sierra : 3.32 — An einer anderen Stelle habe ich bereits von meinem Wunsch erzählt, man möge auf meiner letzten Ruhestätte einmal ein Windrad errichten. Ich hatte notiert, das Rad, indem es rotierte, könnte Strom erzeugen. Mittels eines Kabels würde dieser Strom zu einer Batterie unter die Erde geführt und ein Musikabspielgerät in Bewegung gesetzt, um etwas Charlie Parker oder Benny Goodman zu spielen. Eine faszinierende Vorstellung immer noch, eine Idee, die mich in Gedanken jedes Mal gegen einen Zeitraum führt, der nicht ganz einfach vorzustellen ist, weil ich in ihm nicht wirklich vorkommen werde, es sein denn als eine Person, die man zu den Toten zählt. Man wird vielleicht irgendwann einmal sagen, dieser hier, der dort unter Erde liegt, war einer, der zur Lebenszeit die Idee verfolgte, ein Windrad auf seinem Grab zu errichten. Sein Name ist Louis gewesen, er konnte sich vorstellen, wie das Windrad sich drehen wird und Strom erzeugen, aber er konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie es sein wird, in der Nähe dieses Windrades ohne Leben zu sein. Gerade fällt mir ein, dass ich einmal hörte, es werde vielleicht bald möglich sein, das Wissen, das Bewusstsein, das Wesen einer Person in das digitale Gehirn eines Computers zu übertragen. Demzufolge ist denkbar geworden, neben organischen Bestandteilen eines Verstorbenen sein Bewusstsein beizusetzen und mittels eines Windrades mit Strom zu versorgen. Wenn nun Windstille herrschte, würde das Bewusstsein schlafen, und wenn es stürmisch geworden ist, da draußen, da oben im Herbst, beispielsweise, würde es im rasenden Denken vergehen vor Glück. – Es ist kurz nach drei Uhr. Automobile der Polizei schleichen in Kolonnen mit Blaulicht durch die Straße, in der ich wohne. — stop
Aus der Wörtersammlung: rasen
seltsame geschichte
india : 5.56 — Seit einigen Tagen ereignen sich in oder in der Umgebung meiner Schreibmaschine kuriose Dinge. Es geht darum, dass ein Text, den ich am Montag notierte, sich immer dann, wenn ich schlafe, verändert, und zwar zu seinem Nachteil. Fehlerhafte Wörter, die ich bereits korrigierte, kehren wieder oder ich entdecke vollständig neuartige Missbildungen, verdrehte Buchstaben, Worterfindungen, Punkte oder Kommata verschwinden, aus der Farbe ROT wird die Farbe BLAU, aus Schnee wird Regen, aus Kindern werden Greise. Es ist eine eigenartige Situation, ich gestehe, ich beginne mich zu fürchten. Selbstverständlich habe ich mir die Frage gestellt, ob sich vielleicht ein weiterer Mensch, den ich bislang nicht entdeckte, in meiner Wohnung befindet, oder ob ich vielleicht selbst schlafwandelnd mich an meine Schreibmaschine setze. In diesem Zusammenhang könnte die unheimlichste Aussicht der Gedanke sein, dass meine Schreibmaschine selbst oder gar der Text machen, was sie wollen. Von außen jedenfalls ist ihm nicht anzusehen, ob irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung sein könnte. Zur Prüfung, der Text beginnt so: Der Rasen in Zyp’s Garten war ein Teppich von Moos, auf dem immer irgendetwas blühte. Selbst in den kalten Monaten des Winters, wenn es schneite, wenn das Eis an die Küste schindelte, glaubte Zyp Wesley, die Geräusche des Wachsens und Vergehens zu hören aus dem unsichtbaren Raum unter dem Weiß. Er verfügte über ein hervorragendes Gehör, obwohl er seit Jahren Posaune spielte, wohnte deshalb etwas abseits. Das nächste Haus, indem eine Familie mit Kindern siedelte, war etwa zweihundert Meter weit entfernt, hinter einer Anhöhe passierten die Geleise der Staten Island Rail seine Gegend. Man konnte von dort das Scheppern der Subwayzüge leise hören bei Tag und bei Nacht. – stop
PRÄPARIERSAAL : schwärme
tango : 1.16 — Gestern, Punkt 10 Uhr abends, habe ich meine anatomische Tonbandmaschine wieder angeworfen. Ich hörte eine Aufnahme, die ich mit der Beschriftung No 87 versehen hatte. Leider konnte ich mich nicht erinnern, wo das Dokument aufgenommen worden sein könnte, weil ich versäumte, Zeit und Ort des Gesprächs, sowie den Namen der sprechenden Person zu notieren. Eine Frauenstimme war zu hören und das Zwitschern von Vögeln. Die Stimme sprach rasend schnell, als ob sie den Vögeln nacheifern wollte. Mehrfach musste ich die Aufnahme in einem ersten Durchgang anhalten und wiederholen, um verstehen oder erahnen zu können, was die Stimme gesagt hatte. Ich habe ihr einen provisorischen Namen gegeben. Melanie erzählt: > Es ist eine aufregende Zeit. Da sind Schwärme von Gedanken, Geräuschen, Bildern, Gerüchen in meinem Kopf. Ich kann sie jederzeit hervorholen. Manchmal kommen sie von selbst. Ungefragt. Vielleicht darum, weil ich etwas Besonderes erlebe. Oft habe ich schon den Versuch unternommen, von meinen Erfahrungen zu berichten. Ich habe das Gespräch gesucht, Sie verstehen, ich bin stolz, der Aufgabe gewachsen zu sein. Deshalb erzähle ich mit Begeisterung. Ich habe zum Beispiel davon erzählt, dass ich sehr gerne an Muskeln präpariere. Ich habe von der luziden, perlmuttfarbenen Haut berichtet, die Muskeln umgibt. Ich habe von der Befriedigung erzählt, die ich empfinde, wenn ich einen Muskel vollständig freigelegt habe, wenn ich den Muskel begreifen konnte, seinen Ursprung und seinen Ansatz erkennen. Ich habe, während ich erzählte, mit meinen Händen vorausgearbeitet, habe mit meinen Händen auf dem Tisch Bewegungen ausgeführt, als wartete dort eine Struktur, die ich noch rasch präparieren sollte. Handarbeit, sagte ich, wenn du eine gute Ärztin sein willst, musst du zunächst eine gute Handwerkerin sein. Wenn du nicht Hand anlegen willst an einen Menschen, ist alle Mühe nicht wert. Eine Professorin erklärte einmal: Seien Sie neugierig. Verfolgen Sie die Strukturen weiter bis zu ihrem Ende. Glauben Sie nichts, prüfen Sie, ob das, was in den Anatomiebüchern steht, wirklich stimmt. Sehen Sie nach und sie werden mit Strukturen belohnt. — Ja, es ist aufregend. Eine Assistentin notierte eine wunderbare Geschichte für mich. Das war an dem Tag gewesen, als Gehirne entnommen worden waren. Da sei eine Kollegin durch den Saal auf sie zugekommen und habe ihr ein Gehirn in die Hände gelegt. Sie wollte ihr eine erste Erfahrung schenken, und sie wollte in diesem bedeutenden Moment an ihrer Seite sein. Das Gehirn, ihr erstes Gehirn, sei unerwartet schwer gewesen. Sie erinnerte sich gut an ihre Sorge, sie könnte das Gehirn fallen lassen. Sie habe in diesem Augenblick daran gedacht, dass sie eine ganz Welt in Händen halte, Träume eines Lebens, Bilder, Sätze, Wörter, Wörter, die nie wieder erreichbar sein werden. – stop
coleoptera rasura
tango : 10.12 — Eine zierliche Frau von hohem Alter. Sie schob einen Rollwagen vor sich her, auf dem zwei Koffer ruhten. Elegante Kleidung, sandfarben, leichte Sommerschuhe, links in der Hand eine Tasche von gelbem Leder, der ein Kabel entkam, das ein paar Kopfhörer und ein Mikrofon mit einem Telefon verband. Das Telefon war nicht sichtbar gewesen, aber die Frau sprach in das Mikrofon, das sich in der Nähe ihres Mundes befand, als würde sie telefonieren. Hin und wieder blieb sie stehen, ihre weißen Hände flattern dann in der Luft herum, als wollte sie zur Unterstützung ihrer Zunge mit Fingern artikulieren. Ich versuchte, sie anzusprechen, zu grüßen, ihr nahezukommen, um hören zu können, in welcher Sprache sie korrespondierte. Ich sage Euch, sie flüsterte unbekannte Wörter. Einmal öffnete sie einen ihrer Koffer. Sie gab mir ein Zeichen, ich kniete nieder. In dem Koffer hockten Käfer in Fächern, zwei Käfer je in einem Fach. Ihre Körper waren von der Farbe und Zeichnung der Bruyèrehölzer gewesen, und sie brummten, vielleicht deshalb, weil an der Stelle, da sich üblicherweise Käferzangen befinden, knöcherne Trommeln in rasender Geschwindigkeit rotierten. Gegen Viertel nach zwei Uhr erwacht. Wolkenloser Himmel, Sterne, eiskalte Luft nahe der Berge über dem Dach. — stop
leben
kilimandscharo : 6.45 — Ich lebe sehr gern. Und manchmal kommt einem vor, dass das ganze Leben, das man hinter sich hat, eigentlich kein Jammertal war. Obwohl es natürlich schlimme Punkte gegeben hat. Aber im Großen gesehen ist die Welt für mich eigentlich immer schön gewesen. Und ich hab immer gern gelebt und ich leb jetzt auch noch sehr gern. Es hat sich die Form im Laufe der Jahrzehnte total verändert. Aber das Rasen und Rotieren im Kopf, das ist gleich geblieben. / Auf der einen Seite bin ich also lebenssüchtig kann man fast sagen, und auf der anderen Seite bin ich ein großer Melancholiker, von meiner Mutter. Aber das geht gut zusammen. / Mit dem Schreiben kämpfe ich eigentlich gegen den Tod. Ich hasse ja den Tod. Und ich möchte alles machen, nur damit ich da nicht bald hineinfalle in diese Grube, in diese schreckliche. — Friederike Mayröcker in einem Filmportrait von Latja Gasser
time
tango : 22.01 — Einmal, vielleicht auf Papieren, eine Stadt äußerst langsamer Menschen besuchen, eine Stadt, deren Bürger sich unter rasenden Vögeln, rasenden Wolken, rasenden Straßenbahnen, wie in Zeitlupe bewegen. Jeder Gedanke dort ein Stundengedanke, die Stimmen der Menschen, sonore Linien, ich selbst kaum noch sichtbar, Augen, Arme, Mund, Unschärfen der Luft. — stop
PRÄPARIERSAAL : heitere träume
india : 22.03 — Gestern kam der schöne Kopf einer Freundin auf acht winzigen Füßen über den Boden meines Arbeitszimmers spaziert. Sie rezitierte in rasender Geschwindigkeit einen Text Djuna Barnes mit lachgasheller Stimme. Nichts ist noch selbstverständlich. Weshalb träume ich nur selten, und wenn, dann heitere Geschichten vom Zergliedern menschlicher Körper? — Vor langer Zeit bereits notiert. stop. In der Antwort noch keinen Schritt weitergekommen. — stop
moskitoeintagsfliegen no.2
sierra : 5.24 — Bald einmal, ich wiederhole mich, menschliche Wesen von 20000 Jahren Lebenserwartung gestalten, Hüter der Plutoniumwerke, memorierende Beobachter, flüsternde Sprecher durch Räume der Zeit, die bisher nicht vorstellbar sind, weil wir sie weder fühlen noch träumen, weil unsere Herzen durch die Atomzeit rasend schlagen wie die Herzen der Moskitoeintagsfliegen. — stop
prypjat
echo : 5.57 — Die Stadt Prypjat an einem sonnigen Apriltag des Jahres 1986. Dunstige Haut lag über farbigen Bildern des Films, spielende Kinder vor Häuserblocks, ein Karussell, ein Riesenrad, flanierende Bürgerinnen und Bürger, Alltag, Frieden. Manche der Menschen trugen Taschen, andere hielten ihre Söhne und Töchter an der Hand, ein Dreirad glaubte ich gesehen zu haben, Bäume von hellem Grün, und den Himmel, wolkenlos. Aber da war noch etwas anderes gewesen, etwas Unheimliches, da waren Punkte, Kreise, helle Erscheinungen, in Bruchteilen rasender Zeit tauchten sie auf und waren sofort wieder verschwunden. So rasch und so unerwartet traten sie aus der Bewegung des Films hervor, dass ein menschlicher Betrachter nicht sicher sein konnte, ob die Erscheinung, die er gerade wahrgenommen hatte, tatsächlich zu sehen oder nicht ein Irrtum seines Gehirns gewesen war, helle Schirme, pelzig, weich. Dieses blitzende Licht, das ich vor einigen Jahren beobachtete, zeigte Verletzungen des bildtragenden Materials an, Verheerungen, die durch strahlende Teilchen des brennenden Graphitreaktors zu Tschernobyl verursacht wurden, Teilchenspurlicht, deshalb so unheimlich, so tragisch, weil dieses Licht in den Augen des Filmbetrachters von einer späteren Wirklichkeit aus wahrgenommen werden konnte, nicht aber von jenen Menschen, die sich in der Wirklichkeit der Aufnahme vor der Kamera bewegten durch einen lebensgefährlichen Tag, den sie für einen glücklichen Tag ihres Lebens gehalten haben mochten, weil niemand sie vor der unsichtbaren Bedrohung, die sich in der Atmosphäre befand, warnte. — Ich muss meine Erinnerung sofort überprüfen. — stop
kairobildschirm
sierra : 6.28 — Regen, erste Milde des Jahres. Ein Freund, arabischer Jazzmusiker und stark wie ein Bär, erzählte vor wenigen Stunden, er sei versucht gewesen, während der Rede Husni Mubaraks am Donnerstagabend, sein Fernsehgerät zu zertrümmern. Kann ich nun von einem Wunder sprechen, dass in der zurückliegenden Nacht in den Straßen Kairos nicht rasende Gewalt ausgebrochen ist? Merkwürdig der Augenblick, als sich nachmittags über den hellblauen Himmel der riesigen Stadt ein Hubschrauber fortbewegte, sandfarben und so klein, dass er kaum noch sichtbar gewesen war, ein Luftfahrzeug, in dem sich vielleicht ein Menschendespot befand, von dem ich nicht sagen kann, ob er je verstehen wird, was geschehen ist. Kurz darauf das Beben des Bodens, seismografisch messbar unter Tausenden tanzender Füße, die ihre Schuhe wieder tragen. Auf meinem Fernsehbildschirm erweist ein General mit einer irritierenden militärischen Geste den Opfern des Aufstandes seine Ehre. — stop