Aus der Wörtersammlung: not

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am telefon

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nord­pol : 15.15 UTC — Merk­wür­dig: Im Notie­ren kom­men Gedan­ken und Fra­gen wie Vogel­schwär­me her­an, zunächst kommt ein Gedan­ke allein und setzt sich und war­tet und schaut mich an. Dann kommt der nächs­te Gedan­ke, der schon zu zweit ist. — In der ver­gan­ge­nen Nacht träum­te ich von mir selbst. Ich saß in einem Roll­stuhl mit vie­len wei­te­ren alten Men­schen in einem Saal groß wie der War­te­saal eines Metro­po­len­bahn­ho­fes. Immer­zu woll­te ich tele­fo­nie­ren, ein klin­geln­des Tele­fon war zwar sicht­bar, aber nicht erreich­bar. Ich hör­te mei­ne Stim­me. Sie rief: Nun rufen Sie doch end­lich Mon­sieur Proust an, haben Sie denn sei­ne Num­mer nicht! Eine jun­ge, betö­rend schö­ne Frau beug­te sich zu mir hin­un­ter. Sie sag­te: Lou­is, bit­te, es ist jetzt wirk­lich genug, wir haben den Vor­mit­tag über ver­sucht Herrn Proust zu errei­chen, er nimmt den Hörer nicht ab. Aber der Bal­zac ruft andau­ernd an, wol­len sie nicht end­lich dran gehen! — Heut Regen, nas­se Vögel über­all. — stop

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von birnen

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nord­pol : 15.01 UTC — In der chi­ne­si­schen Regi­on Sichu­an, einer hüge­li­gen Gegend, sol­len hun­der­te Men­schen auf Lei­tern in Bir­nen­bäu­me stei­gen, um sie mit­tels Enten­fe­der­bü­scheln mit Pol­len zu bestäu­ben. Das alles sei not­wen­dig gewor­den, weil weder Bie­nen noch Hum­meln exis­tie­ren, die von Pes­ti­zi­den getö­tet wor­den sei­en. Die­se Infor­ma­tio­nen habe ich einem Film ent­nom­men, des­sen Ein­zel­bil­der ich mit eige­nen Augen gese­hen habe. Ich woll­te ihn mei­ner Mut­ter zei­gen. Sie liegt seit lan­ger Zeit in einem Bett im Haus der alten Men­schen. Vor­sich­tig näher­te ich mich mit mei­ner fla­chen Bild­schirm­schreib­ma­schi­ne, aber sie woll­te ihre Augen nicht öff­nen. Des­halb erzähl­te ich ihr mei­ne Geschich­te von den mensch­li­chen Bie­nen, die in Birn­bäu­me stei­gen, und kann noch immer nicht sagen, ob sie in den Ohren mei­ner Mut­ter einen Platz fin­den konn­te. — stop

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nabokovs uhr

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romeo : 0.02 UTC — Vor eini­ger Zeit schrieb Nabo­kov einen Brief. Er habe mir, so Nabo­kov, eine unge­wöhn­liche Uhr geschickt, ich sol­le ihm notie­ren, sobald sie ange­kommen sei. Weni­ge Tage spä­ter mel­de­te sich Nabo­kov erneut: Lie­ber Lou­is, ist die Uhr, die ich Dir sen­de­te, ange­kommen? Weni­ge Tage zuvor war Nabo­kovs Uhr in mei­nem Brief­kasten ange­kom­men, zoll­amt­li­cher Ver­merk: Zur Prü­fung geöff­net. Ich will an die­ser Stel­le bemer­ken, von der Öff­nung des Päck­chens war nicht die min­des­te Spur zu erken­nen, kein Schnitt, kein Riss, kei­ne Fal­te. Im Päck­chen nun eine Schach­tel von hel­lem Kar­ton, in der Schach­tel Seiden­pa­piere, von Nabo­kovs eige­ner Hand vermut­lich zer­knüllt. In wei­te­re Seiden­pa­piere einge­schlagen, besag­te Uhr, wunder­bares Stück, ova­les Gehäu­se, ble­chern, vermut­lich Trom­pete, wel­ches schwer in der Hand liegt. Kurio­ser­weise fehlt der Uhr das Ziffer­blatt, wei­ter­hin kei­ner­lei Zei­ger, weder Dioden noch Leucht­zei­chen. Ich ver­such­te, das Gehäu­se der Uhr zu öff­nen, vergeb­lich. Erstaun­lich ist, dass, wenn ich auf das Gehäu­se der Uhr Druck aus­übe, sich ein schma­ler Schacht seit­lich öff­net, dem, wie zum Beweis der Exis­tenz der Zeit, ein Strei­fen feins­ten Papiers ent­kommt, auf wel­chem ein Uhrzeit­punkt aufge­tragen wor­den ist. Sechs­sieb­zehn­zwölf. Erstaun­li­che Sache, wirk­lich erstaun­lich! – stop

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bald winter

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tan­go : 22.58 UTC — Ein­mal dach­te ich über einen Winter­käfer nach­. Aber anstatt einen Win­ter­kä­fer zu fin­den, war mir ein ande­res Käfer­we­sen in den Sinn gekom­men. Die­ser, noch immer namen­lose Käfer, soll­te ohne Aus­nah­me paar­weise erschei­nen, weich sein wie eine Schne­cke und von der Körper­tem­pe­ratur der Men­schen und genau­so groß, dass er sich in die Augen­höhle eines Schla­fenden zu­ schmie­gen ver­mag. Ich notier­te, man wür­de an die­ser Stel­le viel­leicht mei­nen, der Käfer wür­de sich mit sei­ner Wir­kung als Nacht­schirm begnü­gen, statt­dessen woll­te er sich sacht bewe­gen und in die­ser Wei­se in Bewe­gung sehr entspan­nende Polar­licht­spiele von mil­der, beru­hi­gender Lumi­nes­zenz erzeu­gen. – Wäh­rend ich die­se Zei­len, die ich leicht ver­än­dert habe, damals sen­de­te, hör­te ich von der Nach­richt, Bena­zir Bhut­to sei von einem Selbst­mord­at­ten­täter getö­tet wor­den. – stop
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von herzohren

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oli­mam­bo : 2.22 UTC — Ein­mal stu­dier­te ich das Wesen der Schmeck­knospen, außer­dem eine anato­mi­sche Geschich­te, die sich mit dem Wort Schmeck­knospen ver­bin­det. Der Him­mel blitz­te, ohne Don­ner, kaum Regen. Ich atme­te mit Vor­sicht, die Luft duf­te­te nach Schwe­fel. Wäh­rend ich las, bemerk­te ich, dass ich auch im Lesen sehr lang­sam gewor­den bin. Manch­mal lese ich so lang­sam, dass ich nicht Satz für Satz, son­dern Wort für Wort vor­wärts lese, jedes Wort, sagen wir, wahr­nehme, wie es ist. Wäh­rend ich insge­samt lang­samer wer­de, schei­nen vie­le Men­schen um mich her schnel­ler zu wer­den, sie lesen immer schnel­ler, und sie lie­ben immer schnel­ler, und sie schrei­ben immer schnel­ler, und ihre Schu­he fal­len ihnen vom rasen­den Gehen immer schnel­ler von den Füßen. Und Ihre Woh­nun­gen wech­seln Stadt­men­schen so rasant wie frü­her ande­re Per­so­nen ihre Zim­mer in Hotels. Ich kann nicht sagen, ob ich nicht viel­leicht schon viel zu lang­sam gewor­den bin für das moder­ne Leben. Sicher ist, ich spre­che noch immer viel zu schnell, auch für sehr schnel­le Men­schen spre­che ich viel zu schnell. Wenn ich von Herz­ohren sehr schnell erzäh­le, fällt nie­man­dem auf, dass ich von Herz­ohren erzähl­te, man glaubt, ich erzähl­te von Her­zen und ande­rer­seits von Ohren. Ein­mal wan­der­te ich sehr lang­sam von einem Zim­mer in ein ande­res. Ich beob­ach­tete mit gro­ßer Freu­de, dass ich in mei­ner Haut alles das, was not­wen­dig für das Leben sein wür­de, von dem einen Zim­mer, in dem ich aus dem Fens­ter geschaut hat­te, in das ande­re Zim­mer, in dem ich ein wei­te­res Buch lesen woll­te, mit mir genom­men hat­te, nichts blieb zurück. – stop

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notiz

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nord­pol : 15.08 UTC — Neh­men wir ein­mal an, es wäre mög­lich, die Geschwin­dig­keit mei­nes Den­kens für einen Tag mei­nes Lebens zu bestim­men, etwa so, als wür­de ich die Dreh­ge­schwin­dig­keit einer Schall­platte durch das Umle­gen eines Hebels vari­ieren. Wür­de ich mich beschleu­nigen oder wür­de ich mich brem­sen? Ein Wort soll­te denk­bar sein und aus­sprech­bar. War­um? — stop

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joyce carol oates

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ulys­ses : 15.08 UTC — Neh­men wir ein­mal an, dem ursprüng­li­chen Code einer Seeane­mone wür­de ein wei­te­rer Code hinzu­ge­fügt, eine sehr kur­ze Stre­cke nur, sagen wir Joy­ce Carol Oates Erzäh­lung Nackt mit­tels Nukleo­ba­sen­paaren notiert. Was wür­de gesche­hen? Inwie­fern wür­de Joy­ce Carol Oates Text Wesen oder Gestalt einer Seeane­mone berüh­ren? Wür­de der Text von Seeane­mone zu Seeane­mone weiter­ge­reicht, wür­de ihr Text sich schritt­wei­se verän­dern, wür­de er viel­leicht ent­lang der Küsten­li­nien wan­dern? Seit Dezem­ber 2014, ich hat­te wie­der ein­mal geträumt, sind mensch­liche Per­so­nen denk­bar, die nur zu dem einem Zweck exis­tieren, näm­lich Ohren, ein gutes Dut­zend wahl­weise auf ihren Armen oder Schul­tern zu tra­gen, um sie gut durch­blu­tet so lan­ge zu konser­vieren, bis man sie von ihnen abneh­men wird, um sie auf eine wei­te­re Per­son zu ver­pflan­zen, die eine gewis­se Zeit oder schon immer ohne Ohren gewe­sen ist. Unheim­liche Sache. Unheim­lich nach wie vor. – stop

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einmal*

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echo : 22.58 — Ein­mal dach­te ich einen voll­stän­di­gen Tag ent­lang über die Grö­ße kleins­ter Schrift­zei­chen nach, die von einer mensch­li­chen Hand frei auf Papier gezeich­net sein könn­ten. Nachts träum­te ich von einem Jun­gen, der eine Appa­ra­tur pro­bier­te, die in der Lage sein soll­te, die Kör­per­tem­pe­ra­tur einer Frucht­flie­ge zu mes­sen. Wann sich die­ser Tag prä­zi­se ereig­ne­te, kann ich nicht mit Gewiss­heit sagen, da ich mei­ne Noti­zen auf einem Zet­tel schrieb, den ich hin­ter einem Schrank ent­deck­te. Ich weiß hin­ge­gen prä­zi­se, dass ich den Zet­tel vor zwei Wochen wie­der­ge­fun­den habe. Es kommt mir nun so vor, als hät­te sich der auf dem Zet­tel ver­zeich­ne­te Tag der Über­le­gung kleins­ter Schrift­zei­chen erst ges­tern ereig­net. — stop

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ein fahrrad

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whis­key : 5.16 UTC – Ein­mal, vor fünf Jah­ren sprach ich mit Mar­tha, die kürz­lich gestor­ben ist, über das Ver­ges­sen oder Ver­gess­lich­keit. Sie sag­te, dass man, wenn man wirk­lich vergess­lich wird, die­se Vergess­lich­keit nur dann bemerkt, wenn man dar­auf auf­merk­sam gemacht wird. An Tagen, da sie sich allein in ihrer Woh­nung auf­hal­te, kön­ne sie ver­ges­sen, soviel sie wol­le, es wür­de ihr selbst nicht und nie­mand ande­rem auf­fal­len, dass sie eigent­lich einen Film betrach­ten woll­te, aber auf dem Weg zum Fern­seh­gerät plötz­lich ein Buch auf dem Tisch ent­deck­te, wes­halb ihr Film­wunsch ver­lo­ren ging. – Lie­be Mar­tha, notier­te ich, Du hast ver­säumt, nach einem Text zu suchen, von dem ich Dir erzähl­te. Ich sen­de die­sen Text noch ein­mal und rufe Dich gleich an, damit Du ihn für mich vor­le­sen wirst. Hier ist der Text, den Mar­tha damals ver­mut­lich noch wahr­ge­nom­men hat­te. Er geht so: Eines der letz­ten beweg­ten Bil­der, die ich von mei­nem Vater in Erin­ne­rung habe, zeigt ihn, wie er in sei­nem Arbeits­zimmer am Com­pu­ter arbei­tet. Auf dem Bild­schirm sind dut­zen­de Programm­fenster geöff­net. Der alte Mann sitzt fast bewe­gungslos in sei­nem Ses­sel. Manch­mal tas­tet eine Hand durch die Luft, greift unsi­cher nach einem Glas Milch, bald stellt sie das Glas wie­der auf den Tisch zurück. Ich sehe einen Zei­ger über den Bild­schirm fah­ren. Ein wei­te­res Programm­fenster öff­net sich. Ein klei­nes Mäd­chen fährt in die­sem Fens­ter auf einem Fahr­rad über einen san­di­gen Weg. Sie bewegt sich in Schlan­gen­li­nien dahin, lacht hoch zur Kame­ra, die rück­wärts durch die Luft zu flie­gen scheint. Es ist ein hei­te­rer Film. Sobald der Film zu Ende ist, spielt ihn mein Vater von vorn ab. Aber dann öff­net sich wie von Geis­ter­hand noch ein Fens­ter, das den hei­te­ren Film ver­deckt. Eine Foto­grafie, Mut­ter nahe Lis­sa­bon an einem Strand. Neben ihr liegt der Mann, der vor dem Com­pu­ter sitzt, im Sand. Er trägt Turn­schuhe. Auch mei­ne Mut­ter trägt Turn­schuhe. Ich frag­te mich, wer die­se Auf­nah­me mach­te, und kom­me nicht dar­auf. Ein Schat­ten ist zu erken­nen, der Schat­ten eines Foto­grafen viel­leicht. In die­sem Moment ruft die Frau, die auf der Foto­grafie zu sehen ist, von unten, vom Wohn­zimmer her, dass das Mittag­essen bald fer­tig sei. Wie nun mein Vater sich an die Arbeit macht, alle Fens­ter, die er im Lau­fe des Vormit­tages geöff­net hat­te, wie­der zu schlie­ßen. Nein, alles muss aufge­räumt wer­den. Mein Vater steht nicht ein­fach auf, um sich sofort unsi­cheren Schrit­tes auf die Trep­pe zu wagen. Ich sehe, wie sich der Zei­ger auf dem Bild­schirm den Rah­men der Programm­fenster nähert. Er scheint das Sym­bol für das Schlie­ßen der Fens­ter zu suchen, aber das Sym­bol ist nicht zu entde­cken, nicht zu erken­nen. Der Zei­ger irrt auf dem Bild­schirm her­um, Fens­ter drän­gen sich in den Vorder­grund und ver­schwin­den wie­der. Dann kommt Mut­ter her­bei, sie ruft zärt­lich: Komm, komm, das Essen ist fer­tig. Schrit­te auf der Trep­pe. Das Geräusch der Bestecke. Das Zwit­schern der Vögel vom Gar­ten her. Im Zim­mer auf dem Schreib­tisch ist der Com­pu­ter längst einge­schlafen. – stop

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im garten. winter

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echo : 22.18 UTC — In einem Gar­ten sehen wir an die­sem Nach­mit­tag in der war­men Novem­ber­son­ne eine älte­re Dame knien. Mit­tels einer hand­li­chen Schau­fel gräbt sie zunächst einen schma­len Schacht, kurz dar­auf legt sie in den schma­len Schacht einen leb­lo­sen Vogel ab, dann ver­schließt sie den Schacht und mar­kiert das Gebiet, in wel­chem das Vögel­chen zu fin­den ist, mit einer Zif­fer, die sie aus fei­nen Stei­nen bil­det. Jetzt erhebt sie sich. Steht für einen Moment still, wir fol­gen ihrem Blick, der über zahl­lo­se Grä­ber der ver­gan­ge­nen Jah­re wan­dert. Rei­se und Leben der Vögel ende­te an einem Wohn­zim­mer­fens­ter des Hau­ses der alten Dame, das noch nie zer­bro­chen ist. In der Küche, in einer Schub­la­de, ruht ein Notiz­buch. Dort sind sorg­fäl­tig Num­mer der Grä­ber mit inne­woh­nen­den Vogel­gat­tun­gen ver­zeich­net: Sper­ling, Mei­se, Schwal­be, Dom­pfaff, Grün­ling, Rot­kehl­chen. Amseln feh­len. Aber zwei Igel sind da noch, sie sind nicht am Fens­ter zugrun­de gegan­gen, beer­digt wur­den sie trotz­dem. — stop
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