Abschnitt Montauk meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 2078, Luftfahrt — 703, Automobile — 6044 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 5, 19. Jahrhundert – 102, 20. Jahrhundert – 865 , 21. Jahrhundert — 23 ], physical memories [ bespielt — 17, gelöscht : 28 ], Telefonbücher [ Chicago — 5, New Orleans — 2 ] Lichtfangmaschinen [ Minox AF X 5 : 3 ], Öle [ 0.8 Tonnen ], Prothesen [ Herzrhythmusbeschleuniger – 16, Kniegelenke – 8, Hüftkugeln – 32, Brillen – 1071 ], Schuhe [ Größen 28 – 39 : 1001, Größen 38 — 45 : 178 ], Kühlschränke [ 321 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 8, mit Taucher – 22 ], Engelszungen [ 158 ] — stop
Aus der Wörtersammlung: licht
apfelbaumgalaxie
charlie : 8.55 — Bergschattenlicht am frühen Morgen. Im Garten, im Geäst schrulliger Apfelbäume, schimmernde Spinnwebnetze wie Galaxien. Wieder an Julio Cortazar gedacht, an Sätze, die der Schriftsteller über das Vorkommen der Treppensubstanzen notierte. Diesen zum Beispiel: Jedermann wird schon einmal beobachtet haben, dass sich der Boden häufig faltet, dergestalt, dass ein Teil im rechten Winkel zur Bodenebene ansteigt und der darauf folgende Teil sich parallel zu dieser Ebene befindet, um einer neuen Senkrechte Platz zu machen. Oder jenen: Treppen steigt man von vorn, da sie sich von hinten oder von der Seite her als außerordentlich unbequem erweisen. — stop
radiusköpfchen
echo : 10.18 — Nehmen wir einmal an, ich wäre nachts über eine dämmernde Katze gestolpert, wäre eine Treppe hinuntergestürzt, unsanft gelandet, ich hätte mir vielleicht den Arm gebrochen, und zwar den rechten in seiner Beuge, das Ellenbogengelenk, Radiusköpfchen zertrümmert, Bänder gerissen, Muskeln, im geschwollenen Gewebe suchende Strukturen. Bald Überlandfahrt ins Hospital, Minutenschlaf im grellen Licht einer chirurgischen Ambulanz, vier Stunden Zeit in Abwesenheit, das Untersuchen, Beugen, Drehen, Zerren, Sägen, Bohren, Feilen, Diskutieren, Nähen, ich hörte, ich spürte nichts. Wie ich, es ist Mittag geworden, mit meinem Namen von Ferne her gerufen werde, Geisterstimmen, Geisterhände. Das strenge Korsett von dunkelblauer Farbe, in dem der kranke Arm geborgen liegt in einer grüßenden Haltung. Sandaugenmüdigkeit der Morphine. Die Bewegung der Finger, die mich glücklich macht, einer nach dem anderen Finger spürbar, aber meine Nase, mein Mund unerreichbar plötzlich wie die Oberfläche des Mondes. — stop
lichtbilder
marimba : 2.15 — Existieren in diesem Moment noch Menschen, die während ihres Lebens nie auf einer Fotografie abgebildet sein werden? — stop
lichtinseln
foxtrott : 6.15 — Ich kann vielleicht sagen, dass ich, sobald sich die Augen eines Schlafenden vor meinen eigenen Augen öffnen, ohne Ausnahme sofort gefangen bin. Habe in der Beobachtung schlafender Menschen nachts, wenn ich durch Flughafenhallen spazierte oder in Subwayzügen reiste, Erfahrungen gesammelt, der Blick auf vorüberziehende Lichtinseln draußen vor dem Fenster, dann wieder auf das entspannte Gesicht eines unbekannten Reisenden, der träumte. So schnell sich die Augen eines Schlafenden öffnen, kann ich meinen beobachtenden Blick niemals verbergen. Vermutlich existiert keine schnellere Bewegung, zu der ein menschlicher Körper in der Lage wäre, als jene Bewegung der Augen, wenn sie sich öffnen. Erstaunlich ist darüber hinaus, dass diese in Bruchteilen einer Sekunde entkleideten Augen unverzüglich präsent sind, weil der Blick sogleich anwesend ist und wirkungsvoll, sein Licht, vielleicht deshalb, weil ein Blick noch vor der Öffnung der Augenlider beginnt oder zu Lebzeiten niemals endet. — stop
asmara tigri
lima : 16.01 — Die Frau, die mir sofort eine Geschichte erzählen wird, scheint müde zu sein. Immer wieder fallen für Sekunden ihre Augen zu. Früher Morgen, Tigri hat die Nacht über gearbeitet. Wir sitzen in einem Schnellzug vom Flughafen in die Stadt. Gerade wollte sie noch wissen, warum ich auf dem Notebook einen Film betrachte, der von einstürzenden Türmen des World Trade Centers berichtet. Sie habe, bemerkt Tigri, sechs Stunden lang Briefe sortiert, das heißt, Luftpostbriefe für Inseln, die im Pazifischen Ozean liegen, weil sie eine Spezialistin für Inseln ist, auch für Inseln atlantischer Gebiete, aber vor allem kenne sie sich aus mit Inseln, die Kiribati heißen oder Tonga oder Palau oder Vanuatu. Sie sagt, dass sie diese Namen lieben würde, dass sie Anfang der 70er Jahre in einem Dorf nahe der eritreischen Hauptstadt Asmara geboren worden sei und dass das Dorf im Jahr 1984 wieder aufgebaut werden musste, weil an einem Sonntagabend ein MIG-Flugzeug das Dorf zerstört habe und viele ihrer Freunde getötet. Zu diesem Zeitpunkt lebte Tigri bereits in Westdeutschland. Wenn sie den Namen ihres Dorfes ausspricht, bin ich nicht imstande, das schöne Geräusch in meinem Kopf zu behalten, aber das Wort Asmara kann ich mir merken. Sobald ich das Wort Asmara formuliere, leuchten ihre Augen, also sage ich dreimal Asmara und freue mich über die Wirksamkeit dieses Wortes. Asmara soll eine Stadt hellen Lichtes sein, sage ich, es soll dort immerzu nach Kaffee duften, und Tigri lacht und ich denke, dass das jetzt entweder so ist oder dass das nicht so ist, dass sie jedenfalls das Helle mag und auch den Kaffeeduft. Man spreche Tigrigna dort in ihrer Gegend, sagt Tigri, und ich bemerke, dass ihr ganzer Name selbst in diesem Wort enthalten sei. Wieder lacht die junge Frau, schließt kurz die Augen, erzählt, dass ihr Bruder, ein Gynäkologe, aus den Diensten eines Krankenhauses entlassen wurde, weil man ihn nicht als das behandeln wollte, was er zu sein wünschte. Mein Bruder, wissen Sie, möchte ein König sein. Nun ist er arbeitslos und König. Er ist natürlich schwarz wie ich, genauso schwarz, und schwarz steht den Königen nur in Afrika. Sie macht eine kurze Pause, reibt sich die Augen. Wir sind jetzt allein auf dieser Welt, sagt Tigri, alles ging sehr schnell. Im vergangenen Jahr sei ihr Vater gestorben in Eritrea, ein glücklicher Mensch, ein Busfahrer, ein sehr stolzer Herr. Im Oktober desselben Jahres sei schließlich die Mutter mit dem Flugzeug via Rom nach Frankfurt gekommen. Sie habe, ohne das zu wissen, einen Tumor im Kopf mitgebracht, im Februar war sie dann umgefallen und tot im März. Tigri lehnt ihren Kopf an die Wand des Zuges, schaut aus dem Fenster. Ein heißer, schwüler Morgen. Ob sie den Film ansehen dürfe, will sie wissen.
tonwellenschrauben
echo : 22.18 – Lungerte im Wald unter Louisiana-Moosen. Sturmgeräusche, auch Zikaden waren zu hören gewesen, ihre Flügelstimmen, hell, schrill, gläsern, Tonwellenschrauben. Auf Knien kroch ich bald jagend durchs Unterholz, wollte eines der lockenden Tiere fangen. Anstatt Insekten entdeckte ich Spieldosen, hunderte, ja tausende, kreisende Lärmmaschinen. Sie leuchteten, feuerrot und blau, je nach Höhe oder Tiefe ihres Gesangs. Sobald ich mich näherte, um eines der Wesen zu ergreifen, schossen sie senkrecht in die Luft, ganz so als würden sie über prall gefüllte Druckluftbäuche fürs flüchtende Reisen gebieten. Dann wurde ich wach. Es war Abend geworden. Samstag. Ein Orkan näherte sich von Westen, knisternde Fenster, Frösche schwebten summend vor den Fenstern. Zwei Stunden lang dachte ich über die Erfindung dienstbarer Käfer nach, Gattung, die Stille zu erzeugen vermag, wann immer gewünscht. Ich stellte mir vor, wie sie sich rückwärts über meine Wangen hin zu meinen Ohren bewegen, wie sie ihre kühlen Leiber in meine Gehörgänge versenken, wie sie sich dehnen und strecken, sanft, sanft, bis sie nahezu verschwunden sein werden. Zwei Fühler noch, ein Paar kleinster Augen links, ein Paar kleinster Augen rechts, Dochte, nein, Diodenlichter. Ich hörte nichts. — stop
mantelstille
ubu : 15.07 – Vor wenigen Tagen habe ich einen Spaziergang durch die Stadt unternommen am helllichten Tag. Alles bewegte sich, auch die Straßen, Häuser, Brücken bewegten sich unter den Händen der Arbeiter und ihren hämmernden Werkzeugen. In einem Park wurden Bäume gefällt, billige Jazzmusik in Warenhäusern, Straßenfeger trieben mit Windmaschinen Blätter und Papiere vor sich her, unaufhörlicher Lärm von Ecke zu Ecke. Plötzlich, so im Gehen, versuchte ich mir Stille vorzustellen. Ich dachte, dass ich, wenn ich den Eindruck von Stille erinnern könnte, den Lärm um mich herum vergessen könnte, sozusagen Nichthören, weil das eigentliche Echogeräusch des Lärms, das schmerzt, im Kopf entsteht, ein Geräusch, das ich hoffte, mit einer Idee von Ruhe ummanteln zu können. Es gab kein Entrinnen. Ich muss das weiter üben. — stop
staten island ferry : blizzard
papille : 16.28 — Eigenartig, das Verhalten der Papiere, das Verhalten meiner Hände, meiner Bleistifte. Seit ich wieder stundenweise mit einfachsten Werkzeugen notiere, mit Werkzeugen, die ohne Elektrizität funktionieren, der Verdacht, dass von eigensinniger Natur ist, was ich auf kleinere oder größere Zettel schreibe. Meine Wörter wollen sich nicht auf Linien legen, sie wollen fliegen, weshalb sie über den Zeilen aufwärts steigen. An einem anderen Tag, wieder einem Tag ohnmächtiger Horizonte, sinken sie, ohne dass ich präzise sagen könnte, warum es an dem einen Tag aufwärts und an dem anderen Tag abwärtsgehen will, immerhin war jeweils nur ein wenig Schlaf zwischen da und dort zu verzeichnen gewesen. Auch mit den Buchstaben habe ich Mühe, mal bricht die Bleistiftspitze, dann wieder ist ein Zeichen gemalt, das man doch eher für ein ganz anderes halten möchte. Die Buchstaben Z und G sind besonders widerspenstige Gestalten, und das S und das A machen schon immer, was sie wollen. Dagegen sind das I und das M an jedem meiner Arbeitstage zuverlässige Erscheinungen, Welle und Giraffenhals, schlicht und weich. Ich nehme das jetzt, gerade wie es kommt, in aller Ruhe. — stop
tiefenschatten
~ : oe som
to : louis
subject : SCHATTEN
date : aug 18 11 5.12 p.m.
Seit zwei Tagen bereits keine Nachricht aus der Tiefe. Wir hören Noes Atem, wir verzeichnen das Gewicht seines Taucheranzuges an der Winde des Schiffes. Noe ist noch bei uns, aber kein Wort zu hören von Noe. Weder antwortet er auf Fragen noch folgt er unserem Wunsch, er möge doch weiter lesen in Tony Morrisons Roman Jazz. Wir hatten das Buch am vergangenen Montag zu ihm in die Tiefe geschickt. Noe las noch an demselben Abend drei Stunden, dann war er eingeschlafen. Seither schweigt Noe, weshalb Miller sich vor Stundenzeit zur Inspektion auf den Weg nach unten begab. 2 Fuß in der Minute, schneller geht das nicht, schneller würde Miller das Leben kosten, wir müssen uns gedulden. Fünf Stunden noch, dann wird Miller Noe erreichen, eine spannende Situation, vielleicht wird auch Miller dann schweigen, das ist denkbar, eine beunruhigende Vorstellung wie unsere beiden Tiefseemänner schweigend in der Düsternis schweben, wie sie sich vielleicht unterhalten werden in der Zeichensprache der Taucher. — Habe ich Dir, lieber Louis, berichtet, dass es vor wenigen Tagen schneite? Noch nie habe ich Schnee auf offener See beobachtet. Seemöwen jagen dicht über die Wasseroberfläche hin. Es sieht so aus, als würden sie Flocken fangen, mächtige Tiere, gelbe Schnäbel, hellbraune Flügel. Sie wirken in etwa verkleidet, Möwenvögel, die sich in Kostümen junger Habichte bewegen, ihre schrillen Rufe, ein weiteres Dutzend sitzt auf unserem Funkturm, Eiszapfen haben sich gebildet, Wolken kommen näher, berühren das Wasser. Miller ist in diesem Moment auf fünfhundert Fuß Tiefe angekommen. Unter ihm, meldet Miller, sei in der Dunkelheit Noe zu erkennen, das Licht seiner Lampen. Ein gewaltiger Körperschatten soll vor ihm zu sehen sein. Ich melde mich bald wieder. Dein OE
gesendet am
18.08.2011
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