Aus der Wörtersammlung: hand

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ai : TÜRKEI

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MENSCH IN GEFAHR : “Am Abend des 15. Juli 2016 ver­such­ten Tei­le der tür­ki­schen Streit­kräf­te mit Waf­fen­ge­walt, die Regie­rung zu stür­zen. Doch der Putsch­ver­such wur­de schnell nie­der­ge­schla­gen. Tau­sen­de Men­schen pro­tes­tier­ten auf den Stra­ßen dage­gen und die Put­schis­ten wur­den von Sicher­heits­kräf­ten über­wäl­tigt. In einer Nacht vol­ler Gewalt wur­den Hun­der­te getö­tet und Tau­sen­de ver­letzt. Unmit­tel­bar nach dem geschei­ter­ten Staats­streich beschul­dig­te die Regie­rung den in den USA leben­den Pre­di­ger Fet­hul­lah Gülen und sei­ne Anhänger_innen, sich zum Sturz der Regie­rung ver­schwo­ren zu haben. Die reli­giö­se Gülen-Bewe­gung wird von den tür­ki­schen Behör­den als ter­ro­ris­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on ein­ge­stuft. Am 20. Juli 2016 rief die Regie­rung den Aus­nah­me­zu­stand aus, der zwei Jah­re lang in Kraft blieb. Es folg­te eine mas­si­ve Ver­haf­tungs­wel­le gegen Jour­na­lis­tin­nen, Schrift­stel­le­rin­nen, Rich­te­rin­nen, Staats­an­wäl­tin­nen sowie ver­meint­li­che und tat­säch­li­che Kri­ti­ke­rin­nen der Regie­rungs­par­tei AKP. / Ahmet Altan und sein Bru­der Meh­met Altan nah­men am 14. Juli – dem Vor­abend des Put­sches – an einer Live-Fern­seh­sen­dung mit der Mode­ra­to­rin Naz­lı Ilı­cak teil. Wäh­rend der Sen­dung dis­ku­tier­ten sie auch über tür­ki­sche Poli­tik. Anschlie­ßend wur­den alle drei unter dem Vor­wurf fest­ge­nom­men, in der Sen­dung „unter­schwel­li­ge Bot­schaf­ten“ über den bevor­ste­hen­den Putsch ver­brei­tet zu haben. Naz­lı Ilı­cak kam Ende Juli, Ahmet Altan und Meh­met Altan kamen im Sep­tem­ber 2016 in Unter­su­chungs­haft. Ahmet Altan, Meh­met Altan, Naz­lı Ilı­cak und drei wei­te­re Ange­klag­te wur­den dann im Febru­ar 2018 wegen des Vor­wurfs, „die ver­fas­sungs­mä­ßi­ge Ord­nung umstür­zen zu wol­len“ zu einer lebens­lan­gen Haft­stra­fe ohne die Mög­lich­keit einer Bewäh­rung ver­ur­teilt. Als das Obers­te Beru­fungs­ge­richt die Schuld­sprü­che im Juli 2019 auf­hob, wur­de ein neu­es Ver­fah­ren gegen fünf der Ange­klag­ten ein­ge­lei­tet. Meh­met Altan wur­de dage­gen frei­ge­spro­chen. / Am 4. Novem­ber 2019 wur­den mit­hil­fe der Ankla­ge „Unter­stüt­zung einer ter­ro­ris­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on, ohne deren Mit­glied zu sein“ Ahmet Altan zu zehn­ein­halb Jah­ren und die Jour­na­lis­tin Naz­lı Ilı­cak zu acht Jah­ren und neun Mona­ten Haft ver­ur­teilt. Bei­de wur­den bis zum Urteil in ihrem Rechts­mit­tel­ver­fah­ren vor dem Straf­ge­richt für schwe­re Straf­sa­chen Nr. 26 in Istan­bul frei­ge­las­sen und mit einem Rei­se­ver­bot belegt. Das Gericht sprach in dem unfai­ren Ver­fah­ren drei wei­te­re Per­so­nen schul­dig, dar­un­ter zwei Medi­en­schaf­fen­de, und ent­schied, dass sie in Unter­su­chungs­haft blei­ben müss­ten. Die Staats­an­walt­schaft leg­te am 6. Novem­ber 2019 Rechts­mit­tel gegen Ahmet Alt­ans Frei­las­sung ein. Am 8. Novem­ber wies das Gericht für schwe­re Straf­sa­chen Nr. 26 in Istan­bul den Antrag des Staats­an­walts zurück, Ahmet Altan erneut in Haft zu neh­men und ver­wies die Straf­sa­che an das Gericht für schwe­re Straf­sa­chen Nr. 27. Die­ses Gericht akzep­tier­te das Rechts­mit­tel der Staats­an­walt­schaft am 12. Novem­ber. Ahmet Altan und sein Rechts­bei­stand erfuh­ren nicht direkt von die­ser Ent­schei­dung des Gerichts, son­dern durch regie­rungs­na­he Medi­en. Noch am glei­chen Abend wur­de Ahmet Altan zuhau­se in Istan­bul fest­ge­nom­men und in Poli­zei­ge­wahr­sam über­stellt. / Die erneu­te Fest­nah­me von Ahmet Altan scheint poli­tisch moti­viert, will­kür­lich und unver­ein­bar mit dem Recht auf Frei­heit nach Para­graf 5 der Euro­päi­schen Kon­ven­ti­on zum Schut­ze der Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten zu sein, der jeden will­kür­li­chen Frei­heits­ent­zug ver­bie­tet. Der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te stell­te fest, dass vor­sätz­li­che Hand­lun­gen der Behör­den zu Will­kür füh­ren kön­nen. Die erneu­te Inhaf­tie­rung von Ahmet Altan ver­stößt ekla­tant gegen sei­ne Rech­te.” - Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen bis spä­tes­tens zum 8.1.2020 unter > ai : urgent action
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vom radieren

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romeo : 22.41 UTC — Zur Gat­tung der Radier­kä­fer ist Fol­gen­des zu sagen: Sie wur­de unlängst an einem Sonn­tag auf Posi­ti­on 50°06’54.7“N 8°38’47.5“E in 160 Meter Höhe gegen 20 Uhr und 12 Minu­ten ent­deckt. Es han­delt sich um Lebe­we­sen, die ihrer Erschei­nung nach Klopf- oder Nage­kä­fern ( Ptin­i­dae) ähn­lich sind, von dun­kel­ro­ter Kör­per­far­be und blau­em Augen­licht. Radier­kä­fer tra­gen ihre Namen des­halb, weil sie sehr ger­ne radie­ren. Sobald man näm­lich ein Blatt Papier vor einen Radier­kä­fer hin oder in sei­ner Nähe ablegt, wird sich der Käfer dar­auf zube­we­gen, um sofort damit zu begin­nen, Schrift oder ande­re Zei­chen, gleich ob sie nun mit Blei­stift oder Tin­te auf­ge­tra­gen wur­den, zu ver­til­gen, indem das Mate­ri­al ras­pelnd von der Ober­flä­che der Papie­re abge­tra­gen wird. Indes­sen schei­nen sich Käfer­we­sen jener Gat­tung tat­säch­lich aus­schliess­lich an Zei­chen­ma­te­ria­li­en zu ori­en­tie­ren, an Auf­trag oder Ein­trag, unbe­schrif­te­te Papie­re wer­den zwar unter­sucht, aber nicht wei­ter in die Tie­fe gehend behan­delt. Ein oder zwei­mal täg­lich hin­ter­lässt der Käfer sehr klei­ne, zylin­der­för­mi­ge Kör­per, die sehr dicht zu sein schei­nen. Wei­te­re Beob­ach­tungs­zeit wur­de avi­siert. — stop

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von zeichenfühlern

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del­ta : 7.16 UTC — Ich träum­te einen Mann, der in einer stau­bi­gen Stadt auf einem Sche­mel vor einer Schreib­ma­schi­ne hock­te. Der Mann schien zu war­ten mit geschlos­se­nen Augen oder schlief. Sobald sich jemand näher­te und sich vor den Mann hin auf einen wei­te­ren Sche­mel setz­te, hob der Mann die Schreib­ma­schi­ne vom Boden auf und set­ze sie auf sei­nen Ober­schen­kel ab, dann lausch­te er. Nach weni­gen Sekun­den hob er eine Hand, um eine Sprech­pau­se zu bewir­ken. Es war eine mäch­ti­ge Ges­te, die Vögel hör­ten auf zu sin­gen, und der Wind und die Auto­mo­bi­le schwie­gen. In die­ser Stil­le, die ihm per­sön­lich zu gehö­ren schien, begann er unver­züg­lich die Tas­ten sei­ner Schreib­ma­schi­ne mit win­zi­gen, run­den Papie­ren zu bekle­ben, zeich­ne­te sodann mit roter Far­be Zei­chen auf die Papie­re, um kurz dar­auf mit einer zar­ten Hand­be­we­gung, den vor ihm War­ten­den zu ermun­tern, wei­ter­zu­spre­chen. Vor­sich­tig tipp­te er nun Zei­chen um Zei­chen in die Tas­ten, sie waren von zahl­lo­sen Papie­ren der­art erhöht, dass sie wie Füh­ler eines Schreib­ma­schi­nen­tie­res wirk­ten, die mit jeder Berüh­rung einer der Tas­ten federnd sich hin und her und auf und ab beweg­ten. — stop

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peter handke : über die mütter von srebrenica

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hima­la­ya : 21.18 — Als ich jung gewe­sen war, hab ich immer wie­der ein­mal gern in Peter Hand­kes Jour­nal „Das Gewicht der Welt“ gele­sen. Am Nach­mit­tag, heu­te, such­te ich in mei­nen Rega­len, ich glau­be, ich muss das Buch ver­legt haben oder ver­stellt, ich wer­de spä­ter noch ein­mal nach ihm sehen. Auch habe ich heu­te in der digi­ta­len Sphä­re Hin­wei­se ent­deckt auf ein Inter­view, das Peter Hand­ke mit Alex­an­der Dorin im Jahr 2011 geführt haben soll. Die­ser wesent­li­che Hin­weis auf ein furcht­ba­res Gespräch ist in einer prä­zi­sen Ana­ly­se ( Die Spur des Irr­läu­fers ) der Schrift­stel­le­rin Ali­da Bre­mer zu fin­den. Ich fra­ge mich, ist es nicht viel­leicht so, dass das Gespräch eines Autors als sehr viel authen­ti­scher anzu­se­hen ist, wahr­haf­ti­ger, als Tex­te, die in den Büchern des­sel­ben Autors zu fin­den sind, viel­fach gewen­det und über­prüft? Hat Peter Hand­ke tat­säch­lich so gespro­chen? Ich las: Über­haupt, die­se soge­nann­ten »Müt­ter von Sre­bre­ni­ca«: Denen glau­be ich kein Wort, denen neh­me ich die Trau­er nicht ab. Wäre ich Mut­ter, ich trau­er­te allei­ne. Es gab die Müt­ter von Bue­nos Aires, sehr rich­tig, die hat­ten sich zusam­men­ge­schlos­sen und die Mili­tär­dik­ta­to­ren gefragt, was mit ihren Kin­dern gesche­hen ist. Aber die­se bil­li­ge Nach­ah­mung ist scheuß­lich. Es gibt die Müt­ter von Bue­nos Aires, und das genügt. — stop
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sarajevo

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char­lie : 17.15 UTC — Ich erin­ne­re mich an einen jun­gen Mann, mit dem ich ein­mal vor sechs Jah­ren eine selt­sa­me Geschich­te erleb­te. Wenn sie mir damals jemand ande­res als ich selbst erzählt haben wür­de, hät­te ich sie viel­leicht nicht geglaubt. Die Geschich­te beginnt damit, dass ich in einem Café sit­ze und auf einen jun­gen Mann war­te, der mir etwas erzäh­len will. Ich bin früh­zei­tig gekom­men, bestel­le einen Cap­puc­ci­no und schal­te mein klei­nes Hand­ki­no an, beob­ach­te eine Doku­men­ta­ti­on der Arbeit Maceo Par­kers in New York, mit­rei­ßen­de Musik, gera­de eben umarmt die Sän­ge­rin Kym Mazel­le den Posau­nis­ten Fred Wes­ley, als der jun­ge Mann, den ich erwar­te­te, plötz­lich neben mir sitzt. Er schaut wie ich auf den klei­nen Bild­schirm. Sofort kom­men wir ins Gespräch. Ich fra­ge ihn, wel­che Musik er gehört habe, als Kind in der bela­ger­ten Stadt Sara­je­vo. Jeden­falls nicht sol­che Musik, ant­wor­tet er, und lacht, no Funk, wir hat­ten kei­nen Strom. Avi ist heu­te Anfang drei­ßig, und dass er noch lebt ist ein Wun­der. Tat­säch­lich steht ihm jetzt Schweiß auf der Stirn, wie immer, wenn er von der Stadt Sara­je­vo erzählt. Ein­mal frag­te ich ihn, was er emp­fun­den habe, als er von Karad­zics Ver­haf­tung hör­te. Anstatt zu ant­wor­ten, perl­te in Sekun­den­schnel­le Schweiß von Avis Stirn. Heu­te beginnt er schon zu schwit­zen, ehe er über­haupt zu erzäh­len beginnt, weil er weiß, dass er gleich wie­der berich­ten wird von den Stra­ßen sei­ner Hei­mat­stadt, die nicht mehr pas­sier­bar waren, weil Scharf­schüt­zen sie ins Visier genom­men hat­ten. Man schleu­der­te Papie­re, Ziga­ret­ten, Bro­te, Was­ser­fla­schen in Kör­ben von einer Sei­te der Stra­ße zu ande­ren. Die­se Kör­be wur­den nicht beschos­sen, aber sobald ein Mensch auch nur eine Hand aus der Deckung hielt, ja, aber dann. Avi war ein klei­ner Jun­ge. Er war so klein, dass er nicht ver­ste­hen konn­te, was mit ihm und um ihn her­um geschah, auch dass ein Holz­split­ter sein lin­kes Auge so schwer ver­letz­te, dass er jetzt ein Glas­au­ge tra­gen muss, das so gut gestal­tet ist, dass man schon genau hin­se­hen muss, um sein künst­li­ches Wesen zu erken­nen. Er sagt, er könn­te, wenn ich möch­te, das Auge für mich her­aus­neh­men. Aber das will ich nicht. Ich erzäh­le ihm, dass ich damals, als er klein gewe­sen war, jeden Abend Bil­der aus Sara­je­vo im Fern­se­hen beob­ach­tet habe. Was das für Bil­der gewe­sen sei­en, will Avi wis­sen. Ich sage: Das waren Bil­der, die ren­nen­de Men­schen zeig­ten. Avi schwitzt. Und er lacht: Das Fern­se­hen kann nicht gezeigt haben, was geschah, weil es immer sehr schnell und über­all pas­sier­te. Und die­se Geräu­sche. Plötz­lich nimmt der jun­ge Mann mein klei­nes Kino in die Hand zurück, setzt sich die Kopf­hö­rer in sei­ne Ohren ein, hört Maceo Par­ker, Kim Macel­le, Fred Wes­ley, Pee Wee Ellis, nickt im Rhyth­mus der Musik mit dem Kopf. Ein Wis­pern. — stop

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nahe aleppo

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echo : 21.11 UTC — Der Wagen schau­kel­te vor sich hin wie ein Schiff im Sturm auf hoher See. Das war gewe­sen als Mut­ter ver­such­te im Lauf­schritt eine Stra­ße zu über­que­ren. Auch der Him­mel schau­kel­te und das höl­zer­ne Spiel, das vor mei­nen Augen ange­bracht wor­den war, damit ich das Grei­fen und Fan­gen übte. Kaum hat­ten wir die Stra­ße über­quert, sor­tier­te ich mein Bett im Wagen, mei­ne Ras­sel, mei­nen Ted­dy­bär, mei­ne Hand­schu­he und Decke. Ein Win­ter­bild. Auch immer wie­der Gesich­ter, die näher kamen, um in mein schau­keln­des Zim­mer zu spä­hen. Und Hän­de, die mich neck­ten, frem­de Fin­ger. Manch­mal schlief ich ein, weil ich mich gut und sicher fühl­te. Ich war viel­leicht zwei Jah­re alt. Eine Foto­gra­fie exis­tiert vom Kin­der­wa­gen und mir, eine Hand, ich erin­ne­re mich, ist zu sehen, die aus dem Ver­deck greift, das sich über mei­nem Köpf­chen wölb­te, als woll­te sie etwas fan­gen in der Luft oder die Luft selbst. — Vor weni­gen Minu­ten noch habe ich beweg­te Bil­der von Kin­dern gese­hen, die nahe Alep­po blu­tend in einem Kran­ken­haus auf einer Bah­re ruh­ten. Die Kin­der wein­ten nicht. Ihre Arme und Hän­de ohne Bewe­gung, aber ihre Augen. Sie waren nah auf dem Bild­schirm mei­ner Fern­seh­ma­schi­ne. Ich hör­te kla­gen­de Stim­men aus dem Off, von dort wohin mein Bild­schirm nicht reich­te . — stop
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lebenszeichen

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india : 11.28 UTC — Da sind Ther­mo­me­ter­werk­zeu­ge, 5 + 1, zur Mes­sung der Tem­pe­ra­tu­ren eines Zim­mers. Und fla­ckern­des Regen­licht, das von den Fens­tern her kommt. Ein Com­pu­ter­bild­schirm, in dem sich der Com­pu­ter selbst befin­det, zuletzt vor fünf Jah­ren ange­schal­tet. Auf dem Schreib­tisch ruhen ana­to­mi­sche Bücher, gedruckt in den 20er Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts, bit­te­rer Duft steigt auf, sobald sie geöff­net sind. Das Hand­buch eines Opel-Rekord und eine Blech­do­se, drin sind Lie­bes­brie­fe: Mei­ne Liebs­te, wie ich mich nach Dir seh­ne! Eine Zigar­ren­schach­tel wei­ter­hin vol­ler Brief­mar­ken des deut­schen Rei­ches, die der Jun­ge noch sam­mel­te. Ein Kin­der­buch: Zwei Pin­gui­ne win­ken. Ein Gerät, das den Strom zu ver­mes­sen ver­mag, haar­dün­ner Zei­ger. Eine Kar­te der Stadt Lis­sa­bon und Fahr­kar­ten einer Stra­ßen­bahn, die in Lis­sa­bon noch immer anzu­tref­fen ist. Zwei Men­schen waren dort, die Lis­sa­bon lieb­ten. Dem Jun­gen, der Lis­sa­bon spä­ter ein­mal lie­ben soll­te, gehör­ten zwei Schul­bü­cher, er wird spä­ter ein Dok­tor der Phy­sik und ein Ver­eh­rer And­rei Sacha­rows. Sein Vater war Arzt gewe­sen, des­halb auch Skal­pel­le auf rotem Samt und eine Schach­tel, in wel­cher sich Objekt­trä­ger befin­den. Dort Spu­ren, die gelb­lich schim­mern. Und Dioden und Wider­stän­de und Rechen­ker­ne auf Pla­ti­nen geschraubt. Auch Luft­post­brie­fe, die ein jun­ger Stu­dent an sich selbst oder sei­ne Gelieb­te notier­te, da waren sie noch nicht nach Lis­sa­bon gereist, präch­ti­ge Mar­ken und Stem­pel und Son­der­wert­zei­chen der Bal­lon­post zu einer Zeit, als Express­brie­fe noch durch Eil­bo­ten zuge­stellt wor­den waren. Eine Film­do­se und noch eine Film­do­se, die man nicht wagt im Regen­licht zu öff­nen. Auf einem Dia ist sehr klein eine jun­ge Frau zu erken­nen, die vor dem World Trade Cen­ter in New York steht. Sie ist dem Auge ihres Soh­nes sofort bekannt. In einer Klad­de ver­schnürt, Blät­ter eines Her­ba­ri­ums: Schlüs­sel­blu­me von Blei­stift­be­schrif­tung umge­ben, das war alles notiert am 24. VIII 1904. Auch zwei Funk­an­ten­nen wie Füh­ler eines Insek­tes ohne Strom. Eine Post­kar­te ist da noch und immer noch Regen drau­ßen vor den Fens­tern. Auf der Post­kar­te steht in gro­ßen Buch­sta­ben rot umran­det ver­merkt: Lebens­zei­chen von L.K. aus der Brau­bach­stra­ße / 8. II. 44: Mei­ne Lie­ben! Wir sind gesund und unbe­schä­digt. Marie & Fami­lie. — stop

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regen

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bamako : 18.55 UTC Mor­gen oder über­mor­gen wer­de ich eine Geschich­te erzäh­len, die mit Jack Kerouac in einer gewis­sen losen Ver­bin­dung ste­hen wird. Als ich die Geschich­te zu notie­ren begann, erin­ner­te ich mich an einen Text, den ich vor 11 Jah­ren an die­ser Stel­le bereits gesen­det hat­te. Es war gleich­wohl im Sep­tem­ber gewe­sen, es reg­ne­te damals und ich spa­zier­te unter einem Regen­schirm. Zunächst reg­ne­te es Regen­sand, dann Regen­reis, dann reg­ne­te es klei­ne Frö­sche. Für einen kur­zen Moment dach­te ich, in einem Film ange­kom­men zu sein, der von Loui­sia­na han­del­te. Das war ein fei­nes Gefühl gewe­sen unterm klin­gen­den Schirm am Ufer des Mis­sis­sip­pi zu stehn und den Frö­schen zu lau­schen, die auf ihrer letz­ten Rei­se vom Him­mel erstaun­li­che, pfei­fen­de Geräu­sche von sich gaben. Als ich so im Frosch­re­gen am gro­ßen Fluss stand, erin­ner­te ich mich wie­der­um an einen klei­nen Text, den ich ein Jahr zuvor bereits geschrie­ben hat­te. Und sofort wuss­te ich, dass ich die­sen Text, sobald ich wie­der zu Hau­se ange­kom­men sein wür­de, noch ein­mal lesen soll­te. Es ist noch immer, auch heu­te, 12 Jah­re spä­ter, ein beru­hi­gen­der Text, ein Text, der mich berührt. Des­halb will ich die­sen klei­nen Text, eine Anlei­tung zum Glück­lich­sein, noch ein­mal, zum drit­ten Mal, für Sie wie­der­ho­len: Man ver­las­se das Haus. Sorg­fäl­tig alle Bewe­gun­gen des Ver­kehrs beach­tend, gehe man solan­ge durch die Stadt bis man auf eine Buch­hand­lung trifft. Dort kau­fe man  Cor­ta­zar, Julio – Geschich­ten der Cro­nopi­en und Famen. Dann gehe man spa­zie­ren, tra­ge den schma­len Band durch die Stra­ßen, bis man einen Park erreicht, wenn Som­mer, oder ein Cafe, wenn Win­ter ist. Man neh­me Platz und lese. Über den Umgang mit Amei­sen bei­spiels­wei­se oder wie wun­der­bar ange­nehm es ist, ein Spin­nen­bein pos­ta­lisch an einen Außen­mi­nis­ter auf­zu­ge­ben. Oder man las­se sich im Uhren­auf­zie­hen oder im Trep­pen­stei­gen unter­wei­sen. Jetzt bereits wird man eine leich­te Wär­me spü­ren, die aus der Gegend des Bau­ches nach oben und unten in Arme und Bei­ne aus­wan­dert. Also lese man wei­ter, lau­sche jenen ange­neh­men Geräu­schen im Kopf, die­sem sagen wir: Jeder­mann wird schon ein­mal beob­ach­tet haben, dass sich der Boden häu­fig fal­tet, der­ge­stalt, dass ein Teil im rech­ten Win­kel zur Boden­ebe­ne ansteigt und der dar­auf fol­gen­de Teil sich par­al­lel zu die­ser Ebe­ne befin­det, um einer neu­en Senk­rech­te Platz zu machen. Oder jenem: Trep­pen steigt man von vorn, da sie sich von hin­ten oder von der Sei­te her als außer­or­dent­lich unbe­quem erwei­sen. It works. — stopping

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von blüten

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lima : 15.01 UTC — Vor der Ver­kün­dung des Urteils hat sich das Gericht vor­nehm zurück­ge­zo­gen. Der Ange­klag­te sitzt auf sei­nem Platz und war­tet. Links und rechts etwas erhöht haben sich auch sei­ne Ver­tei­di­ger, zwei ange­se­he­ne Anwäl­te der Stadt, von ihren Plät­zen nicht erho­ben, man rech­net mit einer raschen Ent­schei­dung. So auch der Staats­an­walt, ein jün­ge­rer Herr, nicht ein­mal sei­ne Robe hat er abge­legt, wäh­rend­des­sen er den Ange­klag­ten glei­chen Alters in einer vor­sich­ti­gen Art und Wei­se betrach­tet, als sei er sich nicht sicher, mit sei­nem Plä­doy­er eine aus­rei­chen­de Begrün­dung für die hohe Stra­fe dar­ge­legt zu haben, die er zuletzt über den Ange­stell­ten der städ­ti­schen Biblio­the­ken zu wer­fen for­der­te. Genau so hat­te er noch gespro­chen, wer­fen, nicht ver­hän­gen sol­le man eine Stra­fe über die­sen Mann, der sich hier im Saa­le höchst unauf­fäl­lig benom­men hat­te. Wann hat­te er die ers­te Blu­me frei­ge­las­sen, wann den ers­ten Samen aus­ge­streut? War es ihm denn nicht in den Sinn gekom­men, dass er unrecht han­del­te, als er mit Vor­satz ver­such­te Urwald in der Stadt aus­zu­set­zen? Ja wie konn­te er denn glau­ben, dass man ihn ohne Stra­fe davon kom­men las­sen wür­de, nach­dem sei­ne Laren­tiae Sinen­si­os vor dem Opern­haus das Pflas­ter spreng­ten, nach­dem man im schöns­ten der zen­tra­len Parks gera­de noch ver­hin­dern konn­te, dass der gold­ro­te Samen­staub der Lobe­lia Frasen­sis sich des Pal­men­hau­ses bemäch­tig­te? Ja wie konn­te er gestat­ten, dass man ihn rühm­te als einen guten Men­schen, da doch die von ihm vor­nehm­lich unter der Stra­ßen­bahn­fahrt in die Luft gepu­der­ten Kost­bar­kei­ten der Nemuso Lasas­tro in den Lun­gen der städ­ti­schen Bür­ger wun­der­sa­me Blü­ten zu trei­ben began­nen? Man hat­te lan­ge Zeit Mühe, sie in ihrem Wachs­tum zu begren­zen. Das Wun­der ihrer feu­er­ro­ten Kel­che drang aus den Grä­bern derer, die an den Blü­ten erstick­ten. Dort, unter den Ulmen und Kas­ta­ni­en­bäu­men, kämpf­ten die Gärt­ner einen unglei­chen Kampf, wie ihre Brü­der und Schwes­tern in den hän­gen­den Gär­ten der glä­ser­nen Ban­ken­tür­me, die ver­geb­lich ver­such­ten, die Tar­a­xa­ca des gefrä­ßi­gen Schä­fer­korb­baums aus ihren Häu­sern zu kämp­fen. Mor­gens, wenn die herr­li­che Okto­ber­son­ne von Osten her in die rie­si­gen Atri­ien schien, sah man wohl­ge­form­ten Fall­schir­me die­ser frucht­bars­ten Pflan­zen­ge­schöp­fe in den künst­li­chen Win­den des Gebäu­des auf und nie­der gehen. Es war dies die Stun­de, da man sich geschla­gen gab, um dann doch wie­der aus­zu­schwär­men, um den Not­ru­fen zu fol­gen, die von ver­zwei­fel­te Ange­stell­ten aus ihren Büros abge­setzt wor­den waren. Der jun­ge Staats­an­walt sieht durch das küh­le Licht des Saa­les zu dem Ange­klag­ten hin­über, und ein Schau­er über­läuft ihn bei dem Gedan­ken, dass gera­de jene von der Stadt bezahl­ten Stun­den des Stu­di­ums es dem Biblio­the­ka­ren ermög­lich­ten, in den bio­lo­gi­schen Samm­lun­gen und Archi­ven nach den Gie­rigs­ten unter den Blu­men die­ser Welt zu for­schen. Er sieht die­sen beschei­de­nen Herrn an einem behörd­li­chen Schreib­tisch sit­zen, einem höl­zer­nen, wie er die Fächer sei­ner leder­ne­ren Tasche mit Samen muni­tio­niert. Und dann sieht er ihn spa­zie­ren, da dort lächelnd eine Dosis Blü­ten­sa­men auf den Boden wer­fend, sodass schon bald dar­auf im Wech­sel der Duft von Kamil­le, der Duft der blau­en Anden­hya­zin­ten vom Schot­ter der Stra­ßen­bahn­ge­lei­se auf­zu­stei­gen begann. Aus der Regen­rin­ne des Poli­zei­prä­si­di­ums wuchert noch heu­te eine Com­mel­ine Cest­re him­mel­hoch über Radio­an­ten­nen hin­aus, das Bers­ten ihrer Nüs­se im Okto­ber ist noch über hun­der­te Metern hin deut­lich zu hören, es sind Schüs­se, es ist die reins­te Gefahr, die dort über den Dächern der Stadt auf den Win­ter lau­ert. Da sit­zen sie nun, ein jun­ger Herr, ein Samen­wer­fer und ein jun­ger Staats­an­walt, und war­ten auf das Urteil, das eine gerech­te Stra­fe aus­spre­chen möge. — stop

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#HongKongProtests

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ulys­ses : 22.46 MESZ — Seit eini­gen Jah­ren, ich muss das schnell erzäh­len, kau­fe ich immer wie­der ein­mal ein digi­ta­les Buch, obwohl ich mir vor­ge­nom­men hat­te, papie­re­nen Büchern, die ich in die Hand zu neh­men ver­mag, treu zu blei­ben, ihren Geräu­schen und ihrem Duft. Nun ist das zunächst so gewe­sen, dass ich Roman­an­fän­ge in der digi­ta­len Sphä­re zu sam­meln begann. In mei­ner klei­nen hand­li­chen Schreib­ma­schi­ne waren bald über ein­tau­send Lese­pro­ben ver­sam­melt. Mel­vil­les Erzäh­lung Bart­le­by war der ers­te digi­ta­le Text gewe­sen, den ich zu mir hol­te. Etwas spä­ter folg­ten Dos­to­jew­skij, Aus­ter, DeL­il­lo, Hum­boldt, John Dos Pas­sos. Plötz­lich bemerk­te ich, dass mir John Dos Pas­sos’ Buch­text Man­hat­tan Trans­fer feh­len wür­de, ich mei­ne, die­ser wun­der­vol­le Roman als wirk­li­ches Buch, das in mei­nem Bücher­re­gal ste­hen wür­de, sicht­bar sein Rücken, die­ses Buch habe ich gele­sen. Auch Hum­boldt Ansich­ten der Natur wür­de feh­len und Aus­ters Roman 4321. Ich ertapp­te mich bei der Über­le­gung, ein Stück Holz in mein Regal zu stel­len in der unge­fäh­ren Grö­ße des ori­gi­na­len papie­re­nen Buches. Ich dach­te, ich könn­te das Stück Holz mit einem Buch­rü­cken ver­se­hen, einer Kopie, ich könn­te dem­zu­fol­ge, eine Instanz des digi­ta­len Buches kre­ieren, die mir anzeigt, dass ich das Buch besit­ze, dass ich es gele­sen habe oder bald ein­mal lesen könn­te. Oder die Instanz eines Buches, das über­haupt noch als ein papie­re­nes Buch zu schrei­ben wäre: #Hong­Kong­Pro­tests — stop
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