MENSCH IN GEFAHR : “Am Abend des 15. Juli 2016 versuchten Teile der türkischen Streitkräfte mit Waffengewalt, die Regierung zu stürzen. Doch der Putschversuch wurde schnell niedergeschlagen. Tausende Menschen protestierten auf den Straßen dagegen und die Putschisten wurden von Sicherheitskräften überwältigt. In einer Nacht voller Gewalt wurden Hunderte getötet und Tausende verletzt. Unmittelbar nach dem gescheiterten Staatsstreich beschuldigte die Regierung den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen und seine Anhänger_innen, sich zum Sturz der Regierung verschworen zu haben. Die religiöse Gülen-Bewegung wird von den türkischen Behörden als terroristische Organisation eingestuft. Am 20. Juli 2016 rief die Regierung den Ausnahmezustand aus, der zwei Jahre lang in Kraft blieb. Es folgte eine massive Verhaftungswelle gegen Journalistinnen, Schriftstellerinnen, Richterinnen, Staatsanwältinnen sowie vermeintliche und tatsächliche Kritikerinnen der Regierungspartei AKP. / Ahmet Altan und sein Bruder Mehmet Altan nahmen am 14. Juli – dem Vorabend des Putsches – an einer Live-Fernsehsendung mit der Moderatorin Nazlı Ilıcak teil. Während der Sendung diskutierten sie auch über türkische Politik. Anschließend wurden alle drei unter dem Vorwurf festgenommen, in der Sendung „unterschwellige Botschaften“ über den bevorstehenden Putsch verbreitet zu haben. Nazlı Ilıcak kam Ende Juli, Ahmet Altan und Mehmet Altan kamen im September 2016 in Untersuchungshaft. Ahmet Altan, Mehmet Altan, Nazlı Ilıcak und drei weitere Angeklagte wurden dann im Februar 2018 wegen des Vorwurfs, „die verfassungsmäßige Ordnung umstürzen zu wollen“ zu einer lebenslangen Haftstrafe ohne die Möglichkeit einer Bewährung verurteilt. Als das Oberste Berufungsgericht die Schuldsprüche im Juli 2019 aufhob, wurde ein neues Verfahren gegen fünf der Angeklagten eingeleitet. Mehmet Altan wurde dagegen freigesprochen. / Am 4. November 2019 wurden mithilfe der Anklage „Unterstützung einer terroristischen Organisation, ohne deren Mitglied zu sein“ Ahmet Altan zu zehneinhalb Jahren und die Journalistin Nazlı Ilıcak zu acht Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Beide wurden bis zum Urteil in ihrem Rechtsmittelverfahren vor dem Strafgericht für schwere Strafsachen Nr. 26 in Istanbul freigelassen und mit einem Reiseverbot belegt. Das Gericht sprach in dem unfairen Verfahren drei weitere Personen schuldig, darunter zwei Medienschaffende, und entschied, dass sie in Untersuchungshaft bleiben müssten. Die Staatsanwaltschaft legte am 6. November 2019 Rechtsmittel gegen Ahmet Altans Freilassung ein. Am 8. November wies das Gericht für schwere Strafsachen Nr. 26 in Istanbul den Antrag des Staatsanwalts zurück, Ahmet Altan erneut in Haft zu nehmen und verwies die Strafsache an das Gericht für schwere Strafsachen Nr. 27. Dieses Gericht akzeptierte das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft am 12. November. Ahmet Altan und sein Rechtsbeistand erfuhren nicht direkt von dieser Entscheidung des Gerichts, sondern durch regierungsnahe Medien. Noch am gleichen Abend wurde Ahmet Altan zuhause in Istanbul festgenommen und in Polizeigewahrsam überstellt. / Die erneute Festnahme von Ahmet Altan scheint politisch motiviert, willkürlich und unvereinbar mit dem Recht auf Freiheit nach Paragraf 5 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu sein, der jeden willkürlichen Freiheitsentzug verbietet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte fest, dass vorsätzliche Handlungen der Behörden zu Willkür führen können. Die erneute Inhaftierung von Ahmet Altan verstößt eklatant gegen seine Rechte.” - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 8.1.2020 unter > ai : urgent action
Aus der Wörtersammlung: hand
vom radieren
romeo : 22.41 UTC — Zur Gattung der Radierkäfer ist Folgendes zu sagen: Sie wurde unlängst an einem Sonntag auf Position 50°06’54.7“N 8°38’47.5“E in 160 Meter Höhe gegen 20 Uhr und 12 Minuten entdeckt. Es handelt sich um Lebewesen, die ihrer Erscheinung nach Klopf- oder Nagekäfern ( Ptinidae) ähnlich sind, von dunkelroter Körperfarbe und blauem Augenlicht. Radierkäfer tragen ihre Namen deshalb, weil sie sehr gerne radieren. Sobald man nämlich ein Blatt Papier vor einen Radierkäfer hin oder in seiner Nähe ablegt, wird sich der Käfer darauf zubewegen, um sofort damit zu beginnen, Schrift oder andere Zeichen, gleich ob sie nun mit Bleistift oder Tinte aufgetragen wurden, zu vertilgen, indem das Material raspelnd von der Oberfläche der Papiere abgetragen wird. Indessen scheinen sich Käferwesen jener Gattung tatsächlich ausschliesslich an Zeichenmaterialien zu orientieren, an Auftrag oder Eintrag, unbeschriftete Papiere werden zwar untersucht, aber nicht weiter in die Tiefe gehend behandelt. Ein oder zweimal täglich hinterlässt der Käfer sehr kleine, zylinderförmige Körper, die sehr dicht zu sein scheinen. Weitere Beobachtungszeit wurde avisiert. — stop
von zeichenfühlern
delta : 7.16 UTC — Ich träumte einen Mann, der in einer staubigen Stadt auf einem Schemel vor einer Schreibmaschine hockte. Der Mann schien zu warten mit geschlossenen Augen oder schlief. Sobald sich jemand näherte und sich vor den Mann hin auf einen weiteren Schemel setzte, hob der Mann die Schreibmaschine vom Boden auf und setze sie auf seinen Oberschenkel ab, dann lauschte er. Nach wenigen Sekunden hob er eine Hand, um eine Sprechpause zu bewirken. Es war eine mächtige Geste, die Vögel hörten auf zu singen, und der Wind und die Automobile schwiegen. In dieser Stille, die ihm persönlich zu gehören schien, begann er unverzüglich die Tasten seiner Schreibmaschine mit winzigen, runden Papieren zu bekleben, zeichnete sodann mit roter Farbe Zeichen auf die Papiere, um kurz darauf mit einer zarten Handbewegung, den vor ihm Wartenden zu ermuntern, weiterzusprechen. Vorsichtig tippte er nun Zeichen um Zeichen in die Tasten, sie waren von zahllosen Papieren derart erhöht, dass sie wie Fühler eines Schreibmaschinentieres wirkten, die mit jeder Berührung einer der Tasten federnd sich hin und her und auf und ab bewegten. — stop
peter handke : über die mütter von srebrenica
himalaya : 21.18 — Als ich jung gewesen war, hab ich immer wieder einmal gern in Peter Handkes Journal „Das Gewicht der Welt“ gelesen. Am Nachmittag, heute, suchte ich in meinen Regalen, ich glaube, ich muss das Buch verlegt haben oder verstellt, ich werde später noch einmal nach ihm sehen. Auch habe ich heute in der digitalen Sphäre Hinweise entdeckt auf ein Interview, das Peter Handke mit Alexander Dorin im Jahr 2011 geführt haben soll. Dieser wesentliche Hinweis auf ein furchtbares Gespräch ist in einer präzisen Analyse ( Die Spur des Irrläufers ) der Schriftstellerin Alida Bremer zu finden. Ich frage mich, ist es nicht vielleicht so, dass das Gespräch eines Autors als sehr viel authentischer anzusehen ist, wahrhaftiger, als Texte, die in den Büchern desselben Autors zu finden sind, vielfach gewendet und überprüft? Hat Peter Handke tatsächlich so gesprochen? Ich las: Überhaupt, diese sogenannten »Mütter von Srebrenica«: Denen glaube ich kein Wort, denen nehme ich die Trauer nicht ab. Wäre ich Mutter, ich trauerte alleine. Es gab die Mütter von Buenos Aires, sehr richtig, die hatten sich zusammengeschlossen und die Militärdiktatoren gefragt, was mit ihren Kindern geschehen ist. Aber diese billige Nachahmung ist scheußlich. Es gibt die Mütter von Buenos Aires, und das genügt. — stop
sarajevo
charlie : 17.15 UTC — Ich erinnere mich an einen jungen Mann, mit dem ich einmal vor sechs Jahren eine seltsame Geschichte erlebte. Wenn sie mir damals jemand anderes als ich selbst erzählt haben würde, hätte ich sie vielleicht nicht geglaubt. Die Geschichte beginnt damit, dass ich in einem Café sitze und auf einen jungen Mann warte, der mir etwas erzählen will. Ich bin frühzeitig gekommen, bestelle einen Cappuccino und schalte mein kleines Handkino an, beobachte eine Dokumentation der Arbeit Maceo Parkers in New York, mitreißende Musik, gerade eben umarmt die Sängerin Kym Mazelle den Posaunisten Fred Wesley, als der junge Mann, den ich erwartete, plötzlich neben mir sitzt. Er schaut wie ich auf den kleinen Bildschirm. Sofort kommen wir ins Gespräch. Ich frage ihn, welche Musik er gehört habe, als Kind in der belagerten Stadt Sarajevo. Jedenfalls nicht solche Musik, antwortet er, und lacht, no Funk, wir hatten keinen Strom. Avi ist heute Anfang dreißig, und dass er noch lebt ist ein Wunder. Tatsächlich steht ihm jetzt Schweiß auf der Stirn, wie immer, wenn er von der Stadt Sarajevo erzählt. Einmal fragte ich ihn, was er empfunden habe, als er von Karadzics Verhaftung hörte. Anstatt zu antworten, perlte in Sekundenschnelle Schweiß von Avis Stirn. Heute beginnt er schon zu schwitzen, ehe er überhaupt zu erzählen beginnt, weil er weiß, dass er gleich wieder berichten wird von den Straßen seiner Heimatstadt, die nicht mehr passierbar waren, weil Scharfschützen sie ins Visier genommen hatten. Man schleuderte Papiere, Zigaretten, Brote, Wasserflaschen in Körben von einer Seite der Straße zu anderen. Diese Körbe wurden nicht beschossen, aber sobald ein Mensch auch nur eine Hand aus der Deckung hielt, ja, aber dann. Avi war ein kleiner Junge. Er war so klein, dass er nicht verstehen konnte, was mit ihm und um ihn herum geschah, auch dass ein Holzsplitter sein linkes Auge so schwer verletzte, dass er jetzt ein Glasauge tragen muss, das so gut gestaltet ist, dass man schon genau hinsehen muss, um sein künstliches Wesen zu erkennen. Er sagt, er könnte, wenn ich möchte, das Auge für mich herausnehmen. Aber das will ich nicht. Ich erzähle ihm, dass ich damals, als er klein gewesen war, jeden Abend Bilder aus Sarajevo im Fernsehen beobachtet habe. Was das für Bilder gewesen seien, will Avi wissen. Ich sage: Das waren Bilder, die rennende Menschen zeigten. Avi schwitzt. Und er lacht: Das Fernsehen kann nicht gezeigt haben, was geschah, weil es immer sehr schnell und überall passierte. Und diese Geräusche. Plötzlich nimmt der junge Mann mein kleines Kino in die Hand zurück, setzt sich die Kopfhörer in seine Ohren ein, hört Maceo Parker, Kim Macelle, Fred Wesley, Pee Wee Ellis, nickt im Rhythmus der Musik mit dem Kopf. Ein Wispern. — stop
nahe aleppo
echo : 21.11 UTC — Der Wagen schaukelte vor sich hin wie ein Schiff im Sturm auf hoher See. Das war gewesen als Mutter versuchte im Laufschritt eine Straße zu überqueren. Auch der Himmel schaukelte und das hölzerne Spiel, das vor meinen Augen angebracht worden war, damit ich das Greifen und Fangen übte. Kaum hatten wir die Straße überquert, sortierte ich mein Bett im Wagen, meine Rassel, meinen Teddybär, meine Handschuhe und Decke. Ein Winterbild. Auch immer wieder Gesichter, die näher kamen, um in mein schaukelndes Zimmer zu spähen. Und Hände, die mich neckten, fremde Finger. Manchmal schlief ich ein, weil ich mich gut und sicher fühlte. Ich war vielleicht zwei Jahre alt. Eine Fotografie existiert vom Kinderwagen und mir, eine Hand, ich erinnere mich, ist zu sehen, die aus dem Verdeck greift, das sich über meinem Köpfchen wölbte, als wollte sie etwas fangen in der Luft oder die Luft selbst. — Vor wenigen Minuten noch habe ich bewegte Bilder von Kindern gesehen, die nahe Aleppo blutend in einem Krankenhaus auf einer Bahre ruhten. Die Kinder weinten nicht. Ihre Arme und Hände ohne Bewegung, aber ihre Augen. Sie waren nah auf dem Bildschirm meiner Fernsehmaschine. Ich hörte klagende Stimmen aus dem Off, von dort wohin mein Bildschirm nicht reichte . — stop
lebenszeichen
india : 11.28 UTC — Da sind Thermometerwerkzeuge, 5 + 1, zur Messung der Temperaturen eines Zimmers. Und flackerndes Regenlicht, das von den Fenstern her kommt. Ein Computerbildschirm, in dem sich der Computer selbst befindet, zuletzt vor fünf Jahren angeschaltet. Auf dem Schreibtisch ruhen anatomische Bücher, gedruckt in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, bitterer Duft steigt auf, sobald sie geöffnet sind. Das Handbuch eines Opel-Rekord und eine Blechdose, drin sind Liebesbriefe: Meine Liebste, wie ich mich nach Dir sehne! Eine Zigarrenschachtel weiterhin voller Briefmarken des deutschen Reiches, die der Junge noch sammelte. Ein Kinderbuch: Zwei Pinguine winken. Ein Gerät, das den Strom zu vermessen vermag, haardünner Zeiger. Eine Karte der Stadt Lissabon und Fahrkarten einer Straßenbahn, die in Lissabon noch immer anzutreffen ist. Zwei Menschen waren dort, die Lissabon liebten. Dem Jungen, der Lissabon später einmal lieben sollte, gehörten zwei Schulbücher, er wird später ein Doktor der Physik und ein Verehrer Andrei Sacharows. Sein Vater war Arzt gewesen, deshalb auch Skalpelle auf rotem Samt und eine Schachtel, in welcher sich Objektträger befinden. Dort Spuren, die gelblich schimmern. Und Dioden und Widerstände und Rechenkerne auf Platinen geschraubt. Auch Luftpostbriefe, die ein junger Student an sich selbst oder seine Geliebte notierte, da waren sie noch nicht nach Lissabon gereist, prächtige Marken und Stempel und Sonderwertzeichen der Ballonpost zu einer Zeit, als Expressbriefe noch durch Eilboten zugestellt worden waren. Eine Filmdose und noch eine Filmdose, die man nicht wagt im Regenlicht zu öffnen. Auf einem Dia ist sehr klein eine junge Frau zu erkennen, die vor dem World Trade Center in New York steht. Sie ist dem Auge ihres Sohnes sofort bekannt. In einer Kladde verschnürt, Blätter eines Herbariums: Schlüsselblume von Bleistiftbeschriftung umgeben, das war alles notiert am 24. VIII 1904. Auch zwei Funkantennen wie Fühler eines Insektes ohne Strom. Eine Postkarte ist da noch und immer noch Regen draußen vor den Fenstern. Auf der Postkarte steht in großen Buchstaben rot umrandet vermerkt: Lebenszeichen von L.K. aus der Braubachstraße / 8. II. 44: Meine Lieben! Wir sind gesund und unbeschädigt. Marie & Familie. — stop
regen
bamako : 18.55 UTC Morgen oder übermorgen werde ich eine Geschichte erzählen, die mit Jack Kerouac in einer gewissen losen Verbindung stehen wird. Als ich die Geschichte zu notieren begann, erinnerte ich mich an einen Text, den ich vor 11 Jahren an dieser Stelle bereits gesendet hatte. Es war gleichwohl im September gewesen, es regnete damals und ich spazierte unter einem Regenschirm. Zunächst regnete es Regensand, dann Regenreis, dann regnete es kleine Frösche. Für einen kurzen Moment dachte ich, in einem Film angekommen zu sein, der von Louisiana handelte. Das war ein feines Gefühl gewesen unterm klingenden Schirm am Ufer des Mississippi zu stehn und den Fröschen zu lauschen, die auf ihrer letzten Reise vom Himmel erstaunliche, pfeifende Geräusche von sich gaben. Als ich so im Froschregen am großen Fluss stand, erinnerte ich mich wiederum an einen kleinen Text, den ich ein Jahr zuvor bereits geschrieben hatte. Und sofort wusste ich, dass ich diesen Text, sobald ich wieder zu Hause angekommen sein würde, noch einmal lesen sollte. Es ist noch immer, auch heute, 12 Jahre später, ein beruhigender Text, ein Text, der mich berührt. Deshalb will ich diesen kleinen Text, eine Anleitung zum Glücklichsein, noch einmal, zum dritten Mal, für Sie wiederholen: Man verlasse das Haus. Sorgfältig alle Bewegungen des Verkehrs beachtend, gehe man solange durch die Stadt bis man auf eine Buchhandlung trifft. Dort kaufe man Cortazar, Julio – Geschichten der Cronopien und Famen. Dann gehe man spazieren, trage den schmalen Band durch die Straßen, bis man einen Park erreicht, wenn Sommer, oder ein Cafe, wenn Winter ist. Man nehme Platz und lese. Über den Umgang mit Ameisen beispielsweise oder wie wunderbar angenehm es ist, ein Spinnenbein postalisch an einen Außenminister aufzugeben. Oder man lasse sich im Uhrenaufziehen oder im Treppensteigen unterweisen. Jetzt bereits wird man eine leichte Wärme spüren, die aus der Gegend des Bauches nach oben und unten in Arme und Beine auswandert. Also lese man weiter, lausche jenen angenehmen Geräuschen im Kopf, diesem sagen wir: Jedermann wird schon einmal beobachtet haben, dass sich der Boden häufig faltet, dergestalt, dass ein Teil im rechten Winkel zur Bodenebene ansteigt und der darauf folgende Teil sich parallel zu dieser Ebene befindet, um einer neuen Senkrechte Platz zu machen. Oder jenem: Treppen steigt man von vorn, da sie sich von hinten oder von der Seite her als außerordentlich unbequem erweisen. It works. — stop
von blüten
lima : 15.01 UTC — Vor der Verkündung des Urteils hat sich das Gericht vornehm zurückgezogen. Der Angeklagte sitzt auf seinem Platz und wartet. Links und rechts etwas erhöht haben sich auch seine Verteidiger, zwei angesehene Anwälte der Stadt, von ihren Plätzen nicht erhoben, man rechnet mit einer raschen Entscheidung. So auch der Staatsanwalt, ein jüngerer Herr, nicht einmal seine Robe hat er abgelegt, währenddessen er den Angeklagten gleichen Alters in einer vorsichtigen Art und Weise betrachtet, als sei er sich nicht sicher, mit seinem Plädoyer eine ausreichende Begründung für die hohe Strafe dargelegt zu haben, die er zuletzt über den Angestellten der städtischen Bibliotheken zu werfen forderte. Genau so hatte er noch gesprochen, werfen, nicht verhängen solle man eine Strafe über diesen Mann, der sich hier im Saale höchst unauffällig benommen hatte. Wann hatte er die erste Blume freigelassen, wann den ersten Samen ausgestreut? War es ihm denn nicht in den Sinn gekommen, dass er unrecht handelte, als er mit Vorsatz versuchte Urwald in der Stadt auszusetzen? Ja wie konnte er denn glauben, dass man ihn ohne Strafe davon kommen lassen würde, nachdem seine Larentiae Sinensios vor dem Opernhaus das Pflaster sprengten, nachdem man im schönsten der zentralen Parks gerade noch verhindern konnte, dass der goldrote Samenstaub der Lobelia Frasensis sich des Palmenhauses bemächtigte? Ja wie konnte er gestatten, dass man ihn rühmte als einen guten Menschen, da doch die von ihm vornehmlich unter der Straßenbahnfahrt in die Luft gepuderten Kostbarkeiten der Nemuso Lasastro in den Lungen der städtischen Bürger wundersame Blüten zu treiben begannen? Man hatte lange Zeit Mühe, sie in ihrem Wachstum zu begrenzen. Das Wunder ihrer feuerroten Kelche drang aus den Gräbern derer, die an den Blüten erstickten. Dort, unter den Ulmen und Kastanienbäumen, kämpften die Gärtner einen ungleichen Kampf, wie ihre Brüder und Schwestern in den hängenden Gärten der gläsernen Bankentürme, die vergeblich versuchten, die Taraxaca des gefräßigen Schäferkorbbaums aus ihren Häusern zu kämpfen. Morgens, wenn die herrliche Oktobersonne von Osten her in die riesigen Atriien schien, sah man wohlgeformten Fallschirme dieser fruchtbarsten Pflanzengeschöpfe in den künstlichen Winden des Gebäudes auf und nieder gehen. Es war dies die Stunde, da man sich geschlagen gab, um dann doch wieder auszuschwärmen, um den Notrufen zu folgen, die von verzweifelte Angestellten aus ihren Büros abgesetzt worden waren. Der junge Staatsanwalt sieht durch das kühle Licht des Saales zu dem Angeklagten hinüber, und ein Schauer überläuft ihn bei dem Gedanken, dass gerade jene von der Stadt bezahlten Stunden des Studiums es dem Bibliothekaren ermöglichten, in den biologischen Sammlungen und Archiven nach den Gierigsten unter den Blumen dieser Welt zu forschen. Er sieht diesen bescheidenen Herrn an einem behördlichen Schreibtisch sitzen, einem hölzernen, wie er die Fächer seiner lederneren Tasche mit Samen munitioniert. Und dann sieht er ihn spazieren, da dort lächelnd eine Dosis Blütensamen auf den Boden werfend, sodass schon bald darauf im Wechsel der Duft von Kamille, der Duft der blauen Andenhyazinten vom Schotter der Straßenbahngeleise aufzusteigen begann. Aus der Regenrinne des Polizeipräsidiums wuchert noch heute eine Commeline Cestre himmelhoch über Radioantennen hinaus, das Bersten ihrer Nüsse im Oktober ist noch über hunderte Metern hin deutlich zu hören, es sind Schüsse, es ist die reinste Gefahr, die dort über den Dächern der Stadt auf den Winter lauert. Da sitzen sie nun, ein junger Herr, ein Samenwerfer und ein junger Staatsanwalt, und warten auf das Urteil, das eine gerechte Strafe aussprechen möge. — stop
#HongKongProtests
ulysses : 22.46 MESZ — Seit einigen Jahren, ich muss das schnell erzählen, kaufe ich immer wieder einmal ein digitales Buch, obwohl ich mir vorgenommen hatte, papierenen Büchern, die ich in die Hand zu nehmen vermag, treu zu bleiben, ihren Geräuschen und ihrem Duft. Nun ist das zunächst so gewesen, dass ich Romananfänge in der digitalen Sphäre zu sammeln begann. In meiner kleinen handlichen Schreibmaschine waren bald über eintausend Leseproben versammelt. Melvilles Erzählung Bartleby war der erste digitale Text gewesen, den ich zu mir holte. Etwas später folgten Dostojewskij, Auster, DeLillo, Humboldt, John Dos Passos. Plötzlich bemerkte ich, dass mir John Dos Passos’ Buchtext Manhattan Transfer fehlen würde, ich meine, dieser wundervolle Roman als wirkliches Buch, das in meinem Bücherregal stehen würde, sichtbar sein Rücken, dieses Buch habe ich gelesen. Auch Humboldt Ansichten der Natur würde fehlen und Austers Roman 4321. Ich ertappte mich bei der Überlegung, ein Stück Holz in mein Regal zu stellen in der ungefähren Größe des originalen papierenen Buches. Ich dachte, ich könnte das Stück Holz mit einem Buchrücken versehen, einer Kopie, ich könnte demzufolge, eine Instanz des digitalen Buches kreieren, die mir anzeigt, dass ich das Buch besitze, dass ich es gelesen habe oder bald einmal lesen könnte. Oder die Instanz eines Buches, das überhaupt noch als ein papierenes Buch zu schreiben wäre: #HongKongProtests — stop