himalaya : 0.45 UTC – Original-Nachricht / Betreff: Undelivered Mail Returned to Sender Datum: 2016–11-14T00:12:38+0300 – I’m sorry to have to inform you that your message could not be delivered to one or more recipients. It’s attached below. For further assistance, please send mail to postmaster. If you do so, please include this problem report. You can delete your own text from the attached returned message. NOTE: Lieber Teddy, schon vier Jahre sind nun vergangen, seit ich hörte, dass Du in Peking gestorben sein sollst. Es ist eine kühle, eine beinahe eisige Winternacht heute, kaum Wind. Wenn Du noch leben würdest, würdest Du vermutlich gerade schlafen. Ich hatte mir vorgenommen, an Dich zu denken. Also habe ich mich auf mein Sofa gesetzt und mir vorgestellt, wie Du zu mir sprichst. Aber ich konnte mich an Deine Stimme nicht erinnern. Ich saß lange Zeit ganz still und hörte meinen Gedanken zu, die nach einem Gespräch mit Dir suchten. Nach einer Stunde erinnerte ich mich, wie Du einmal von Deinen Fahrrädern erzähltest. Du hattest ihnen Namen gegeben: Maria 1 und Maria 2, das war mir damals seltsam vorgekommen. Auch heute wüsste ich nicht, welchen Namen ich selbst meinem Fahrrad geben würde, es ist eben ein Fahrrad. Und ich fragte mich, ob Du auch Deiner Fotokamera vielleicht einen Namen gegeben haben könntest. Da war plötzlich der Klang Deiner Stimme in meinen Ohren gewesen, die von etwas ganz anderem erzählte. Wie in den Jahren zuvor, lieber Teddy, sichere ich auch in diesem Jahr eine Deiner Fotografien, von deren Geschichte, der Geschichte des Tages, an dem sie aufgenommen wurde, Du mir leider nie erzählen wirst. – Dein Louis < t.s@posteo.de: host mx02 . posteo . de [95 . 922 . 192 . 155] said: 550 5.1.1 < t.s@posteo.de>: Recipient address rejected: undeliverable address: Recipient address lookup failed (in reply to RCPT TO command) – The mail system – stop
Aus der Wörtersammlung: vorgestellt
beobachtung
ulysses : 6.12 — Während ich Jack Kerouacs Roman On the Road in der ungekürzten Fassung als E‑Book las, bemerkte ich, dass ein Computer , vermutlich von Nordamerika aus verzeichnete, welche Zeilen dieses Romans von Lesern oder Leserinnen während ihrer Lektüre markiert worden waren. Eine ausgedehnte, präzise Leserbeobachtung scheint kaum merklich Stunde, um Stunde vollzogen zu werden. Ich stellte mir vor, Lichtmaschinen, die von Menschen in der Hand gehalten werden, dokumentieren, wie lange Zeit sich lesende Menschen mit einem bestimmten Text beschäftigen, wie sie den Text studieren, ob sie die Lektüre der ein oder anderen Seite wiederholen, an welchen Textorten ihre Augen innehalten oder ihre Hände über den Bildschirm streichend vorwärts blättern, wie viele Leser sich zunächst mit dem Ende einer Geschichte beschäftigen, ehe sie die erste Seite des Textes öffnen, um nun tatsächlich mit der Lektüre zu beginnen, so wie sich der Autor oder Autorin die Lektüre ihres Textes einmal vorgestellt haben könnten. Dass funkende Bücher Körpertemperaturen messen, Feuchtigkeit, Salze der Hände, welche sie berühren, ist nicht unwahrscheinlich. Man will wissen, weil man es wissen kann, an welcher Stelle des Textes Leser verloren gehen oder von welcher Stelle des Textes an Leser restlos eingefangen sind, ja, das ist denkbar. Guten Morgen. Es ist der 16. Oktober, leichter Regen. — stop
sekundenseide
sierra : 3.15 — Geschichten, die in Sekundenschnelle als Möglichkeit erscheinen, ihr Ursprung, ihre Entdeckung, in dem Moment, da ich meine Augen schließe, so plötzlich, dass ich ihre Anreise nicht bemerke, die Geschichte von den Papieren und ihren Geräuschen in einem U‑Bahnwagon beispielsweise, eine Summe von Wahrnehmung, von Erfahrung, von neuronalen, unbewussten Aufnahmen, das murmelnde Gespräch der Menschen unter dem Schepperschirm einer Blechkiste, die von Coney Island aus nordwärts fährt, der Eindruck, dass Menschen mittels ihrer raschelnden Zeitungen zueinander sprechen. Ein oder zwei Minuten von Ruhe, dann, plötzlich, blättert jemand eine Seite um, und schon knistert der Waggon von Reihe zu Reihe weiter. Man möchte in diesen Momenten meinen, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal habe ich mir Zeitungspapiere von stoffartiger Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, sodass keinerlei Geräusch von ihnen ausgehen würde, sobald man sie berührte. Eigentümliche Stille, Geräuschlosigkeit, Leere, ein Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung, eine Sekunde, die nicht vergisst. — stop
ein gespräch
foxtrott : 0.28 – Einmal nur für kurze Zeit die unverrückbare Grenze des Todes mittels eines Funkgerätes überschreiten. Ich stellte mir vor, ich könnte ein Gespräch führen mit einem Selbstmordattentäter, sagen wir mit MMK. Ich berichtete O. von dieser Idee. Ich sagte, stell Dir einmal vor, ich würde folgende Sätze sprechen: Lieber MMK, jetzt bist Du also tot, Du hast Deinen Auftrag zur vollen Zufriedenheit Deiner Vorgesetzten erfüllt, Du hast Dich in die Luft gesprengt, in alle Himmelsrichtungen sind Teile Deines Körpers davongeflogen. Wie geht es Dir jetzt? Wo bist Du, mein Freund? — O., der interessiert zugehört hatte, antwortete: Sag, lieber Louis, was erwartest Du denn, was MMK antworten würde? Ehe ich sprechen konnte, setzte O. fort, er sagte: Ich nehme an, Du wirst daran denken, dass er Dir sagen wird: Kein Paradies. Dunkel. Nichts. Ich bin allein, verdammt. Er schaute mich bedeutungsvoll an. Was aber, lieber Louis, machst Du, wenn er Dir erzählt, dass er im Paradies angekommen sei, dass alles noch wunderbarer sei, als je vorgestellt, ja, was machst Du dann, mein Junge? — stop
sarajevo
alpha : 2.12 — In meiner Vorstellung wurde ein dreijähriger Junge von seiner Mutter in einem Kinderwagen über eine Straße geschoben. Die Mutter, die zunächst vorsichtig ging, um das Kind nicht zu wecken, beschleunigte plötzlich ihre Schritte, nach wenigen Sekunden spurtete sie eine Häuserwand entlang, sie hatte das Kind aus dem Kinderwagen gehoben und trug es jetzt in ihren Armen, während sie etwas seitwärts lief, sie war geschickt in dieser Art und Weise zu laufen, sie schützte das Kind mit ihrem Körper vor Projektilen, die von einem Scharfschützen, einem Sniper, auf den Weg gebracht worden waren, um sie und ihr Kind ums Leben zu bringen. Irgendwo, irgendwann muss ich einen Film gesehen haben, der eine Szene wie die vorgestellte Szene zeigte. Unlängst sprach ich mit einem jungen Mann, der sich in meine geschilderte Vorstellung harmonisch einfügen würde, ich kenne ihn seit längerer Zeit, er war tatsächlich Kind gewesen in Sarajevo während der Belagerung der Stadt. Einmal, als etwas Zeit war zu sprechen, fragte ich ihn, wie diese Jahre damals für ihn gewesen waren, ob er sich erinnern könne. Er schaute mich freundlich an und lachte. Als ich meine Frage wiederholte, sagte er, dass er über diese Zeit noch nie gesprochen habe. Ich fragte ihn, ob er vielleicht noch nie mit einer Person wie mir gesprochen habe, die die Belagerung, die Erschießung von Menschen damals, als er noch ein Kind gewesen war, auf einem Fernsehbildschirm beobachtet hatte. Er antwortete, nein, er habe überhaupt noch nie, mit niemandem, mit keinem Mensch also über diese Zeit, deren Geräusche er kenne, gesprochen. Seine Mutter habe den Krieg überlebt, seine Schwester, die ein Jahr älter als er selbst gewesen war, sei gestorben. Und wieder lachte er, und dann klopfte er mir auf die Schulter, und ich stellte keine weitere Frage. — stop
von geheimnissen
whiskey : 2.03 — Intensives Gespräch mit einem Pater über Geheimnisse, die ich im Leben eines fremden Menschen entdeckte. Er bemerkt, eine Situation, wie die vorgestellte Situation, wäre ihm sehr vertraut, ich solle bedenken, man würde Geistlichen während der Beichte Geheimnisse gerne vorsätzlich erzählen. Mit Geheimnissen, erklärte der Pater, insbesondere mit zufälligerweise entdeckten Geheimnissen jeder Art sei würdig umzugehen, indem man ihre Entdeckung verschweigt und sie allmählich tatsächlich vergisst. — stop
ein zeitraum wird sichtbar
echo : 0.28 — Wann war es das erste Mal gewesen, dass ich von der Filmemacherin Laura Poitras hörte. Vielleicht im Sommer des Jahres 2013. Ich erinnere mich, jemand erzählte, sie sei eine in sich ruhende, sehr starke Frau, die niemals, auch in gefährlichen Situationen nicht, ihre Fähigkeit der Konzentration verlieren würde. In ihrem Dokumentarfilm Citizenfour, der vornehmlich in einem Hotel der Stadt Hongkong gedreht wurde, ist sie selbst kaum zu sehen. Ich meine ihre Gestalt sowie ihre Kamera in einem Spiegel für einige Sekunden wahrgenommen zu haben. Ein merkwürdiger, intensiv wirkender Film, dessen Bilder vage Vorstellungen der Ereignisse jenes Sommers mit wirklichen Bildern füllte. Edward Snowden sitzt barfuß auf einem Bett, meine Augen beobachteten ihn im Licht der vorgestellten, vermutlich sehr realen Gefahr, in der sich der junge, mutige und überaus klar sprechende Mann befand. Immer wieder hielt ich den Film an, um nachzudenken oder zu lernen. Einmal beobachtete ich indessen, wie sich Schnecke Esmeralda über den Boden meines Arbeitszimmers in Richtung eines geöffneten Fensters fortbewegte. Sie wanderte gemächlich die Wand hinauf zum Fensterbrett, wartete dort einige Minuten, während sie den Nachthimmel mit ihren Augen betastete, um sich schließlich hinaus an die raue Hauswand zu wagen. Einige Stunden später, in der Dämmerung des Morgens, kehrte sie zurück. Ihre Kriechspur schimmerte im ersten Licht des Tages an der Wand des Hauses, sie war, aus der Perspektive einer Schnecke betrachtet, weit herumgekommen. Den folgenden Tag über schlief Esmeralda tief und fest, wie mir schien, in der Küche auf dem Tisch. Ihr schweres Gehäuse lehnte an einer Aprikose. — stop
kurz vor mitternacht
sierra : 23.55 — In U‑Bahnen reisend immer wieder der Eindruck, Menschen würden mittels ihrer raschelnden Zeitungen zueinander sprechen. Eine Weile ist Ruhe, aber dann blättert jemand eine Seite um, und schon knistert der Waggon von Reihe zu Reihe weiter. Man möchte in diesen Momenten meinen, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal habe ich mir Zeitungspapiere von stoffartiger Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, sodass keinerlei Geräusch von ihnen ausgehen würde, sobald man sie berührte. Eine eigentümliche Stille, Geräuschlosigkeit, Leere, ein Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung. — Kurz vor Mitternacht. Ich habe diese kleine Geschichte soeben Schnecke Esmeralda vorgelesen, um sie zu wecken. Sie war in der Abenddämmerung über meinen Küchentisch gekrochen, hatte sich auf eine Banane gesetzt und war dann vermutlich eingeschlafen, während ich eine Debatte des griechischen Parlaments via Livestream beobachtete. Dort auf dem Bildschirm aufgeregte Menschen, die in einer wohlklingenden Sprache formulierten, die ich nicht verstehe, aber sofort erkenne, sobald ich sie vernehme. Einmal meinte ich, den Namen Willy Brandts gehört zu haben. — stop. Wolkenloser Himmel. stop. Nichts weiter. — stop
alexandros panagoulis
alpha : 2.58 — Ich beobachtete einen jungen Mann, der lange Zeit neben einer Ampel vor einer Kreuzung stand, eine vornehme und zugleich merkwürdige Erscheinung. Der Mann trug einen eleganten, grauen Anzug, hellbraune, feine Schuhe, ein weißes Hemd und eine Krawatte, feuerrot. Er machte etwas Seltsames, er setzte nämlich seinen rechten Fuß auf die Straße, um ihn sogleich wieder zurückzuziehen, als ob der Belag der Straße zu heiß wäre, um sie tatsächlich betreten zu können. Das ging eine Viertelstunde so entlang, ein früher Nachmittag, es regnete leicht. Der Mann schien nicht zu bemerken, dass ich ihn beobachtete. Um uns herum waren sehr viele Menschen unterwegs gewesen, die die Kreuzung Broadway Ecke 30. Straße schnellfüßig unter sich drehenden Regenschirmen überquerten. Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, der Mann würde sich verhalten wie eine Figur in einem sehr kurzen Film, der sich unablässig wiederholte. Einmal bleibt eine ältere Frau neben ihm stehen, sie schien zu zögern, aber dann trat sie doch entschlossen auf die Straße, um kurz darauf zurückzukehren und dem jungen Mann eine Tüte Nüsse zu überreichen. In genau diesem Augenblick ließ ich los und spazierte weiter in Richtung South Ferry, ohne mich noch einmal nach dem jungen Mann umzudrehen. — Kurz vor drei Uhr. Noch Stille draußen vor den Fenstern, kühle Nacht. Erinnerte mich vor wenigen Stunden an Alexandros Panagoulis, an das vorgestellte Bild des Dichters, wie er im griechischen Militärgefängnis Bogiati in einer Zelle sitzt. Er ist ohne Papier, er notiert Gedichte, die er aufhebt in seinem Kopf. Lange musste ich nach seinem Namen suchen, er war verschwunden gewesen, als hätte ich nie von ihm gelesen. — stop
papiere in zügen
delta : 0.08 — Ich erinnerte mich an einen Mann, dem ich vor zwei Jahren in einem New Yorker U‑Bahnzug begegnet war. Der Mann saß gleich vis-à-vis, sein Rücken lehnte an der Wand des Waggons, er hatte die Beine übereinander geschlagen, trug ramponierte, blaue Turnschuhe, und einen hellgrauen Anzug, ein weißes Hemd zudem, sowie eine grellbunte Krawatte, deren Knoten locker vor einem langen, schmalen Hals schaukelte. Ich hatte damals den Eindruck, dass der Mann sich freute, weil ich ihn beobachtete, indem er Zeitungen durchsuchte, die sich auf dem Sitzplatz neben ihm türmten, und zwar in einer sehr sorgfältigen Art und Weise durchsuchte, jede der Zeitungen Seite für Seite. Er schien Übung zu haben in dieser Arbeit, seine Augen bewegten sich schnell und ruckartig, wie die Augen eines Habichts, hin und her. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, sein Kopf neigte sich dann leicht nach vorn, um mit einer Schere einen Artikel oder eine Fotografie aus der Zeitung zu schneiden. Das Rascheln des Papiers. Und das helle, ziehende Geräusch der Schere, wie es die Seiten zerteilte. Ich notierte in mein Notizbuch: Ein verrückter Mann, ich werde ihm nie wieder begegnen. Diese Notiz habe ich heute bemerkt unter weiteren Notizen, die sich mit dem geduldigen Schlafen in U‑Bahnzügen beschäftigen. Ich frage mich nun, wie ich darauf gekommen sein könnte, den beobachteten Mann als verrückt zu bezeichnen. Vielleicht deshalb, weil ich mir vorgestellt hatte, wie der Mann leben könnte. Ich glaube, ich stellte mir das Leben eines Verrückten vor. In seiner Wohnung türmten sich Zeitungen, Tische, Stühle, Schränke existierten nicht, aber ein Bett, das von Papieren bedeckt war. Auch in der Wohnung, oder gerade eben dort, wurden Zeitungen durchsucht, neuere oder ältere Zeitungen, die der Mann während seiner täglichen Spazierfahrten durch die Stadt mit sich nahm. Eigentlich las der Mann die Zeitungen nicht wirklich, sondern nur Überschriften. Sobald er eine bemerkenswerte Überschrift entdeckte, wurde der dazugehörende Artikel gesichert, Artikel, die sich beispielsweise mit Blumen, Afrika, Ozeanografie, Geheimdiensten, Waffensystemen, Hungersnöten oder erzählender Literatur beschäftigten. Hunderttausende Schriftstücke waren so über viele Jahre gesammelt worden, eine faszinierende Tätigkeit, eine Arbeit, die den Mann glücklich gemacht haben könnte, ich vermute, weil er vor sich selbst verheimlichte, dass er seine gesammelten Dokumente niemals lesen wird, weil seine Lebenszeit nicht ausreichte, selbst dann nicht, wenn er das Sammeln einstellen und mit der Lektüre seiner Beweisstücke ohne Verzug beginnen würde. — stop