tango : 2.15 — Kurz nach Mitternacht beginnt es zu schneien. Sitze mit Schreibmaschine vor dem Fenster und übe das Fangen einzelner Flocken mit den Augen. Ich mache das genau so, wie ich’s als Kind schon machte, aber die Lichtpelze dieser Stunden fallen aus der Dunkelheit, während sie sich damals aus hellen Wolkenräumen lösten, deren Tiefe nie zu ermessen gewesen war. — Eine seltsame Nacht ist das heute. Ich habe eigentlich viel zu tun, und doch sitze ich hier am Fenster und schaue himmelwärts und denke an Salinger, an den großen geheimnisvollen Schriftsteller, der gestern gestorben sein soll. Ich hatte vor wenigen Wochen noch einen Ballon in meine Spazierkarte der Stadt New York eingetragen, um ein Gebäude in der 71. Straße West zu markieren, das Hotel Alamac genauer, Handlungsort der Geschichten um Franny und Zooey. Ich dachte mir, hier wirst Du einmal in den kommenden Jahren für Tage lungern und notieren und warten, auf J.D. Salinger warten, darauf warten, dass Dir der alte Mann erscheinen möge. Und so wird das nun also anders werden. Aber wirklich merkwürdig ist folgende Einsicht, die ich gewonnen habe in den vergangenen Stunden. Menschen, die so bescheiden lebten, dass man sie für nicht wirkliche Wesen ansehen konnte, werden wahrhaftig, werden lebendig, sobald man ihr Lebensende meldet. – Und jetzt wieder der Himmel und sein Licht. Zwanzig Uhr zwölf in Port-au-Prince, Haiti. — stop
Aus der Wörtersammlung: mann
papiere
tango : 0.05 — Gestern Abend, kurz vor sechs Uhr war es gewesen, bin ich einem seltsamen Mann begegnet, und zwar in einer U‑Bahn Downtown. Aber das spielt für die kleine Geschichte, die ich rasch erzählen möchte, nicht wirklich eine Rolle, ich meine, zu welcher Zeit wir in welche Richtung gemeinsam fuhren. Bedeutend war vielmehr gewesen, dass ich es nicht eilig hatte, genau genommen hatte ich so viel Zeit zur Verfügung wie seit Wochen nicht, weshalb ich den Geräuschen meines Herzens lauschte und dem Rascheln der Zeitungspapiere, die zu jenem seltsamen Mann gehörten. Er saß gleich vis-à-vis, die Beine übereinander geschlagen. Ich hatte den Eindruck, dass er sich freute, weil ich staunend beobachtete, wie er Zeitungen durchsuchte, die sich auf dem Sitzplatz neben ihm türmten, und zwar in einer sehr sorgfältigen Art und Weise durchsuchte, jede der Zeitungen Seite für Seite. Er schien Übung zu haben in dieser Arbeit, seine Augen bewegten sich schnell und ruckartig, wie die Augen eines Habichts. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, sein Kopf neigte sich dann leicht nach vorn, um, mit einer Schere, einen Artikel oder eine Fotografie herauszuschneiden. — Das Rascheln des Papiers. — Das helle, ziehende Geräusch der Schere. — In dem ich den Mann beobachtete, erinnerte ich mich, dass ich selbst einmal Monate damit zugebracht hatte, den Ungerechtigkeiten dieser Welt mit einem Archiv von Beweisen zu begegnen, deren eigentliche Substanz jenseits der Titelzeile ich später nie gelesen habe, weil es zu viele gewesen waren. — Montag ist geworden und die Famen und Cronopien singen traurige Lieder durch die Nacht.
parachute jump
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : PARACHUTE JUMP
Jonathan, bester Freund, wie es Ihnen wohl gehen mag? Haben Sie Weihnachten unter Tannen in einem Zelt verbracht? Haben Sie vielleicht vergeblich versucht, mich zu erreichen? War verreist für ein paar Tage, hatte eine gute Zeit. Reisen, das ist wie träumen, verstehen Sie! Als ich eines Morgens, noch schlaftrunken, in meine Wohnung zurückkehrte, blühten vor den Fenstern Kakteen. Sie dufteten, wie nur Kakteen duften, süß und kräftig, und ich wunderte mich, wie das gekommen sein mag, alle zur selben Zeit, alle im Winter. Eine Nachricht war da noch auf Band gesprochen. Mrs. Monterey erzählt, sie habe in ihrem Hotel im Bear State Park, einem Wanderer ein Zimmer vermietet, einem Mann, groß und schweigsam. Dieser Mann soll Ihnen, lieber Kekkola, derart ähnlich gewesen sein, dass Sie’s höchstpersönlich gewesen sein müssen. Das will ich nun glauben, wünschen, hoffen Kraft meiner Kinderseele. Kein Wort habe der Mann gesprochen, stattdessen seltsame Zeichen in die Luft geschrieben. Ich kenne diese Zeichen! Die Sprache der Taucher! Und wenn ich das in dieser Weise schreibe, werter Jonathan, werden Sie schon einsehen, dass es sinnlos ist, so zu tun, als seien Sie nicht mehr am Leben. Bald wirds meterhoch schneien und wir werden alle untergehen. Erwarte Sie am Strand von Coney Island, Höhe Parachute Jump / 2. Mai 3 pm. – Ihr Louis, Ihr Schneemann.
gesendet am
6.01.2010
22.50 MEZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
central park
tango : 0.10 – Man lässt sich abends treiben, sitzt mit Schreibmaschine auf dem Sofa, schaut Regen zu, liest da einen Satz und dort einen Satz, und wartet darauf, dass sich der Kopf endlich entfalten möge. — Einmal suchte ich nach Spuren zweier Eichhörnchen, nach Billy, nach Frankie, und landete im Central Park im Winter, und zwar im Jahre 1902. Genau genommen landete ich in einem magischen Film, der von Mitarbeitern der Thomas Alpha Edison Inc. bei Eis und Schnee aufgenommen worden war. Ich stellte mir vor, wie die Kälte das Öl der Kamerakurbel fester werden ließ, sodass ein Pfeifen zu hören gewesen sein könnte und der Kameramann fröstelte. Ja, so genau muss das gewesen sein, weswegen der kleine Film, festgehalten in einer Zeit lange vor meiner Zeit, auch heute noch zu beben scheint. Ich muss ihn noch finden. — stop
napapiin
india : 6.22 — Schaute gegen den Himmel. Bemerkte, dass sich die Dunkelheit wie eine Flüssigkeit verhielt. Vögel hüpften in dieser feuchten Lichtlosigkeit in Kastanienbäumen von Ast zu Ast, ein traumartiges Bild. Vielleicht habe ich etwas gesehen, das ich nur deshalb beobachten konnte, weil ich ohne jeden Grund auf der Straße stand, wie aus einem Versehen heraus, ein Mann, der die falsche Tür genommen hatte. Jetzt, etwas später, ahne ich, dass ich dort vor dem Haus gelandet war, weil ich insgeheim wünschte, mit meinen Gedanken an den gewaltsamen Tod eines Torhüters, unter freiem Himmel zu stehen. Und wie ich so wartete, hörte ich die Stimme seiner mutigen, jungen Frau in meinem Kopf, eine Stimme, die versuchte, von all dem Wahnsinn, dem Wahnsinn des Verheimlichens zu sprechen. Da war einmal ein Mensch gewesen, der nicht weiterleben konnte, der sterben musste, weil er seine Verletzlichkeit, seine Schwäche, seine Menschlichkeit nicht zeigen durfte oder glaubte, sie nicht zeigen zu dürfen. So könnte das gewesen sein. Ein Mensch, der lange Zeit über Wasser hastete. So weit ist er gelaufen, dass kein Land mehr zu sehen, kein Laut mehr zu hören gewesen war. — 2 Uhr und fünfzehn Minuten. Die Welt dreht sich, um einen Atemzug langsamer geworden, weiter, immer weiter. Soeben wurde amtlicherseits die Öffnung folgender Weihnachtspostämter, nördliche Hemisphäre, bekannt gegeben: Nordpol-Grönland Santa Claus Nordpolen, Julemandens Postkontor DK-3900 Nuuk / Finnland Santa’s Main Post Office FIN-96930 Napapiin / USA Santa Claus Indiana 47579.
kakaduzwerge
ginkgo : 6.55 – Ein schläfriger Mann sitzt in diesen Minuten mit einer Schreibmaschine auf dem hölzernen Boden seines Arbeitszimmers. Habe zuletzt zwei Stunden in Christoph Ransmayrs letzter Welt gelesen, in einem Buch, das ich immer dann zur Hand nehme, wenn mir die Sprache müde zu werden scheint. Der Mai kam blau und stürmisch. Ein warmer, nach Essig und Schneerosen duftender Wind fraß die letzten Eisrinden von den Tümpeln, fegte die Rauchschwaden aus den Gassen und trieb zerrissene Girlanden, Papierblumen und die öligen Fetzen von Lampions über den Strand. (Christoph Ransmayr). Kaum hatte ich das Wort Schneerose zu Ende gelesen, stand ich auf und wartete erhitzt zwei oder drei Minuten vor meinem Aquarium. Dort wohnen seit einigen Monaten Wälder und Fische, die mich im Zwielicht schwebend, Stunde um Stunde beobachten. Einmal, gegen Zwei, entfaltete ich einen Stadtplan New Yorks. Das machte sie wild. Dann wieder Ruhe. Flossenfäden. Flugdrachenschwänze. Und dieser Mann, dieser schläfrige Mann, der sich wieder und wieder nähert. Seine Freude, dass ihn das Wort Schneerose, indem es dem Wort Essig folgte, derart begeisterte, dass ihm warm wurde, feurig und alle diese Dinge. Aber natürlich, aber natürlich erneut die Frage, ob meine Kakaduzwerge mich als einen der ihren, als einen Fisch betrachten. — Guten Morgen!
peter bichsel : lesen macht arbeitsunfähig
marimba : 3.28 – Ich habe die Filmstimme eines Schweizer Schriftstellers gehört, den ich seit vielen Jahren sehr gerne lese, weil seine Sätze in meinem Kopf ein Gefühl von Klarheit, Freiheit und angenehmer Kühle bewirken. Ich weiß, dass das natürlich Unsinn ist, weil ich mit meinem Gehirn unmittelbar keine Temperaturen wahrzunehmen vermag, und doch immer wieder der Eindruck polarer Luft, ein Knistern. Der Mann, von dem ich spreche, heißt Peter Bichsel. Er fährt gern ziellos in Zügen herum, weil er in Zügen ausgezeichnet notieren kann. Ich stelle mir vor, wie die Menschen des Zuges, Landschaften, Schienen, Schwellen, Abteile, unmerklich zu Teilen einer besonderen Schreibmaschine werden. Als Kind, erzählt Peter Bichsel, habe er sich darauf gefreut, ein alter Mann zu sein. Er habe damals nicht gewusst, dass ein Großvater nicht ewig ein Großvater bleibe, sondern das Leben noch älter wird, und der Großvater dann stirbt. — stop
blaue kamele
tango : 3.28 – Wie wir auf den Schultern unseres Vaters durch die Welt schaukelten, als säßen wir auf dem Rücken eines Dromedars, das die menschliche Sprache sprechen konnte. Wie er uns das Licht erklärte, die Geschwindigkeit und die Zeit, die das Licht unterwegs gewesen war, um zu uns zu kommen. Seine großen Schuhe, in welchen wir durch den Garten segelten. Und Gene Kruppa, Drummerman, dort, noch lange vor unserer Zeit, Vater, mit Schlips im Anzug als junger Mann. Heute Nacht erzählen wir uns Geschichten. Und schon ist es kurz nach zwei Uhr geworden. Ich habe ganz heimlich meine Schreibmaschine angeschaltet, um eine weitere kleine Geschichte aufzuschreiben, weil Geschichten auf Papier oder Geschichten, die man von einem Bildschirm lesen kann, wie alle anderen Geschichten als leise betende Stimmen zu vernehmen sind. Diese Geschichte nun geht so. Immer an Freitagen, ich war fünf oder sechs Jahre alt gewesen war, brachte mein Vater aus dem Institut, in dem er als Physiker arbeitete, Karten mit nach Hause, die ich bemalen durfte, Computerlochkarten, kräftige, beige Papiere, in welchen sich seltsame Löcher befanden. Diese Löcher waren niemals an derselben Stelle zu finden, und ich erinnere mich, dass ich mich über ihr Verhalten heftig wunderte. Ich war zu jener Zeit ein begeisterter Maler, ich malte mit Wachskreide und ich malte in allen Farben, über die ich verfügen konnte, weil ich das Buntsein schon immer mochte. Ich malte blaue Kamele und schwarze Blumen und rote Monde. Einmal fragte ich meinen Vater, was jene Löcher bedeuteten, über deren Existenz ich mich freute, weil sie versteckte Bilder zeigten, die ich so lange suchte, bis ich sie gefunden hatte. Hör zu, sagte mein Vater. — stop
lichtbilder
echo : 0.01 – In den Magazinen meiner Computermaschine existieren zwei Ordner, welche Fotografien versammeln, die mich beunruhigen oder in Begeisterung, in Staunen versetzen. In der einen Ordnerabteilung Fotografien, die schmerzen, auch deshalb schmerzen, weil sie nicht gezeigt werden dürfen aus meiner Sicht. Eine dieser Fotografien präsentiert eine junge Frau, die in der Stadt Moskau auf einer Straße liegt. Sie wurde, so erzählen Texte, die in der Nähe der Fotografie anzutreffen sind, von Scharfschützen erschossen, weil sie damit drohte, sich in die Luft zu sprengen. Eine Trophäe, so sieht das aus, ein Bild, das existiert. Was mache ich mit diesem Bild? — In der anderen Abteilung meiner Sammlung warten Fotografien, die mich gleichwohl beunruhigen, Fotografien, die ich vorzeigen könnte, weil sie nicht Teil einer Drohung sind. Eine dieser Fotografien, die mich schon lange Zeit in Gedanken begleitet, beleuchtet einen alten Mann in dem Moment, da er Reparaturarbeiten an sich selbst ausführt. Eine Aufnahme, die ich als präzise, als zärtliche, als behutsame Aufnahme wahrnehmen kann. Ich stellte mir vor, dass der alte Mann kurz innehält, dass er den Kopf dreht, mich ansieht und das Wort NEIN ausspricht. Wie ich sogleich meine Augen schließe. — stop
kapriole
sierra : 6.15 — Ich erwachte, weil ich Schritte hörte, tanzende Füße in Tanzschuhen auf Parkett. Unmöglich, dachte ich, so etwas geht doch nicht. Ich machte Licht und hüpfte aus dem Bett. Wie ich so im geräumigen Hotelzimmer stand, bemerkte ich, die Geräusche der Schuhe kamen nicht von oben, sondern von unten her, weshalb ich eine Treppe abwärts vor verdächtiger Türe energisch klopfte, weshalb mir geöffnet wurde, weshalb ich unverzüglich in ein höchst seltsames Zimmer trat. Tisch und Stühle und Bett und weitere kommode Dinge befanden sich dort an der Decke. Ein Mann, sehr fein gekleidet, ein Tänzer im dunklen Anzug grüßte kopfüber zu mir herunter. Er sagte, angenehme Stimme: Guten Morgen, mein Herr! Sie sind wohl einer, der an der Decke zu gehen vermag. — stop