Aus der Wörtersammlung: iss

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dair az-zaur

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sier­ra : 7.48 — Das zwan­zigs­te Jahr­hun­dert blickt nie­der auf eine geheim­nis­lo­se Welt. Alle Län­der sind erforscht, die ferns­ten Mee­re zer­pflügt. Land­schaf­ten, die vor einem Men­schen­al­ter noch selig frei im Namen­lo­sen däm­mer­ten, die­nen schon knech­tisch Euro­pas Bedarf, bis zu den Quel­len des Nils, den Lang­ge­such­ten, stre­ben die Damp­fer; die Vik­to­ria­fäl­le, erst vor einem hal­ben Jahr­hun­dert vom ers­ten Euro­pä­er erschaut, mah­len gehor­sam elek­tri­sche Kraft, die letz­te Wild­nis, die Wäl­der des Ama­zo­nas­stro­mes ist gelich­tet, der Gür­tel des ein­zig jung­fräu­li­chen Lan­des, Tibets, gesprengt. Das Wort TERRA INCOGNITA der alten Land­kar­ten und Welt­ku­geln ist von wis­sen­den Hän­den über­zeich­net. – Ste­fan Zweig. In jenen Land­schaf­ten aber Frau­en, Män­ner, Kin­der. Ahnun­gen. Was in der ost­sy­ri­schen Stadt Dair az-Zaur pro­tes­tie­ren­den Men­schen in die­sen Stun­den geschieht, wis­sen wir nicht. – stop
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PRÄPARIERSAAL : cerebum

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nord­pol : 8.02 — TONAUFNAHME / Mai 2005 — Yomo : Als wir das Gehirn ent­nah­men, haben wir uns zunächst kei­ne Gedan­ken dar­über gemacht, was für ein fas­zi­nie­ren­des Teil des mensch­li­chen Kör­pers wir gera­de in der Hand hiel­ten. Wir hat­ten das näm­lich so ver­stan­den, dass die Stu­die­ren­den das Gehirn selbst ent­neh­men dür­fen und wir haben das dann auch gemacht. Aber bald haben wir fest­ge­stellt, dass die Assis­ten­ten, nicht die Stu­die­ren­den, das an den ande­ren Tischen mach­ten. Wir hat­ten bei der Ent­nah­me einen Feh­ler gemacht und das Gehirn an der fal­schen Stel­le durch­trennt. Wir waren sofort damit beschäf­tigt, zu über­le­gen, was wir jetzt machen sol­len, um kei­nen Ärger zu bekom­men. Wir haben des­halb in die­ser Situa­ti­on nicht so sehr an das Gehirn gedacht. Zum Glück kam dann aber eine net­te Assis­ten­tin und hat das Gehirn voll­stän­dig ent­nom­men, ohne uns wei­ter Vor­wür­fe zu machen. Sie fand unse­re Art der Ent­nah­me fast noch bes­ser als die vor­ge­ge­be­ne Metho­de, da man vie­le Struk­tu­ren sehen konn­te, die wir anders nicht gese­hen hät­ten. Wir waren auf jeden Fall ziem­lich froh, dass wir kei­nen Ärger bekom­men haben. Ich habe erst etwas spä­ter ein beson­de­res Gefühl gespürt, als ich das Gehirn in den Hän­den hat­te. Viel­leicht lag das auch dar­an, dass wir uns am Anfang auch noch gar nicht so genau mit dem Gehirn aus­kann­ten. Ein paar Din­ge über das Gehirn wuss­te ich zwar schon aus der Schu­le, aber wie genau es auf­ge­baut ist, aus wie vie­len Struk­tu­ren das Gehirn besteht und was man alles an einem Gehirn sehen kann, das habe ich erst in der Ana­to­mie gelernt. So wur­de das Gehirn im Lauf Zeit zu einem immer inter­es­san­te­ren und fas­zi­nie­ren­de­ren Kör­per­teil für mich. An dem Tag, als wir die Sul­ci mit bun­ten Fäden aus­le­gen soll­ten, hat­te ich das Gehirn dann län­ger in der Hand. Das ist jener Tag, an den ich mich beson­ders inten­siv erin­nern kann, da ich ein beson­de­res Gefühl hat­te, als ich das Gehirn in der Hand gehal­ten habe. Ich war ein wenig glück­lich und stolz auch, denn wer hat schon die Mög­lich­keit ein Gehirn in der Hand zu hal­ten. Für mich war kaum vor­stell­bar, dass die­se Struk­tur in mei­ner Hand ein­mal so vie­le und wich­ti­ge Auf­ga­ben erfüllt hatte.

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sekundenzeit

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india : 10.01 — Ich habe eine lus­ti­ge Geschich­te mit mir selbst erlebt. Ich stand in einem Gar­ten am spä­ten Abend und ver­such­te, indem ich mich kon­zen­trier­te, die Umris­se mei­nes Kör­pers wahr­zu­neh­men, nicht die Umris­se einer bestimm­ten, einer aus­ge­wähl­ten Regi­on mei­nes Kör­pers, son­dern die Umris­se mei­nes Kör­pers ins­ge­samt. Plötz­lich mein­te ich, mich in einem Film zu befin­den, einem Film, der sich sehr lang­sam beweg­te, mit einem Bild pro Jahr­hun­dert, sagen wir, sodass ich mich nicht erin­nern konn­te, über­haupt schon ein­mal in Bewe­gung gewe­sen zu sein. Auch der wol­ken­lo­se Him­mel über mir hat­te sich noch nie zuvor bewegt, und die gefro­re­nen Blät­ter der Bäu­me und ihre Nacht­schat­ten. Wie ich in die­ser Wei­se ver­harr­te und mich in die Vor­stel­lung der Bewe­gungs­lo­sig­keit ver­tief­te, für einen Moment der Ein­druck, Minu­ten­zeit wahr­neh­men zu kön­nen. — stop

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radiusköpfchen

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echo : 10.18 — Neh­men wir ein­mal an, ich wäre nachts über eine däm­mern­de Kat­ze gestol­pert, wäre eine Trep­pe hin­un­ter­ge­stürzt, unsanft gelan­det, ich hät­te mir viel­leicht den Arm gebro­chen, und zwar den rech­ten in sei­ner Beu­ge, das Ellen­bo­gen­ge­lenk, Radi­us­köpf­chen zer­trüm­mert, Bän­der geris­sen, Mus­keln, im geschwol­le­nen Gewe­be suchen­de Struk­tu­ren. Bald Über­land­fahrt ins Hos­pi­tal, Minu­ten­schlaf im grel­len Licht einer chir­ur­gi­schen Ambu­lanz, vier Stun­den Zeit in Abwe­sen­heit, das Unter­su­chen, Beu­gen, Dre­hen, Zer­ren, Sägen, Boh­ren, Fei­len, Dis­ku­tie­ren, Nähen, ich hör­te, ich spür­te nichts. Wie ich, es ist Mit­tag gewor­den, mit mei­nem Namen von Fer­ne her geru­fen wer­de, Geis­ter­stim­men, Geis­ter­hän­de. Das stren­ge Kor­sett von dun­kel­blau­er Far­be, in dem der kran­ke Arm gebor­gen liegt in einer grü­ßen­den Hal­tung. Sand­au­gen­mü­dig­keit der Mor­phi­ne. Die Bewe­gung der Fin­ger, die mich glück­lich macht, einer nach dem ande­ren Fin­ger spür­bar, aber mei­ne Nase, mein Mund uner­reich­bar plötz­lich wie die Ober­flä­che des Mon­des. — stop

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naturbeobachtung

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india : 8.12 — Sagen wir so, sagen wir: Savan­ne. Sagen wir: Abend. Sagen wir: vor­schrift­li­che Zeit. Dort – zwei Män­ner. Der eine der bei­den Män­ner liegt auf dem Rücken. Die­ser Mann, von Staub bedeckt, – ein toter Mann. Sein Bauch ist geöff­net. Viel­leicht ist der Mann gestürzt, viel­leicht wur­de der Mann von einem Raub­tier ange­fal­len. Der zwei­te vor­ge­stell­te Mann kniet vor dem Toten und betrach­tet die Wun­de. Nun zieht die­ser Mann sei­ne Waf­fe und hebt einen Lap­pen Haut zur Sei­te. Er setzt das Werk­zeug in der Wun­de an und schnei­det so lan­ge in die Mus­ku­la­tur des Bau­ches, bis die Bauch­höh­le des Toten offen liegt. Eine Ges­te der Unter­su­chung, eine Ges­te des Ein­drin­gens, der Inva­si­on, eine vor­sich­ti­ge Bewe­gung ohne ein bestimm­tes Ziel. Da ist der Wunsch, Tie­fe zu gewin­nen, Unsicht­ba­res, Ver­deck­tes, Unbe­kann­tes sicht­bar zu machen. Viel­leicht wird sich die­ser Mann zunächst von dem Toten ent­fer­nen, viel­leicht des­halb, weil eine wei­te­re Raub­kat­ze sich nähert. Viel­leicht wird der Mann, aus der Erin­ne­rung her­aus, den Umriss eines Man­nes, der tot ist, in eine Fels­wand rit­zen. Viel­leicht wird er in die­sen Umriss eines Man­nes, der steht oder liegt, die Form eines Organs ein­tra­gen, – genaue Lage, exak­te Grö­ße. Die Abbil­dung eines Organs, für des­sen Exis­tenz zum Zeit­punkt der Ent­ste­hung weder ein Zei­chen noch ein Begriff erfun­den wur­de. — stop

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PRÄPARIERSAAL : traumzeit

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kili­man­dscha­ro : 15.16 — Einen Raum der Zeit, den ich dafür ver­wen­de, Stim­men mit­tels eines Ton­band­ge­rä­tes ein­zu­fan­gen, benö­ti­ge ich etwas spä­ter zum zwei­ten Mal, um die ver­zeich­ne­ten Stim­men von dem­sel­ben Ton­band­ge­rät aus wie­der frei­zu­las­sen. stop. Mar­kus an einem Mitt­woch. Febru­ar. Abend: Ver­su­chen Sie bit­te sich vor­zu­stel­len, Sie wüss­ten für sechs lan­ge Wochen nicht, ob Sie sich in einem Traum befin­den oder ob Sie doch eher wach sind. Wenn ich von mei­ner Zeit im Prä­pa­rier­saal spre­che, dann spre­che ich ger­ne von mei­ner Traum­zeit. Ich hat­te den Ein­druck, einen gewal­ti­gen Satz zu tun. Ich mei­ne, ich mach­te eine Erfah­rung, die nicht ganz all­täg­lich ist. Ich stand mor­gens um 6 Uhr auf und wenn ich abends um 10 Uhr zurück­kam, dann hat­te ich drei oder vier Stun­den mit einem Skal­pell am Kör­per eines toten Men­schen gear­bei­tet. Ich hat­te eine gewis­se Vor­stel­lung davon, was in einem Prä­pa­rier­saal geschieht, nicht aber davon, dass der Kör­per ins­ge­samt unter mei­nen Hän­den ver­schwin­den wird. Das Ver­schwin­den die­ses Kör­pers vor mir auf dem Tisch habe ich als etwas Unwirk­li­ches, als traum­ar­ti­ges Gesche­hen emp­fun­den. Das war kein Alb­traum, ganz gewiss nicht. Viel­mehr hat­te ich den Ein­druck, mich in einem Film zu befin­den, der mal zu schnell und mal zu lang­sam abge­spielt wur­de, so dass ich nie wis­sen konn­te, wie schnell ich mich, oder ob ich mich über­haupt bewe­gen wür­de im nächs­ten Augen­blick. Ich konn­te mich selbst nicht berech­nen. Ich war zu lang­sam einer­seits und zu schnell ande­rer­seits. Ich habe mei­ne Hän­de betrach­tet, wie sie Haut vom Gesicht eines Men­schen ent­fern­ten. Ich hat­te den Ein­druck, mei­ne Hän­de wür­den nicht zu mir gehö­ren. — stop
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asmara tigri

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lima : 16.01 — Die Frau, die mir sofort eine Geschich­te erzäh­len wird, scheint müde zu sein. Immer wie­der fal­len für Sekun­den ihre Augen zu. Frü­her Mor­gen, Tigri hat die Nacht über gear­bei­tet. Wir sit­zen in einem Schnell­zug vom Flug­ha­fen in die Stadt. Gera­de woll­te sie noch wis­sen, war­um ich auf dem Note­book einen Film betrach­te, der von ein­stür­zen­den Tür­men des World Trade Cen­ters berich­tet. Sie habe, bemerkt Tigri, sechs Stun­den lang Brie­fe sor­tiert, das heißt, Luft­post­brie­fe für Inseln, die im Pazi­fi­schen Oze­an lie­gen, weil sie eine Spe­zia­lis­tin für Inseln ist, auch für Inseln atlan­ti­scher Gebie­te, aber vor allem ken­ne sie sich aus mit Inseln, die Kiri­ba­ti hei­ßen oder Ton­ga oder Palau oder Vanua­tu. Sie sagt, dass sie die­se Namen lie­ben wür­de, dass sie Anfang der 70er Jah­re in einem Dorf nahe der eri­tre­ischen Haupt­stadt Asma­ra gebo­ren wor­den sei und dass das Dorf im Jahr 1984 wie­der auf­ge­baut wer­den muss­te, weil an einem Sonn­tag­abend ein MIG-Flug­zeug das Dorf zer­stört habe und vie­le ihrer Freun­de getö­tet. Zu die­sem Zeit­punkt leb­te Tigri bereits in West­deutsch­land. Wenn sie den Namen ihres Dor­fes aus­spricht, bin ich nicht imstan­de, das schö­ne Geräusch in mei­nem Kopf zu behal­ten, aber das Wort Asma­ra kann ich mir mer­ken. Sobald ich das Wort Asma­ra for­mu­lie­re, leuch­ten ihre Augen, also sage ich drei­mal Asma­ra und freue mich über die Wirk­sam­keit die­ses Wor­tes. Asma­ra soll eine Stadt hel­len Lich­tes sein, sage ich, es soll dort immer­zu nach Kaf­fee duf­ten, und Tigri lacht und ich den­ke, dass das jetzt ent­we­der so ist oder dass das nicht so ist, dass sie jeden­falls das Hel­le mag und auch den Kaf­fee­duft. Man spre­che Tig­ri­gna dort in ihrer Gegend, sagt Tigri, und ich bemer­ke, dass ihr gan­zer Name selbst in die­sem Wort ent­hal­ten sei. Wie­der lacht die jun­ge Frau, schließt kurz die Augen, erzählt, dass ihr Bru­der, ein Gynä­ko­lo­ge, aus den Diens­ten eines Kran­ken­hau­ses ent­las­sen wur­de, weil man ihn nicht als das behan­deln woll­te, was er zu sein wünsch­te. Mein Bru­der, wis­sen Sie, möch­te ein König sein. Nun ist er arbeits­los und König. Er ist natür­lich schwarz wie ich, genau­so schwarz, und schwarz steht den Köni­gen nur in Afri­ka. Sie macht eine kur­ze Pau­se, reibt sich die Augen. Wir sind jetzt allein auf die­ser Welt, sagt Tigri, alles ging sehr schnell. Im ver­gan­ge­nen Jahr sei ihr Vater gestor­ben in Eri­trea, ein glück­li­cher Mensch, ein Bus­fah­rer, ein sehr stol­zer Herr. Im Okto­ber des­sel­ben Jah­res sei schließ­lich die Mut­ter mit dem Flug­zeug via Rom nach Frank­furt gekom­men. Sie habe, ohne das zu wis­sen, einen Tumor im Kopf mit­ge­bracht, im Febru­ar war sie dann umge­fal­len und tot im März. Tigri lehnt ihren Kopf an die Wand des Zuges, schaut aus dem Fens­ter. Ein hei­ßer, schwü­ler Mor­gen. Ob sie den Film anse­hen dür­fe, will sie wissen.
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PRÄPARIERSAAL : skalpell

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romeo : 3.05 — Ich habe das Fau­chen eines Schwans gehört. Zunächst war ich mir nicht sicher gewe­sen, ob ich mich nicht viel­leicht geirrt haben könn­te, ein Nach­ge­räusch, dach­te ich, ein Schat­ten in den Ohren, wie in den Augen Nach­bil­der ent­ste­hen, weil ich am Abend wirk­li­chen, fau­chen­den Schwä­nen im Pal­men­gar­ten begeg­net war. Also spul­te ich das Band zurück und hör­te noch ein­mal genau­er hin, und da war das luf­ti­ge Geräusch tat­säch­lich wie­der zu hören gewe­sen, in einer Atem­pau­se Emi­lys, deren Stim­me ich im Nym­phen­bur­ger Schloss­park auf­ge­zeich­net hat­te. Sie woll­te Spa­zie­ren­ge­hen. Sie hat­te gesagt, sie kön­ne sich bes­ser kon­zen­trie­ren in Bewe­gung, vor allem bes­ser schwei­gen, nach­den­ken im Gehen. Win­ter­zeit, Schnee lag hoch bis zu den Knien und die Schwä­ne fauch­ten hung­rig. Emi­ly nun, so wie sie gespro­chen hat­te, ohne Pau­sen an die­ser Stel­le, weil ich ihr Schwei­gen in den Zei­chen ent­fern­te: > Bevor ich erzäh­le, wie ich die Öff­nung des Kör­pers erlebt habe, möch­te ich erwäh­nen, dass die­ser ers­te Tag und auch der zwei­te Tag für mich nur schwer zu ertra­gen gewe­sen sind. Ich war beein­druckt von der gro­ßen Zahl der Tische, die in den Apsi­den stan­den. Ganz ehr­lich, ich war ein­ge­schüch­tert. Ich fühl­te mich unsi­cher und unbe­deu­tend und ich glau­be, vie­le ande­re haben sich selbst auch so wahr­ge­nom­men. Man will das natür­lich nicht zei­gen. Man wünscht sich, sou­ve­rän zu sein. Aber ich muss­te mich über­win­den, den Kör­per über­haupt nur zu berüh­ren. Da war ein Wider­stand in mir, dem ich bis heu­te noch nach­spü­ren kann Ich habe meh­re­re Ver­su­che unter­nom­men und hat­te plötz­lich gro­ße Angst, dass ich das über­haupt nie­mals könn­te. Aber mei­ne Freun­de am Tisch waren sehr ver­ständ­nis­voll. Sie haben mich nicht gedrängt und auch unser Tischas­sis­tent nicht. Er sag­te, dass das ganz nor­mal sei und dass ich mich beru­hi­gen sol­le und ganz ruhig atmen. Ich hat­te eine irgend­wie ver­zerr­te Wahr­neh­mung, alles war so laut um mich her­um und ich bekam schlecht Luft. Ich bin dann erst ein­mal aus dem Saal geflüch­tet. Eine Freun­din hat mich beglei­tet und wir sind auf dem Flur hin- und her­ge­lau­fen. Und dann woll­te sie zurück und ich folg­te. Ich erin­ne­re mich an den grü­nen Kit­tel unse­res Assis­ten­ten. Er beug­te sich gera­de über den Kör­per des Toten und zog das Skal­pell vom Kinn in Rich­tung des Nabels. Ich wun­der­te mich, dass man gar nichts hören konn­te. Ver­ste­hen Sie, ich kann mir heu­te noch nicht erklä­ren, war­um ich ein Geräusch erwar­tet habe. Man konn­te auch kei­ne Spu­ren eines Schnit­tes erken­nen. Dann ist etwas Merk­wür­di­ges mit mir gesche­hen. Ich habe mei­ne Posi­ti­on am Tisch wie­der ein­ge­nom­men, das heißt, ich habe mich wie­der zu mei­ner Grup­pe gestellt. Ich habe mei­ne Hand­schu­he ange­zo­gen, mein Skal­pell aus­ge­packt und mei­ne Pin­zet­te und dann habe ich ange­fan­gen zu arbei­ten. Ich will das so sagen, ich habe den Kör­per auf dem Tisch zunächst mit dem Skal­pell berührt und dann mit mei­nen Hän­den. Ich war sehr glück­lich gewe­sen, dass ich mich über­win­den konn­te. Immer wie­der ist aber das Gefühl einer gewis­sen Unwirk­lich­keit zurück­ge­kehrt, der Ein­druck an die­sem Ort deplat­ziert zu sein, fremd oder so etwas. Sobald ich dann etwas getan habe, wenn ich gear­bei­tet habe, wenn ich also prä­pa­riert habe, ging das gut mit mir. Ich glau­be, ich war eine von jenen, die stets tief über das Prä­pa­rat gebeugt waren, ich bin sehr schnell in den Saal zum Tisch gelau­fen, und wenn ich fer­tig war, habe ich den Saal so rasch wie mög­lich wie­der verlassen.

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PRÄPARIERSAAL : zeppelin

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echo : 2.16 — Wall­street ges­tern Abend auf Fern­seh­bild­schirm. Hin­ter einem Repor­ter, der vom abwärts stre­ben­den Ver­hal­ten der Kur­se erzähl­te, war­te­ten japa­ni­sche Men­schen. Sie wink­ten fröh­lich in die Kame­ra, grüß­ten, fächel­ten sich Luft zu mit fleisch­far­be­nen Zei­tungs­pa­pie­ren. Es schien warm zu sein in New York, schwül. Wäre ich jetzt dort, dach­te ich, wür­de ich süd­wärts lau­fen zur nahe­ge­le­ge­nen Hafen­sta­ti­on, wür­de mich auf das obe­re Deck eines der alten Fähr­schif­fe bege­ben, wür­de bald im küh­len­den Fahrt­wind sit­zen, eine Coke in der lin­ken, eine Teig­ta­sche mit Hum­mer­fleisch in der rech­ten Hand, das Ton­band­ge­rät in der Tasche und Mels Stim­me im Kopf­hö­re­rohr, wie sie erzählt von ana­to­mi­scher Zeit. — 2 Uhr und zwan­zig Minu­ten. Regen. Blit­ze. Don­ner. Gera­de eben hör­te ich mich selbst, mei­ne eige­ne Stim­me. Ich for­mu­lier­te vor­sich­tig eine Fra­ge, woll­te wis­sen, ob Mel sich im ana­to­mi­schen Saal gefürch­tet habe? Nein, ant­wor­te­te Mel ohne zu zögern, sie habe sich nicht eine Sekun­de lang vor den Toten gefürch­tet. > Ich hat­te in die­sen 6 Wochen kei­ne Zeit, Angst zu haben. Ich habe mich auf mei­ne Auf­ga­be kon­zen­triert. Ich habe mich vor Testa­ten ein wenig gefürch­tet, und ganz am Anfang viel­leicht davor ein­mal rasch umzu­fal­len. Nur des­halb hat­te ich wirk­lich Angst, umzu­fal­len, das heißt nicht arbei­ten zu kön­nen, aber davon erzähl­te ich bereits. Wenn ich mir das jetzt genau über­le­ge, dann kann ich mich nicht erin­nern, dass im Prä­pa­rier­saal über­haupt irgend­je­mand umge­fal­len ist. Viel­leicht muss­te man mal aus dem Saal gehen und sich set­zen, weil man die Nacht zuvor nur kurz geschla­fen hat­te und des­halb müde war und weil die Augen brann­ten vom Form­alde­hyd in der Luft. Aber umge­fal­len, ich mei­ne, ohn­mäch­tig gewor­den, davon habe ich nichts mit­be­kom­men. Ich habe manch­mal den Ein­druck, dass ich das alles nur geträumt habe. Auch in der Zeit, als ich noch prä­pa­rier­te, hat­te ich bis­wei­len den Ein­druck, dass die­ser Saal nicht wirk­lich war. Ich konn­te mei­ne Ein­drü­cke nicht mit der Stra­ße, über die ich nach Hau­se spa­zier­te oder mit den Gesprä­chen der Men­schen, die ich in der U‑Bahn gehört habe, in Ver­bin­dung brin­gen. Ich hat­te den Ein­druck, dass der Saal, dass die gan­ze Situa­ti­on irgend­wie frei schweb­te, also ganz für sich war, iso­liert. Und so reis­te ich also hin und her, von da nach dort und wie­der zurück, aber das war nicht schwer gewe­sen, so hin und her zu sprin­gen. Ich habe von dem ein oder ande­ren mei­ner Freun­de gehört, dass sie Alb­träu­me gehabt hät­ten. Ich selbst habe aber nie geträumt. Ich kann mich jeden­falls nicht dar­an erin­nern, geträumt zu haben. Ich glau­be, ich war in irgend­ei­ner Wei­se geschützt. Ich kann nicht genau sagen, was mich geschützt hat, viel­leicht war es die Dich­te der Auf­ga­ben, die mir gestellt waren. Ich hat­te kei­ne Zeit, lan­ge über die­se merk­wür­di­ge Situa­ti­on nach­zu­den­ken. Ich mei­ne, ich habe nicht lan­ge dar­über nach­ge­dacht, dass ich, Mel, hier den Kör­per einer alten Frau so lan­ge zer­le­ge und betrach­te, dass er fast ver­schwun­den sein wird, wenn ich fer­tig sein wer­de. Ja, – es war sehr viel zu tun. Das hat es leich­ter gemacht.
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manhattan transfer

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fox­trott

~ : oe som
to : louis
sub­ject : DOS PASSOS
date : july 31 11 5.15 p.m.

Anstren­gen­de Tage lie­gen hin­ter uns, Regen, stür­mi­sche Win­de, schwe­rer See­gang, Peli­ka­ne krei­sen hoch über dem Schiff. Vor zwei Tagen zuletzt schick­ten wir Dos Pas­sos’ Roman Man­hat­tan Trans­fer zu Noe hin abwärts. Ein schwe­res Buch, das in vier­hun­dert Fuß Tie­fe von einer war­men süd­li­chen Strö­mung abge­trie­ben wur­de, bald dar­auf in einer Pen­del­be­we­gung der­art hef­tig nord­wärts gezo­gen wur­de, dass wir fürch­te­ten, Noe könn­te von dem Gewicht des Romans getrof­fen oder das Buch von der Sen­k­lei­ne in uner­gründ­li­che Tie­fen fort­ge­ris­sen wer­den. Drei Stun­den spä­ter hielt Noe John Dos Pas­sos in Hän­den. Unser Tau­cher bemerk­te sogleich, dass es sich bei die­sem wei­te­ren Unter­was­ser­buch um ein beson­de­res Werk han­deln muss­te, eine umfang­rei­che Satz­ver­samm­lung, von innen her, Sei­te für Sei­te, Zei­chen für Zei­chen apri­ko­sen­far­ben sanft beleuch­tet. In der­sel­ben Minu­te, da Noe das Buch öff­ne­te, begann er laut zu lesen. Er las drei Stun­den, dann schlief er kurz ein, um noch im Halb­schlaf befind­lich sei­ne Lek­tü­re fort­zu­set­zen: Die Son­ne ist nach Jer­sey gerückt, die Son­ne steht hin­ter Hobo­ken. Hül­len schnap­pen über Schreib­ma­schi­nen, Roll­la­den­schreib­ti­sche schlie­ßen sich. Auf­zü­ge fah­ren leer in die Höhe, kom­men voll­ge­pfropft her­un­ter. Es ist Ebbe in der City, Flut in Flat­bush, Wood­lawn, Dyck­man Street, Sheep­s­head Bay, News Lots Ave­nue, Can­ar­sie. Rosa Zei­tun­gen, grü­ne Zei­tun­gen, graue Zei­tun­gen. Sämt­li­che Bör­sen­kur­se. Sport­re­sul­ta­te. Let­tern wir­beln über laden­mü­de, büro­mü­de schlaf­fe Gesich­ter, wun­de Fin­ger­spit­zen, schmer­zen­de Fuß­ris­te, mus­ku­lö­se Män­ner, Gedrän­ge im U‑Bahn-Express. — Kurz vor Son­nen­un­ter­gang. Das Meer sucht nach uns, mit Zun­gen von Gischt. Ein rie­si­ger Schwarm Makre­len nähert sich von Nor­den her, unge­heu­re Bewe­gung, wie eine rie­si­ge Hand fährt sie auf dem Radar­schirm lang­sam die Küs­te ent­lang. Noe wünscht, eine Foto­gra­fie John Dos Pas­sos’ zu sehen. So etwas hat’s noch nie gege­ben. — Ahoi! Dein OE

gesen­det am
31.07.2011
1962 zeichen

oe som to louis »



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