20.50 — Die alte Frau mit der roten Handtasche ist tot. Während des Tages irgendwann muss sie im Hospital gestorben sein. Jetzt, es ist ohne sie wieder Abend geworden, verlässt ihr Fernsehgerät das Haus. Ein Hin und Her auf der Straße, noch nie gesehene, tieffliegende Vögel. Im Haus, vom Flur her, Kampfgeräusche, Gezeter, Verwünschungen, Empfehlungen, heisere Stimmen. Der Sohn ist da und der Sohn des Sohnes, betrunken steht der blutjunge Geier auf der Straße herum und regelt den Verkehr. Wohnungsauflösung. Nun, zu vorgerückter Stunde, hat sich mir das Wort erschlossen. Ein Prozess der Entropie, der Verwertung, des Verschwindens. Ich sehe die Verschwundene wie im Traum, eine 89-jährige Frau in bunter Kleidung, Stehlampe in der Hand, das Haus verlassen. Unlängst noch war sie unterwegs gewesen. Sie hatte bereits den Gang der Hochseematrosen. Manchmal rastete sie im Schatten der Bäume. Sie ging spazieren, als melde sie sich, Tag für Tag, bin noch am Leben. Niemand weiß genau, wie lange sie in der Gegend, diesem Haus, dieser Wohnung lebte, sie war schon hier, als Bomben fielen, und noch immer, bis gestern, stolz und einsam und zu langsam für die rasende Stadt. Jawohl, sie war stolz gewesen, ließ sich nicht helfen, niemand durfte ihr Milch oder den Sand für ihre Tiere durch das Treppenhaus in die Wohnung tragen. Manchmal heulte das Fernsehgerät durch die Wand. Jetzt ist es vorbei, jetzt werden Monteure und Maler kommen. Es ist vorbei, auch für die Katzen. — stop
Aus der Wörtersammlung: sehen
take five
10.16 — Eigenartig, wie sie vor mir sitzt, die flachen Schuhe gegen die Beine des Stuhles gestemmt, beide Hände auf dem Tisch, Innenseiten nach oben, derart verrenkt, als gehörten diese Hände nicht zu ihr, als seien sie vorsätzlich angebrachte Instrumente, Werkzeuge des Fangens, Blüten. Jetzt schließen sie sich, Finger für Finger, Nacht wird. — ::: — Eine Fotografie kommt über den Tisch, Take Five, lässige Geste, als würde eine Karte ausgespielt. „Was siehst Du?“, fragt sie. – ::: — „Landschaft!“, — antworte ich, „Afrika. Südliches Afrika. Einen Affenbrotbaum und zwei Männer. Einen jungen Mann schwarzer Hautfarbe, der einen hellen Anzug trägt, und einen älteren, einen weißen Mann, der einen dunkelgrauen Anzug trägt, einen Strohhut und eine Brille. Eine staubige Straße. Menschen, die schwarz sind und bewaffnet. Gewehre. Macheten. Harte Schatten. Spuren von Hitze, infernalischer Hitze. Sie sehen alle so aus, als schwitzten sie. Jawohl, alle, die dort auf der Straße stehen, schwitzen.“ — ::: — „Was noch?“ -, fragt sie, — „was siehst Du noch?“ – ::: — Sie fährt sich mit ihrer rechten Hand über die Stirn. – ::: — „Ich sehe ein Auto. Das Auto steht rechts hinter dem weißen Mann, eine dunkle Limousine, ein schwerer Wagen. Ich sehe einen Chauffeur, einen Chauffeur von schwarzer Haut, Schirmmütze auf dem Kopf. Der Chauffeur lächelt. Er schaut zu den beiden Männern hinüber, die unter dem Baum im Schatten stehen. Der weiße Mann reicht dem schwarzen Mann die Hand oder umgekehrt. Sieht ganz so aus, als sei der weiße Mann mit dem Auto angekommen und der schwarze Mann habe auf ihn gewartet. Historischer Augenblick, so könnte das gewesen sein, ein bedeutender Moment, eine erste Begegnung oder eine letzte. Beide Männer haben ernste Gesichter aufgesetzt, sie stehen in einer Weise aufrecht, als wollte der eine vor dem anderen noch etwas größer erscheinen. Da ist ein merkwürdiger Ausdruck in dem Gesicht des jungen, schwarzen Mannes, ein Ausdruck von Überraschung, von Verwunderung, von Erstaunen.“ – ::: — „Das ist es!“, sie flüstert. „Treffer!“- ::: — Jetzt lacht sie, öffnet ihre Fäuste und das Licht kehrt zurück, der ganze Film. “Die Klimaanlage. Der verdammte Wagen dort unterm Baum. Der Weiße hat dem Schwarzen eine kühle Hand gereicht, Du verstehst, eine kühle Hand. Der Kerl hatte eiskalte Hände.” — stop
nebelhorn
1.28 — Gestern Abend in der Dämmerung bin ich durch den Regen gestapft, weil ich gelesen hatte, auf dem Postamt würde ein Paket auf mich warten. Ich ging also los mit meinem Regenschirm, der sehr schöne Geräusche macht, wenn Wasser aus großer Höhe auf ihn herabfällt. Und weil es sehr windig war, musste ich den Schirm etwas schräg vor mich stellen, wie einen Schild vielleicht, deshalb habe ich von den Menschen, die mir begegneten, nur Schuhe gesehen oder Beine in Strümpfen oder Hosen oder flatternde Mäntel. Sehr seltsam, dieser exquisite Blick auf die Werkzeuge des Gehens, sehr seltsam, wie schnell menschliche Wesen sich doch bewegen. Bald war ich wieder auf dem Weg zurück, ein Paket unter dem Arm, den Schirm nun, ein Segel, im Nacken, Blick auf feuchte Schilde, die sich mir entgegenstemmten, darunter Artgenossen, geräuschlos. — Aber jetzt zu dem, was ich eigentlich erzählen will. Auf meinem Schreibtisch ruht seit sechs Stunden ein fein gestaltetes Buch von rauem, kräftigem Papier, ein Buch, das mit dem Schiff zu mir über den Atlantik reiste, weswegen es fünf Wochen unterwegs gewesen war, in einem Container vermutlich bei Wind und Wetter, also rollte und übers Wasser schlingerte, auf und ab getragen von sehr hohen und kleineren Wellen. Ich habe lange Zeit auf dieses Buch gewartet, eine sehr lange Zeit. Als ich zu warten begann, war noch Sommer gewesen und jetzt ist schon Winter geworden. Nun endlich liegt das kleine Buch, das von den Zwillingen Daisy und Violet Hilton erzählt, auf meinem Schreibtisch oder in meiner Küche oder auf meinem Sofa oder auf meiner Brust, wenn ich trotz der Begeisterung kurz einmal eingenickt sein sollte. Da ist eine Bewegung im Halbschlaf, ein kaum wahrnehmbares Schaukeln. Und da sind zwitschernde Mädchenstimmen, und das Nebelhorn eines Dampfers vor Brighton. — stop
felix fénéon
2.15 — Immer wieder fällt etwas zu mir herein und ich kann nicht sagen, warum gerade dieses und warum gerade jetzt. Vorhin habe ich an Felix Fénéon gedacht. Ich geh zum Regal und suche in seinem Buch der 1001 wahren Geschichten. Da ist eine Geschichte, die Geschichte No 81 aus dem Jahr 1906 zum Beispiel: Mit einem Rattenschwanz versehen und zur Täuschung mit feinem Grus gefüllt, wurde ein Zylinder aus Weißblech in der Rue de l’Quest gefunden. Einhundert Jahre später, eine friedliche Nacht angenehm kühler Luft. Ich stelle mir Hunderte schlafender Köpfe vor, die in meiner Nähe in ihren steinernen Waben liegen. Wie still sie sind in dieser Lage. — stop
nadine gordimer
10.15 — Lektüre der Erzählung Something out There von Nadine Gordimer aufgenommen. Sofort der Wunsch, in der Elektrosphäre nach einer Fotografie des Karibasee zu suchen, weil Mrs. Gordimer vom künstlichen Gewässer in der Savannenlandschaft erzählt, von Elefanten gleichwohl, die sich in seine Fluten stürzten, um uralten Wanderrouten zu folgen. — Was haben die ertrinkenden Tiere dort unter dem Wasserspiegel gesehen? — Wovon haben sie gehört in ihrer letzten Lebenssekunde? — Ich lese von der Tiefe des Sees, von Fischen, die in ihm leben sollen, von der Luftfeuchtigkeit und vom Gewicht der Elefantenkörper, von der Biodichte ihrer Körper und von Kulturen in Seenähe siedelnder Menschen. Und während ich so vor mich hin lese, von Seite zu Seite, von Link zu Link, vergeht eine Stunde Zeit. Plötzlich erinnere ich mich an Nadine Gordimer und ihr Buch und setzte meine Lektüre fort. — stop
schöpfung
0.15 — Sind nicht vielleicht kleinste Teilchen, die aus dem Kosmos kommend die Erde und dort auf Menschen und dort auf Zellen treffen, als Zufallsgeneratoren der Schöpfung anzusehen? — stop
herzschlag
2.18 — Von Zeit zu Zeit, wenn ich in einem botanischen Garten sitze beispielsweise, wenn ich mir wünsche, eine der chinesischen Nachtigallen möge von den Bäumen herunterkommen und sich zu mir setzen, halte ich die Luft so gründlich an, dass ich zu einer lautlosen Erscheinung werde unter scheuen Vögeln. – Stunden des Arbeitens, des Wartens. — Das kaum noch wahrnehmbare Brausen einer Stadt jenseits der Bäume, jenseits der Mauern. – Tropfendes Wasser. — Meine Hände, die die Tastatur der Notiermaschine so behutsam berühren, als würden sie Ameisenrücken beschriften. — Weit nach Mitternacht. Es ist so still, dass ich glaube, von fern meinen Herzschlag zu hören. — stop
=
14.23 — a u g e n k a m m e r
liebeslaute
1.55 — Seit ich gestern, gegen den Morgen zu, erfahren habe, dass Buckelwale zur Paarungszeit über eine Sprache verfügen, die einfachen menschlichen Sprachen ähnlich ist, immer wieder die Frage, was ich unter einer einfachen menschlichen Sprache verstehen sollte, die atemlose Sprache der Lust vielleicht oder die Sprache der Chaträume? Ob eine dieser menschlichen Sprachen vielleicht geeignet wäre, sich mittels einer Prozedur der Übersetzung von Wal zu Mensch zu verständigen? Wir könnten uns vom Land und von der Tiefsee erzählen. Eine grandiose Vorstellung, auf hoher See Luft perlend vor einem Wal zu schweben und zu warten und zu wissen, dass er gleich, nach ein wenig Denkzeit, zu mir sprechen wird. Etwas also sagen oder singen, das nur für mich bestimmt ist. Vielleicht eine Frage: Wie heißt Du, mein Freund? Oder : Ich hörte von Bäumen! - Es ist 2 Uhr 10 und ich bin sehr gut gelaunt, weil ich etwas Lichtenberg gelesen habe. Er schreibt um das Jahr 1774 herum: Eine Fledermaus könnte als eine nach Ovids Art verwandelte Maus angesehen werden, die, von einer unzüchtigen Maus verfolgt, die Götter um Flügel bittet, die ihr auch gewährt werden. – Wie aber sollte ich einem Walfreund Abu-Ghraib, Grosny, Darfur, Simbabwe, Tibet und Burma erklären, das Foltern, das Okkupieren, das offene und das heimliche Töten von Menschenhand? Und wie den Hunger? Und wie das Schweigen? — stop
segelspinne
3.08 — Eine Stunde genau ist vergangen, seit ein sehr kleiner Gegenstand den Luftraum über der Tastatur meiner Schreibmaschine durchquerte. Er kam von links, also von Westen, und flog nach rechts, also gegen Osten, und weil nicht das geringste Geräusch zu hören war, das Geräusch eines Aufpralls in etwa, war ich zunächst überzeugt, mich geirrt zu haben. Aber dann konnte ich im Licht der Tischlampe einen sehr feinen Faden erkennen, der sich über die Tasten gelegt hatte. Ich erinnerte mich sofort an eine Spinne, die ich im Frühjahr zuletzt auf meinem Schreibtisch gesehen habe, ein hübsches, geräuschloses Wesen. — Es ist jetzt kurz nach halb fünf Uhr und ich bin zufrieden. Ich habe eine Stunde lang nichts getan, als mit einem feinen Pinsel bewaffnet auf der Schreibtischplatte unter dem Licht des Elektromondes einen Kampf gegen eine Springspinne zu fechten, die kaum größer ist als ein Stecknadelkopf, schwarz und weiß getigert, und so verspielt wie eine junge Katze. — Habe ich diesem Text nicht bereits vor langer Zeit einmal nachgedacht? — stop