Bald war der Zitronenfalter vor meinem Fenster verschwunden gewesen, aber der Engel kam wieder und wieder vorbei in dem Versuch, ein Falter zu sein. Seine Stürze waren so senkrecht wie plötzlich, ein tapferes Wesen, das nicht aufgeben wollte. Ich las dann bald weiter in irgendeinem Buch, und war glücklich, würde ich sagen. – 2 Uhr Nacht. Lou Donaldson Callin’ all cats. — stop
Aus der Wörtersammlung: halt
PRÄPARIERSAAL : schwärme
tango : 1.16 — Gestern, Punkt 10 Uhr abends, habe ich meine anatomische Tonbandmaschine wieder angeworfen. Ich hörte eine Aufnahme, die ich mit der Beschriftung No 87 versehen hatte. Leider konnte ich mich nicht erinnern, wo das Dokument aufgenommen worden sein könnte, weil ich versäumte, Zeit und Ort des Gesprächs, sowie den Namen der sprechenden Person zu notieren. Eine Frauenstimme war zu hören und das Zwitschern von Vögeln. Die Stimme sprach rasend schnell, als ob sie den Vögeln nacheifern wollte. Mehrfach musste ich die Aufnahme in einem ersten Durchgang anhalten und wiederholen, um verstehen oder erahnen zu können, was die Stimme gesagt hatte. Ich habe ihr einen provisorischen Namen gegeben. Melanie erzählt: > Es ist eine aufregende Zeit. Da sind Schwärme von Gedanken, Geräuschen, Bildern, Gerüchen in meinem Kopf. Ich kann sie jederzeit hervorholen. Manchmal kommen sie von selbst. Ungefragt. Vielleicht darum, weil ich etwas Besonderes erlebe. Oft habe ich schon den Versuch unternommen, von meinen Erfahrungen zu berichten. Ich habe das Gespräch gesucht, Sie verstehen, ich bin stolz, der Aufgabe gewachsen zu sein. Deshalb erzähle ich mit Begeisterung. Ich habe zum Beispiel davon erzählt, dass ich sehr gerne an Muskeln präpariere. Ich habe von der luziden, perlmuttfarbenen Haut berichtet, die Muskeln umgibt. Ich habe von der Befriedigung erzählt, die ich empfinde, wenn ich einen Muskel vollständig freigelegt habe, wenn ich den Muskel begreifen konnte, seinen Ursprung und seinen Ansatz erkennen. Ich habe, während ich erzählte, mit meinen Händen vorausgearbeitet, habe mit meinen Händen auf dem Tisch Bewegungen ausgeführt, als wartete dort eine Struktur, die ich noch rasch präparieren sollte. Handarbeit, sagte ich, wenn du eine gute Ärztin sein willst, musst du zunächst eine gute Handwerkerin sein. Wenn du nicht Hand anlegen willst an einen Menschen, ist alle Mühe nicht wert. Eine Professorin erklärte einmal: Seien Sie neugierig. Verfolgen Sie die Strukturen weiter bis zu ihrem Ende. Glauben Sie nichts, prüfen Sie, ob das, was in den Anatomiebüchern steht, wirklich stimmt. Sehen Sie nach und sie werden mit Strukturen belohnt. — Ja, es ist aufregend. Eine Assistentin notierte eine wunderbare Geschichte für mich. Das war an dem Tag gewesen, als Gehirne entnommen worden waren. Da sei eine Kollegin durch den Saal auf sie zugekommen und habe ihr ein Gehirn in die Hände gelegt. Sie wollte ihr eine erste Erfahrung schenken, und sie wollte in diesem bedeutenden Moment an ihrer Seite sein. Das Gehirn, ihr erstes Gehirn, sei unerwartet schwer gewesen. Sie erinnerte sich gut an ihre Sorge, sie könnte das Gehirn fallen lassen. Sie habe in diesem Augenblick daran gedacht, dass sie eine ganz Welt in Händen halte, Träume eines Lebens, Bilder, Sätze, Wörter, Wörter, die nie wieder erreichbar sein werden. – stop
south ferry : ein mann
delta : 0.32 — Im Wasser das Wühlen der Schrauben, die sich der Fahrt des Schiffes entgegenstemmen. Dann Ruhe, Stille, eine ausatmende Bewegung, indem sich die Fähre dem Lande nähert, gleitende Fahrt. Fangarmen einer Gottesanbeterin ähnlich lauern Gangways in den Schatten der Hafenterminals. Ein Matrose steht dort, sehr gefährlich, hoch über schäumendem Wasser. Es ist das letzte Schiff seiner Schicht, dreißig Fähren hat er an diesem Tag schon in der Annäherung gesehen. Am Bug stehen Menschen, sie werden größer, er kann Gesichter erkennen, ihren Atem in der kalten Luft. Manche fotografieren. Andere versuchen in der Menge einen Platz zu erreichen, von dem aus sie unverzüglich loslaufen werden, ein kleiner Vorsprung, ein oder zwei Minuten Zeit. Das Schiff kommt von der Seite her, von rechts, es schrammt an schweren Holzpfählen entlang, sie geben nach unter dem Gewicht des mächtigen Körpers, ein Ächzen, die reisenden Menschen suchen Halt in dieser Sekunde, dann, in einer sanften Bewegung dreht sich das Schiff, kommt näher, schmiegt sich an, so dass keine Hand, nicht die kleinste, zwischen Schiff und Steg gelegt werden könnte. Das ist der Moment, da der wartende Mann den Weg in die Stadt freigeben, das ist der Moment, da er den warmen Geruch der Menschen wahrnehmen kann. Ein Tier kommt auf ihn zu, es ist eine Schlange, die drei oder vier Minuten seiner Zeit an ihm vorüberziehen wird. Gerade war sie noch schweigsam, jetzt spricht sie, sie spricht an ihrem Kopf und auch von ihren Seiten her. Und da ist ein offener Blick, den der Mann vielleicht wahrnehmen kann, mein Blick, ein Blick, der sich um ihn kümmert, der sich auf den Landmatrosen vorbereitet hatte, der einsammeln will, jede einzelne seiner Bewegungen, um sie später einmal wiederholen zu können. — stop
grand central terminal : ein kleine lokomotive
ulysses : 0.22 — Wann war es, dass ich zum ersten Mal entdeckte, dass das Fahren in der Subway eine hervorragende Handlung darstellt, meinen verletzten Arm zu trainieren? Eine halbe Stunde in dieser Sache mit der Linie A südwärts nach Brooklyn unterwegs, dann wieder nordwärts unter der Lexington Avenue rauf nach Harlem. Keiner der mit mir reisenden Menschen wird bemerken, was ich da tue. Ich stehe in der Nähe einer Tür und halte mich einarmig an einer Haltestange fest. So fliege ich durch Tunnels, werde gebremst, beschleunigt, rase durch Kurven der Finsternis, die es in sich haben, segle über Brücken, schaukle unter dem East River von einer Insel zur anderen Insel. Längst würde ich, wenn ich nicht mit meiner balancierenden Extremität dem Zug verbunden wäre, umgefallen sein, würde durch die Zugabteile taumeln auf der Suche nach Gleichgewicht, würde über Bürgern der Stadt zu liegen kommen, kein schöner Anblick, nein ganz sicher nicht. Ein Hin und her unter der Haut, als würden meine Muskeln, Knochen, Sehnen, selbst bereits zum Zug gehören, wohltuende, auch schmerzhafte Bewegungen, Befreiung. stop. Im Regen durch Chinatown. Wieder das Geräusch der Spazierstöcke alter Männer, die sich in ihren Revieren bewegen, ich höre sie, weil ich sie sehe, Einzelgänger, klein, gebückt. In einem Laden unter dem Grand Central Terminal, es ist Abend geworden, eine Miniatur des Bahnhofes selbst, in dem eine Lokomotive ihre Kreise zieht. Dort wiederum eine weitere Miniatur des Bahnhofes, in der eine Lokomotive kreist, so klein, dass man sie einatmen könnte. — stop
harlem : artist südwärts
charlie : 0.06 — Kurz nach 8 Uhr abends betritt ein hochgewachsener, schöner Mann den Subwaywagon, in dem ich sitze. Er trägt eine rote Hose, die schillert, Turnschuhe von schwarzer Farbe, einen Gürtel von Schlangenhaut, davon abgesehen scheint der Mann unbekleidet zu sein, die schwarze Haut seines Oberkörpers glänzt, auch die Haut seines Kopfes, auf dem sich keinerlei Haar befindet. Er kommt also herein, Höhe 168. Straße, geschmeidig, vollzieht einen Handstandüberschlag und hängt sich, Kopf nach unten, an eine der Haltestangen, die sich in den Waggons der Linie C befinden. Eine leichte, schaukelnde Bewegung, ich könnte sagen, eine Bewegung der Ruhe vor dem Sturm, die Augen geschlossen, gleich werden sich die Arme des Mannes über das Gestänge des Waggons bewegen, er wird den Reisebehälter, der von zahlreichen Menschen bewohnt, durch den Untergrund der Insel Manhattan rattert und scheppert, durchmessen, ohne den Boden mit seinen Füßen zu berühren, lautlos, bebende Muskeln, Arme, Rücken, Bauch, indem sich ein Arm des Mannes von der Stange löst, wird er an den Schwingen einer Hand gegen den Süden fliegen, um einen weiteren Handvogel nach sich zu ziehen, bald mit Hand No 3 und Hand No 4, die beide Schuhe tragen, nach offenen Räumen zielen, um Fahrt aufzunehmen, ein segelnder Körper, mal gestreckt, dann wieder zu einem Ball geworden, der sich um eine der senkrechten Stangen windet, die das Dach des Zuges zu halten scheinen, ein Hut indessen, der mal da mal dort unter den Nasen der Staunenden vorüber kommt, gleich ist es so weit, 166. Straße, noch eine, noch eine halbe Sekunde. — stop
midtown : library
alpha : 0.22 — Im Laden der New York Public Library entdecke ich einen Brief, den Emilie Dickinsons im Jahre 1852 an Susan Gilbert notierte. Weiterhin Briefe des Schriftstellers H.D.Lawrence an Ernest Weekly, Jack Londons an Anna Strunsky, sowie Mark Twains an Enid Jocelyn Agnew. Diese Briefe kosten in einer Sammlung 50 $. Sie sind auf Tischtüchern festgehalten, feine, helle Stoffe, Handarbeit: Made in India. Seltsame Sache. — stop
manhattan : 22. etage
delta : 0.52 — In der Nähe des Himmels zu wohnen, das ist schon eine seltsame Sache. Während ich gestern Morgen ein Bad genommen habe, versuchte ich mir vorzustellen, dass sich unter mir weitere 21 Badewannen befinden könnten, und dass sich genau in diesem Moment 21 Personen unter mir sich in derselben Situation, nämlich in der Badewanne aufhalten werden, vielleicht singen, Radio hören, in der Zeitung lesen, oder einen Kaffee trinken. Ich komme, genaugenommen, mittels meiner Fantasie noch in die Etage unter mir, weiter komme ich nicht. Ich bin außerstande, mir vorzustellen, wie hoch ich doch sitze, in der Flughöhe der Möwen, ich höre den Wind um die Fenster streichen, ich glaube, es ist denkbar, dass ich der einzige Mensch in diesem Hause bin, der sich Gedanken macht um das Baden oder das Schlafen oder Spazieren in dieser Höhe. — stop
union square : funkempfänger
ulysses : 0.08 — Im Taxi, in eine Wand eingelassen, die den Raum des Fahrers von meinem Raum sorgfältig trennt, ein Fernsehgerät, das sich nicht ausschalten lässt. Überhaupt scheppert das Fahrzeug in einer Weise, als wären sämtliche Schrauben, die am Morgen dieses schönen Tages zu lösen gewesen waren, mit Absicht freigelassen. Es ist ein altes Taxi, eines, das man fotografieren könnte, es wäre nicht möglich, zu sagen, in welchem Jahr in New York man sich genau befindet, nicht einmal das Jahrzehnt wäre eindeutig festzustellen, in diesem Taxi könnte mein Vater noch gefahren sein, zu einer Zeit, da ich selbst noch kaum des Laufens mächtig gewesen war. Vielleicht lässt sich das Fernsehgerät deshalb nicht ausschalten, weil es eigentlich nicht in dieses Fahrzeug gehört, es ist eine nachträglich eingebaute Persönlichkeit, die Sequenzen einer aktuellen Wirklichkeit empfängt und wiedergibt. Irgendwo muss das Auto über einen Funkempfänger verfüge für Fernsehwellen. Gerade sehen wir Mr. Romney, aber wir hören ihn nicht, weil das Automobil scheppert und weil der Fahrer versucht sich mit mir zu unterhalten, während ich versuche, ihm mitzuteilen, dass ich das Fernsehgerät gerne leiser stellen würde, oder ausschalten noch viel lieber, um ihn, den Fahrer verstehen zu können. Am Union Square halten wir an, und der Mann, der mich fährt, ein sehr junger, sehr korpulenter schwarzer Mann verlässt sein Automobil, um sich die Sache mit dem Fernsehgerät näher anzusehen. Eine besondere Situation ist nun entstanden, weil der Fahrer eigentlich sein Fahrzeug nie verlässt, so sieht er jedenfalls aus, es könnte sein, dass er nicht wieder hineinfindet in seinen Wagen und es ist noch dazu keine Zeit für solche Dinge, wir stehen inmitten des Verkehrs, es könnte alles mögliche passieren an dieser Stelle. – stop
saint george ferry terminal : tiefseeelefanten
echo : 0.02 — Gestern, Dienstag, 24. Januar, hatte ich Gelegenheit mich genau so zu verhalten, als würde ich schlafen, obwohl ich doch hellwach gewesen war. War in der zentralen Halle des Saint George Ferry Terminals, erinnerte mich an einen Traum, den ich vor zwei Jahren erlebte. Ich wartete in diesem Traum an einem späten Abend an genau derselben Stelle auf das nächste Schiff nach Manhattan zurück. Ich wartete lange, ich wartete die halbe Nacht, begeistert vom Anblick einer Herde filigraner Tiefseeelefanten, die über den hellen sandigen Boden eines Aquariums wanderten. Sie hatten ihre meterlangen Rüssel zur Wasseroberfläche hin ausgestreckt, suchten in der kühlen Luft herum und berührten einander in einer äußerst zärtlichen Art und Weise. Ein faszinierendes Geräusch war zu hören gewesen, sobald ich eines meiner Ohren an das hautwarme Glas des Geheges legte. Und auch gestern wartete ich wieder lange Zeit und beobachtete den sandigen Boden des Aquariums, von dem ich geträumt hatte. Bisweilen, nicht ganz wach und nicht im Schlaf, war das Signalhorn eines Fährschiffs zu hören. Glückliche Stunden. — stop
staten island : ans ende der Welt
sierra : 0.10 — In einem Zug der Staten Island Railway ans Ende der Welt durch borstige Landschaft. Ortschaften, die sich ähnlich sind, Häuser von Holz, ein oder zwei Stockwerke hoch, helle Farben, Gärten, klein und von Holzwänden umzäunt, als wollten die Bewohner dieser seltsamen Gegend einander nicht sehen, nicht hören. Kirchturmspitzen, Tankstellen, Fabriken, Straßen ohne Ende, eine eiserne Wildnis, in welcher Öltanks und Schrottberge wie Pilze aus kargen Wäldern wachsen. Durch diese Menschenlandschaft schaukelt der Zug, dass man sich festhalten muss. Auf einem Schiffsdock liegt ein Schaufelraddampfer, den ich sofort mit mir nehmen würde, wenn ich ihn in meine Hosentasche stecken könnte. Frierende Menschen steigen ein und frieren weiter. Aus einer Tasche ragt die dampfende Schwanzflosse eines gekochten Fisches. Kondukteure wandern von Abteil zu Abteil, schlagen Eis von den Türen. Und da ist dieser wilde Kerl, läuft rufend und singend im Waggon auf und ab. Gefrorene Möwen fallen vom Himmel. Tompkinsville. Great Kills. Atlantic. — stop