Aus der Wörtersammlung: schriftsteller

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von hölzernen büchern

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echo : 5.08 — Ein Freund, der vie­le Jah­re lang Notiz­zet­tel sam­mel­te, berich­te­te, er wol­le eine Biblio­thek grün­den, in der sich aus­schließ­lich Bücher befin­den wer­den, die nie geschrie­ben oder nie zu Ende geschrie­ben wor­den sind, Bücher, die nur in den Gehir­nen der Schrift­stel­le­rin­nen und Schrift­stel­ler exis­tier­ten, Bücher, die viel­leicht bedeu­ten­de Bücher gewe­sen wären, aber nicht geschrie­ben wur­den, weil ihre Autoren zu früh ver­star­ben, oder weil sie zu arm waren und andau­ernd arbei­ten muss­ten, wes­we­gen ihre Bücher nur aus­ge­dacht wur­den, gewünscht, erhofft. Er habe ein­mal einen Bücher­tisch gese­hen, auf dem wirk­li­che Bücher lagen, in wel­chen man blät­tern konn­te, und in nächs­ter Nähe ruh­ten Buch­kör­per von Holz, das waren jene aus­ge­dach­ten Bücher, wie Platz­hal­ter im Raum, Mah­nung, Erin­ne­rung. Von die­ser Art höl­zer­ner Bücher soll­te sei­ne Biblio­thek gebil­det sein, er habe zahl­rei­che Brie­fe in die­ser Sache ver­schickt, nach Island zum Bei­spiel, nach Öster­reich, nach Nord­ame­ri­ka, Vene­zue­la, Kolum­bi­en, den Sene­gal, Süd­afri­ka, nach Tas­ma­ni­en. — stop

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transfer

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echo : 3.05 – Vor fünf oder sechs Jah­ren schrieb ich einen Brief an einen Freund, der ver­schol­len war. Ich erzähl­te ihm von der Welt der Fähr­schif­fe, wie ich sie erkun­det hat­te auf der Upper New York Bay. Ich bat ihn, er möge sich um Him­mels­wil­len mel­den. Ver­mut­lich war ich nicht wirk­lich der Über­zeu­gung gewe­sen, dass mei­ne E‑Mail den ver­schwun­de­nen Freund errei­chen wür­de, er war zuletzt doch schon sehr ver­rückt gewe­sen, er hielt sich für einen ande­ren, und war seit bereits zwei Jahr­zehn­ten ver­misst. Ich notier­te also eine Bot­schaft für einen auch von mir selbst ver­ehr­ten Schrift­stel­ler, die ihn unmög­lich oder sehr wahr­schein­lich nicht errei­chen wür­de. Ich sen­de­te mein Schrei­ben an einen E‑Mail-Dienst im fin­ni­schen Tur­ku, der ver­sprach, Schrift­sät­ze an Men­schen wei­ter­zu­lei­ten, die ver­schwun­den waren, viel­leicht gegen ihren Wil­len wie vom Erd­bo­den ver­schluckt oder weil sie sich ver­steck­ten. Eini­ge Stun­den spä­ter wur­de der Ein­gang mei­ner E‑Mail bestä­tigt mit dem Ver­spre­chen einer Nach­richt, sobald die E‑Mail wei­ter­ge­ge­ben wer­den konn­te. In die­sem glück­li­chen Fal­le soll­te ich 85 Dol­lar über­wei­sen an ein Post­amt eben der Stadt Tur­ku, ein ganz ange­mes­se­ner Betrag, wie ich fin­de. Vor weni­gen Minu­ten nun erhielt ich mei­ne E‑Mail mit dem Ver­merk zurück: Wir bedau­ern sehr, Ihnen mit­tei­len zu müs­sen, dass wir Ihre E‑Mail an Mr. John Dos Pas­sos nicht zustel­len konn­ten. Mit freund­li­chen Grü­ßen. — stop

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ai : VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE

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MENSCH IN GEFAHR : “Der oma­ni­sche Schrift­stel­ler und Blog­ger Mua­wi­ya al-Ruwahi wur­de in ein Gefäng­nis in Abu Dha­bi ver­legt. Sein Gerichts­ver­fah­ren soll dort am 14. Sep­tem­ber vor der Staats­si­cher­heits­kam­mer des Obers­ten Bun­des­ge­richts beginnen./ Der 31-jäh­ri­ge oma­ni­sche Schrift­stel­ler und Blog­ger Mua­wi­ya al-Ruwahi (auch al-Rawahi) wur­de Ende Mai in das al-Wath­ba-Gefäng­nis in Abu Dha­bi ver­legt. Sein Fall wur­de an die Staats­si­cher­heits­kam­mer des Obers­ten Bun­des­ge­richts ver­wie­sen. Am 14. Sep­tem­ber soll sein Ver­fah­ren begin­nen. Die Ankla­ge­punk­te sind eben­so wenig bekannt wie die kon­kre­ten Grün­de für sei­ne Fest­nah­me und das Ver­fah­ren. / Laut der Face­book-Sei­te sei­nes Vaters erhielt Mua­wi­ya al-Ruwahi, der an einer bipo­la­ren Stö­rung lei­det, am 11. Juni Besuch von oma­ni­schen Diplomat_innen sowie dem Staats­an­walt. Die Diplomat_innen konn­ten allei­ne mit ihm spre­chen. Seit sei­ner Fest­nah­me am 23. Febru­ar 2015, als er aus Oman in die Ver­ei­nig­ten Ara­bi­schen Emi­ra­te (VAE) ein­rei­sen woll­te, durf­te er meh­re­re Male mit sei­ner Fami­lie tele­fo­nie­ren. Den ers­ten Anruf tätig­te er einen Monat nach sei­ner Fest­nah­me. Dabei bat er sei­ne Fami­lie dar­um, einen Rechts­bei­stand für ihn zu benen­nen. Mua­wi­ya al-Ruwahi erzähl­te sei­ner Fami­lie, dass er regel­mä­ßig sei­ne Medi­ka­men­te erhal­ten hat­te und dass die Behör­den der VAE von sei­ner psy­chi­schen Erkran­kung wuss­ten. Sei­ne Kran­ken­ak­te, die vom Sul­tan-Qabus-Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum aus­ge­stellt wur­de, wur­de an die Behör­den der VAE wei­ter­ge­lei­tet. Die Mut­ter von Mua­wi­ya al-Ruwahi durf­te ihn am 18. Juni für eine hal­be Stun­de im Gefäng­nis besu­chen. Am glei­chen Tag durf­te er außer­dem zehn Minu­ten mit sei­nem Vater in Oman tele­fo­nie­ren. Zwei Tage spä­ter wand­te sich sei­ne Mut­ter an die Behör­den des al-Wath­ba-Gefäng­nis­ses, um sicher­zu­stel­len, dass ihr Sohn regel­mä­ßig sei­ne Medi­ka­men­te erhal­ten wür­de. — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 31. August 2015 hin­aus, unter »> ai : urgent action

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onkel ludwig

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tan­go : 1.38 — Mein alter Onkel Lud­wig, der wirk­lich schon sehr alt ist, berich­tet, er habe errech­net, wenn er noch in der Lage wäre, jeden Tag 300 Sei­ten eines Buches zu lesen, wenn er außer­dem noch fünf Jah­re lesend erle­ben dürf­te, wür­de er, bei guter Füh­rung, 1825 wei­te­re Bücher zu sich neh­men. Das könn­te genü­gen, sag­te Onkel Lud­wig. Er ist übri­gens noch sehr gut zu Fuß, man kann ihn mor­gens gegen 10 Uhr beob­ach­ten, wie er die Trep­pen zur Stadt­bi­blio­thek erklimmt. Er kommt mit der Stra­ßen­bahn dort an, heim­wärts, schwe­re Bücher­ta­schen tra­gend, nimmt er ein Taxi. Manch­mal sitzt er noch ein oder zwei Stun­den im Cafe Mozart, er liebt Käse­ku­chen und Mohn­schnit­ten von Her­zen. Ich glau­be, heu­te ist Mitt­woch, heu­te wird er ein Buch der Schrift­stel­le­rin Yoko Oga­wa zu sich neh­men, so ist sein Plan, in die­sem Buch soll ein Ele­fant auf dem Dach eines Kauf­hau­ses leben. Gera­de eben leich­ter Gewit­ter­re­gen. Das wird sicher sehr war­mes Was­ser sein, das vom Him­mel fällt. Guten Mor­gen! — stop

queenmary

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slow

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hima­la­ya : 18.08 — Er schrei­be, erzähl­te M., damit sich in sei­nem Leben nicht alles wie­der­ho­le, Tag, Nacht, Win­ter, Som­mer, wenn ich erfin­de und das Erfun­de­ne notie­re, dann ist das so, als wür­de ich neu­es Land ent­de­cken, das ich betre­ten, auf dem ich spa­zie­ren kann. Des­halb blei­be sein Leben span­nend, es wür­de ihm wohl nie lang­wei­lig wer­den, auch wenn er sich wochen­lang mit ein und der­sel­ben Fra­ge beschäf­ti­gen wür­de, zum Bei­spiel, wes­halb er noch nie eine Flie­ge bemer­ken konn­te, die auf dem Rücken flie­gen kann, obwohl sie doch längst erfun­den wor­den sei. — Vor weni­gen Minu­ten habe ich an M. seit lan­ger Zeit wie­der ein­mal gedacht, es war viel­leicht des­halb gewe­sen, weil ich einen Film beob­ach­te­te, der von der Arbeit und dem Leben John Irvings erzählt. Der Schrift­stel­ler erwähnt Fol­gen­des: Jener Zeit­raum, wenn ein Buch ver­öf­fent­licht wird, wenn alle Leu­te mit dir dar­über reden, ist sehr kurz, es ist nach weni­gen Mona­ten vor­bei. Dage­gen hat das Schrei­ben des Buches viel­leicht vier, fünf, sechs oder sogar sie­ben Jah­re gedau­ert. Und für das nächs­te Buch braucht man dann wie­der solan­ge. Durch das Rin­gen habe ich gelernt, dass man die­sen lan­gen Pro­zess lie­ben muss. Man muss es lie­ben, zu üben, die­sel­be Bewe­gung hun­dert­mal zu wie­der­ho­len mit dem­sel­ben lang­wei­li­gen Spar­rings­part­ner. Es dau­ert lan­ge, Zen­ti­me­ter für Zen­ti­me­ter, hier etwas durch­strei­chen, die­sen Satz an die­se Stel­le, den Satz hier weg und dort­hin schie­ben, die Leu­te wür­den ein­schla­fen, wenn sie einem Schrift­stel­ler bei der Arbeit zuse­hen, oder einem Rin­ger beim Trai­ning. Es war sehr wich­tig für mich, das zu ler­nen. — stop

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unterm maulbeerbaum

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del­ta : 18.12 — Hele­na erzählt, sie habe einen Text notiert, 258 Sei­ten, in dem von einem jun­gen Mann die Rede sein soll, der sich unter einen Maul­beer­baum setz­te, um sei­nen Puls­schlag zu zäh­len. Wie er nun gegen sei­ne Müdig­keit kämpft, gegen das auf­rei­zen­de Gefühl der Amei­sen­bei­ne, wel­che unter sei­nen Hosen­bei­nen spa­zie­ren, auch gegen Durst- und Hun­ger­ge­füh­le, wie lan­ge Zeit kann man so sit­zen und zäh­len, nicht lan­ge. Es war noch nicht ein­mal dun­kel gewor­den, als der jun­ge Mann auf­stand und ver­schwand. Da war nun also ein Maul­beer­baum gewe­sen irgend­wo im Süden, ein paar Vögel außer­dem, Hasen, Füch­se, Eidech­sen, Spin­nen, Käfer und eine Erzäh­le­rin, die dar­auf war­te­te, dass der jun­ge Mann wie­der kom­men und sei­ne Pul­se wei­ter­zäh­len wür­de. Wie sie in ihrem Kopf Stun­den, Tage, Wochen lang den Baum beob­ach­te­te, wie sie sich indes­sen ein­mal erin­ner­te an einen Freund, der ver­rückt gewor­den sein soll, weil er nicht damit auf­hö­ren konn­te, Zei­tungs­pa­pie­re mit­tels Sche­ren zu zer­le­gen. Er sam­mel­te Bewei­se für dies und das! Ber­ge von Zei­tun­gen soll er in sei­ner Lei­den­schaft für Beweis­si­che­rung zer­legt haben, auch unter­wegs konn­te er nicht damit auf­hö­ren, ein Selt­sa­mer, der nur des­halb in Zug­ab­tei­len sicht­bar wur­de, weil die Papie­re, die Zei­tun­gen selbst damals, als er leb­te, noch sicht­bar gewe­sen waren. Heut­zu­ta­ge darf man, sagt Hele­na, in unsicht­ba­rer Wei­se ver­rückt wer­den, fast alle sind wir schon längst ver­rückt, haben auf Com­pu­tern Tex­te gesam­melt, die wir nie­mals lesen wer­den, weil das Leben nicht reicht, auch nicht für Bewei­se. In ihrer Geschich­te im Übri­gen will sie eine wei­te­re Erzäh­lung ver­steckt haben, jedes ein­zel­ne Wort der Geschich­te, auch gan­ze Sät­ze. Um wel­che Erzäh­lung es sich prä­zi­se han­delt, möch­te sie nicht ver­ra­ten. Die Erzäh­lung soll von einer berühm­ten Schrift­stel­le­rin erfun­den wor­den sein, eine wun­der­ba­re Minia­tur. Sie war­tet noch immer. — stop

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salinenweg

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whis­key : 0.01 — Ich schlief über einem Buch des Schwei­zer Schrift­stel­lers Nico­las Bou­vier. Ehe ich fest ein­ge­schla­fen war, hat­te ich in letz­ter Sekun­de noch einen Gedan­ken wahr­ge­nom­men. Ich sag­te zu mir mit lei­ser wer­den­der Stim­me: Du soll­test ein­mal über­le­gen, ob es sinn­voll ist, nach einer Metho­de zu suchen, im Schlaf ein Buch lesen zu kön­nen. Ja, das wäre eine inter­es­san­te Geschich­te. Man wür­de sich natür­lich an die erzäh­len­de Wirk­lich­keit des Buches selbst nicht erin­nern, das man gera­de noch las oder hör­te wäh­rend man schlief, weil man das Buch nicht bewusst wahr­neh­men konn­te, und doch wäre man mit Herrn Bou­vier nach Gal­way geflo­gen wegen eines Lochs im Sturm. Man wäre in einer Art und Wei­se nach Gal­way geflo­gen, dass man sich ein­mal spä­ter so gut an die­sen Flug erin­nern könn­te, als wäre man selbst dort in Kil­ro­nan gewe­sen, eine Ahnung, Geräu­sche, Luft und Leu­te. — Das geschmei­di­ge Wort Sali­nen­weg. Wie ich über eine höl­zer­ne Brü­cke gehe im Win­ter, ich strei­che mit einer Hand Schnee von einem Gelän­der. Immer wie­der, im Som­mer, im Früh­ling, im Herbst, wenn ich die­sen Ort pas­sier­te, erzähl­te ich von die­sem Moment, als ich im Win­ter den Schnee berühr­te. — stop
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ai : MYANMAR

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MENSCH IN GEFAHR : “In Myan­mar ist der Schrift­stel­ler Htin Lin Oo fest­ge­nom­men wor­den. Ihm droht eine Haft­stra­fe, nach­dem er in einer Rede die Instru­men­ta­li­sie­rung von Reli­gi­on zur Ver­brei­tung dis­kri­mi­nie­ren­der und extre­mis­ti­scher Ansich­ten kri­ti­siert hat­te. Amnes­ty Inter­na­tio­nal betrach­tet ihn als gewalt­lo­sen poli­ti­schen Gefan­ge­nen, der sofort und bedin­gungs­los frei­ge­las­sen wer­den muss. Die Ankla­gen gegen ihn müs­sen fal­len­ge­las­sen wer­den. / Htin Lin Oo ist Schrift­stel­ler und ehe­ma­li­ger Infor­ma­ti­ons­be­auf­trag­ter der Natio­na­len Liga für Demo­kra­tie (NLD), der füh­ren­den Oppo­si­ti­ons­par­tei Myan­mars. Am 23. Okto­ber 2014 hielt er bei einer Lite­ra­tur­ver­an­stal­tung im Town­ship Chaung‑U in der Regi­on Sagaing im Nor­den Myan­mars eine Rede, in der er die Instru­men­ta­li­sie­rung des Bud­dhis­mus zur Anstif­tung zu Dis­kri­mi­nie­rung und zur Ver­brei­tung von Vor­ur­tei­len kri­ti­sier­te. Der etwa zwei­stün­di­gen Rede wohn­ten ca. 500 Per­so­nen bei. Kurz nach der Ver­an­stal­tung tauch­te ein zehn­mi­nü­ti­ges, zusam­men­ge­schnit­te­nes Video der Rede in den sozia­len Medi­en auf, das unter eini­gen bud­dhis­ti­schen Grup­pie­run­gen Empö­rung aus­lös­te. / Am 4. Dezem­ber wur­de vor dem Gericht des Town­ships Chaung‑U Ankla­ge gegen Htin Lin Oo erho­ben, nach­dem Beamt_innen des Town­ships Anzei­ge erstat­tet hat­ten. Die Ankla­ge lau­te­te auf “Ver­un­glimp­fung der Reli­gi­on” nach Para­graf 295(a) des myan­ma­ri­schen Straf­ge­setz­buchs und “Ver­let­zung reli­giö­ser Gefüh­le” nach Para­graf 298. Die ent­spre­chen­den Para­gra­fen sehen Haft­stra­fen von bis zu zwei Jah­ren bzw. einem Jahr vor. / Htin Lin Oo wur­de bei sei­ner ers­ten Anhö­rung am 17. Dezem­ber 2014 in Haft genom­men, nach­dem sei­ne Frei­las­sung gegen Hin­ter­le­gung einer Kau­ti­on abge­lehnt wor­den war. Wei­te­re Anträ­ge auf Frei­las­sung gegen Kau­ti­on wur­den eben­falls zurück­ge­wie­sen. Htin Lin Oo ist der­zeit im Mony­wa-Gefäng­nis in der Regi­on Sagaing inhaf­tiert. Sei­ne nächs­te Anhö­rung fin­det am 23. Janu­ar statt.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 20. Janu­ar 2015 hin­aus, unter »> ai : urgent action

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tucholsky : dos passos

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echo : 5.32 — Um kurz nach vier Uhr ent­de­cke ich das Patent eines Büro­stuhls, der sich mit Strom ver­sor­gen lässt, um Schla­fen­de durch leich­te oder mit­tel­schwe­re elek­tri­sche Schlä­ge zu wecken. Kurz dar­auf, schon hell, ein Text Kurt Tuchol­skys aus dem Jahr 1928. Ich zitie­re: John Dos Pas­sos, ›Man­hat­tan Trans­fer‹ Da ist ›Man­hat­tan Trans­fer‹ von John Dos Pas­sos (bei S. Fischer in Ber­lin). Die­ser hal­be Ame­ri­ka­ner, des­sen ›Drei Sol­da­ten‹ (im Malik-Ver­lag) gar nicht genug zu emp­feh­len sind, hat da etwas Gutes gemacht. Ich den­ke, dass die Mode der ame­ri­ka­ni­schen Roma­ne, die uns die Ver­le­ger und die Snobs durch Über­maß sacht zu ver­ekeln begin­nen, nach­ge­las­sen hat – und das ist auch gut so. Nicht etwa, weil ner­vö­se und wenig erfolg­rei­che Reak­tio­nä­re der Lite­ra­tur, zum Bei­spiel in den ›Münch­ner Neu­es­ten Nach­rich­ten‹, gegen die Über­set­zun­gen aus dem Fremd­län­di­schen pol­tern –, son­dern weil es zwi­schen der Hys­te­rie der Anbe­tung und der Neur­asthe­nie der Ver­dam­mung ein ver­nünf­ti­ges Mit­tel­maß gibt. Man soll frem­de Län­der ken­nen ler­nen – man soll sie nicht sofort seg­nen und nicht gleich ver­flu­chen. ›Man­hat­tan Trans­fer‹ ist ein gutes Buch – die Ame­ri­ka­ner haben sich da einen neu­en Natu­ra­lis­mus zurecht­ge­macht, der zu jung ist, um an den alten fran­zö­si­schen her­an­zu­rei­chen, aber doch fes­selnd genug. Es sind Foto­gra­fien, nein, eigent­lich gute klei­ne Radie­run­gen, die uns da gezeigt wer­den; ob sie echt sind, kann ich nicht beur­tei­len, die Leu­te, die lan­ge genug drü­ben gelebt haben, sagen Ja. Es ist die Lyrik der Groß­stadt dar­in, eine durch­aus männ­li­che Lyrik. Der Ein­sa­me auf der Bank: »Fein hast du dein Leben ver­saut, Josef Har­ley. Fünf­und­vier­zig und kei­ne Freu­de und kei­nen Cent, um dir güt­lich zu tun.« Das hat ein­mal so gehie­ßen: »Qu’as tu fait de ta jeu­nesse?«, und das ist von Ver­lai­ne und ist schon lan­ge her, aber doch neu wie am ers­ten Tag. Das Mäd­chen da liegt auf ihrem Zim­mer in der gro­ßen Stadt, schwimmt in der Zeit und ist so allein. Sehr schön, wie ein Mann auf der Bett­kan­te sitzt, und da ist eine Frau, sei­ne Frau, und ein Kind, sein Kind – und plötz­lich sieht er, dass er »hage­re röt­li­che Füße hat, von Trep­pen und Trot­toirs ver­krümmt. Auf bei­den klei­nen Zehen saß ein Hüh­ner­au­ge.« Und da hat er Mit­leid mit sich und weint. Das Buch ist auch for­mal gut – Dos Pas­sos ist nicht nur ein Dich­ter, son­dern auch ein begab­ter Schrift­stel­ler. Sehr hübsch ist die­se Denk­fi­gur, der man öfter bei ihm begeg­net: »Auf dem Trep­pen­ab­satz befand sich ein Spie­gel. Kapi­tän James Meri­va­le blieb ste­hen, um Kapi­tän James Meri­va­le zu betrach­ten.« Und die­se, die gra­de­zu pro­gram­ma­tisch ist und viel tie­fer als sie, leicht­ge­fügt, wie sie ist, zu sein scheint: »Nichts hat so viel Erfolg wie der Erfolg.« Eine ähn­li­che Dreh­tür des Stils steht bei Sin­clair Lewis, im ›Elmer Gan­try‹, einem Buch von dem hier noch aus­führ­lich die Rede sein soll … Ein ein­zi­ger Klub, heißt es da, wird Herrn Gan­try, den Pre­di­ger, viel­leicht auf­neh­men. »Des Anse­hens wegen. Um zu bewei­sen, dass sie unmög­lich den Gin in ihren Schrän­ken haben kön­nen, den sie in ihren Schrän­ken haben.« Die Über­set­zung von ›Man­hat­tan Trans­fer‹ durch Paul Bau­disch ist sau­ber und anstän­dig. Klei­ne Anmer­kung: Man sagt im Deut­schen kaum: »Das macht mich zipf­lig« –, son­dern wohl immer: »Das macht mich kribb­lig«. Und was ist dies hier? »Dü Mau­re­ta­nia läuft öben eun; vür­und­zwan­zig Stun­den Ver­spö­tung« – Spricht eine alte gezier­te Dame so? ein Ober­hof­pre­di­ger? Nein, das ist die Über­set­zung irgend­ei­nes ›slang‹, und die Män­ner, die sich mit Über­tra­gun­gen aus dem Eng­li­schen befas­sen, soll­ten sich das abma­chen. — Der Mor­gen kommt. Tau­ben sit­zen auf dem Fens­ter­brett. Sie haben gut geschla­fen. — stop
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regenschirm

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hima­la­ya : 1.32 — Ich stell­te mir einen Schrift­stel­ler des digi­ta­len Zeit­al­ters vor, der täg­lich öffent­lich Gedan­ken in digi­ta­ler Wei­se notiert. Geschich­ten, die sich nicht immer tat­säch­lich ereig­net haben müs­sen. Ein­mal sitzt er vor der Schreib­ma­schi­ne, er bewegt sich nicht, scheint müde zu sein, nie­der­ge­schla­gen. Weni­ge Stun­den zuvor hat­te er bemerkt, dass er sich fürch­te­te. Den gan­zen Tag über ver­such­te er die­se Erkennt­nis wie ein Geheim­nis vor sich selbst zu ver­ste­cken. Es ging um nicht ande­res, als um sei­nen Wunsch, einen Satz oder Gedan­ken des ame­ri­ka­ni­schen Jour­na­lis­ten Dani­el Ells­berg zu zitie­ren. Die­ser Gedan­ke war ein nicht sehr kom­pli­zier­ter Gedan­ke, 34 Zei­chen, aber einer, der in der Nähe eines Namens sich ent­fal­te­te, des­sen Zei­chen­fol­ge sicher von gehei­men Robots bemerkt wer­den wür­de, einem Namen, der einem Signal­feu­er ähnelt. Der Gedan­ke geht so: Sec­re­cy cor­rupts, just as power cor­rupts. Der Schrift­stel­ler, der sich eigent­lich für eine muti­ge Per­son gehal­ten hat­te, ent­deck­te sein Unbe­ha­gen ange­sichts der Mög­lich­keit, auf­zu­fal­len, indem er den Namen Dani­el Ells­bergs in sei­nen Text ein­fü­gen wür­de. Er sass auf einem har­ten Stuhl vor sei­nem Schreib­tisch. Regen pras­sel­te gegen die Schei­ben des Zim­mers. Er war­te­te eine hal­be Stun­de. Dann stand er auf, warf sich sei­nen Man­tel über, hol­te einen Regen­schirm aus dem Schrank und ging spa­zie­ren. Nach fünf Stun­den kehr­te er zurück und setz­te sich wie­der vor die Schreib­ma­schi­ne. — stop
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