Aus der Wörtersammlung: werkzeuge

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von geckos

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nord­pol : 22.32 UTC — Irgend­je­mand, ver­mut­lich eine Per­son, die von dem Haus der alten Men­schen pro­fi­tiert, weil es ihr gehört, bewirk­te, dass das Dach über den Zim­mern der alten Men­schen, auch über jenen, die dem Tode nahe sind, abge­ris­sen wird mit schwe­ren Werk­zeu­gen, um ein wei­te­res Stock­werk auf dem Haus der alten Men­schen zu errich­ten. Staub rie­selt her­ein. Es reg­net. Wenn der Him­mel reg­net, reg­nen auch die Decken in den Zim­mern, als wären sie Wol­ken, und die Wän­de sind feucht, und die Augen der Kran­ken­schwes­tern zit­tern und ihre Nasen beben, wäh­rend sie durch die Flu­re von Zim­mer zu Zim­mern eilen, um die alten Men­schen zu beru­hi­gen, die kla­gen, die nicht ver­ste­hen, was geschieht. Es ist ein Fias­ko, es ist unvor­stell­bar, nie­mand wür­de eine Geschich­te glau­ben, wie die­se Geschich­te, die nicht erfun­den ist, wenn man sie erfun­den haben wür­de. Wie die Geckos über beben­de Wän­de huschen, Geckos in allen mög­lich Far­ben schil­lernd, See­len auf Füßen, die nicht wis­sen wohin. Davon muss erzählt wer­den, wenn ein­mal die rich­ti­ge Zeit gekom­men ist. — stop

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vom stempelwald

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alpha : 22.10 — Andrej erzähl­te, er habe beob­ach­tet, wie er, sobald er in Gedan­ken ver­sun­ken arbei­te, die Welt der Zei­chen auf Papie­ren mit der Welt der digi­ta­len Zei­chen auf Bild­schir­men in unmit­tel­ba­re Ver­bin­dung set­ze. Sobald er lan­ge Zeit auf einem Bild­schirm mit den Werk­zeu­gen der Bild­schir­me an einem Text gear­bei­tet habe, wür­de er, wenn er sich Zei­chen auf Papie­ren zuwen­de, den Ver­such unter­neh­men, auch dort Wör­ter, zum Bei­spiel mit­tels deh­nen­der oder zie­hen­der Bewe­gung zwei­er Fin­ger zu ver­grö­ßern, oder aber Wör­ter durch Berüh­rung zu unter­strei­chen oder aber aus­zu­schnei­den, was zunächst unge­dul­di­ge, sogar hef­ti­ge Wie­der­ho­lung sei­ner Ges­ten zur Fol­ge habe, bis er end­lich begrei­fe, dass er sich an gestem­pel­ten Wör­tern ver­su­che. — stop
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von rechenkernen

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lima : 18.12 UTC — Apfel­kern. Man­del­kern. Rechen­kern. — Ich stell­te mir vor, wie ich mit feins­ten Werk­zeu­gen einen Kirsch­kern öff­ne, wie ich in der Kirsch­kern­höh­le ein gefal­te­tes Blatt Papier able­ge, auf dem mit kleins­ten Schrift­zei­chen ein Gedicht ver­zeich­net wur­de. Wie ich nun den Kern ver­schlies­se, wie ich ihn zurück­le­ge in sei­ne Frucht, wie ich jetzt zufrie­den und glück­lich bin. — Oder die Vor­stel­lung der Rechen­ker­ne eines Pro­zes­sors. Wie ein oder zwei Roman­ent­wür­fe mög­li­cher­wei­se heim­lich in ihren Regis­ter­wer­ken ver­steckt sein könn­ten, kurio­se Idee. Das habe ich mir aus­ge­dacht, weil ich ges­tern Abend hör­te, dass Rechen­ker­ne für mathe­ma­tisch-logi­sche Sprach­ein­drü­cke zu jeder Zeit emp­fäng­lich sind. Dar­über soll­te unbe­dingt wei­ter nach­ge­dacht wer­den. — stop
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basskäfer : es ist samstag

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alpha : 17.15 UTC — Ein Bass­kä­fer ( Cole­op­te­ra cham­be­rus ) ist tat­säch­lich in etwa geformt wie ein Kon­tra­bass. Einen Fin­ger lang oder hoch, ver­mag der Käfer zu flie­gen, aber nicht zu gehen. Nähert man sich einem Bass­kä­fer vor­sich­tig, wird man sono­re Töne ver­neh­men, die einem Gehäu­se ent­kom­men, das vor­ne wie hin­ten, oben wie unten, ähn­lich beschaf­fen ist, eine Art Zep­pe­lin­luft­schiff mit einem Kopf, das auf dem Bauch lan­de­te. Das Gehäu­se glänzt als wäre es von polier­tem Holz. Der Käfer scheint nun auf den zwei­ten Blick hin, tat­säch­lich ein Käfer­we­sen zu sein, ins­be­son­de­re sein Kopf zeigt alle Merk­ma­le eines Käfer­kop­fes, Füh­ler, Augen, Mund­werk­zeu­ge, dar­über hin­aus ver­fügt sein zen­tra­ler Kör­per über Deck­flü­gel, wel­che sach­te beben, dar­un­ter ruhen durch­sich­ti­ge Schwin­gen, die den Käfer durch die Luft trans­por­tie­ren, jedoch nicht sehr dau­er­haft oder weit, weil es nicht vor­neh­me Auf­ga­be der Bass­kä­fer ist, her­um­zu­flie­gen, viel­mehr ist vor­neh­me Auf­ga­be der Bass­kä­fer, Geräu­sche zu erzeu­gen, die von der Art der Kon­tra­bass­instru­men­te sind, so wie wir Men­schen sie ken­nen, weil wir sie erfun­den haben. Des­halb sind an der äuße­ren Gestalt der Bass­kä­fer kei­ner­lei Bei­ne oder Füße zu erken­nen, weil sie sich im Inne­ren des Käfers befin­den. Dort zup­fen sie an Sai­ten von Chi­tin, stun­den- gar tage­lang. Bass­kä­fer schei­nen in die­ser Wei­se mit­ein­an­der zu kom­mu­ni­zie­ren. Sobald ein Bass­kä­fer auf einen Trom­pe­ten­kä­fer trifft, sind bei­de Käfer glück­lich. — stop

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nachtorte

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ulys­ses : 1.15 — Und träu­me von frü­her. Als die Zeit noch eine Figur war, die eine Rol­le spiel­te. Damals dach­te ich, dass, wenn bei uns Tag war, wir die Nacht auf der ande­ren Sei­te der Welt bewach­ten. Bis mir klar wur­de, dass wir ihren Schlaf nicht bewach­ten, son­dern sie im Schlaf aus­raub­ten. Dann bin ich auf­ge­wacht. — Die­se Beob­ach­tung habe ich in einer Text­samm­lung Ali­s­sa Walsers ent­deckt: Von den Tie­ren im Notie­ren. Kur­ze Zeit spä­ter, auf dem Weg zum Fens­ter, erin­ner­te ich mich an das Muse­um der Nacht­häu­ser, das sich am Shore Bou­le­vard nörd­lich der Hell Gates Bridge befin­det, die den New Yor­ker Stadt­teil Queens über den East River hin­weg mit Ran­di­lis Island ver­bin­det. Ich weiß nicht, ob das Muse­um noch immer exis­tiert, es war oder ist ein recht klei­nes Haus, rote Back­stei­ne, ein Schorn­stein, der an einen Fabrik­schlot erin­nert, ein Gar­ten, in dem ver­wit­ter­te Apfel­bäu­me ste­hen, und der Fluss so nah, dass man ihn rie­chen konn­te. Wäh­rend eines Spa­zier­gan­ges, zufäl­lig, ent­deck­te ich die­ses Muse­um, von dem ich nie zuvor hör­te. Es war ein spä­ter Nach­mit­tag, ich muss­te etwas war­ten, weil das Muse­um nicht vor Ein­bruch der Däm­me­rung öff­nen wür­de, ein Muse­um für Nacht­men­schen eben, die in Nacht­häu­sern woh­nen, wel­che erfun­den wor­den waren, um Nacht­men­schen art­ge­rech­tes Woh­nen zu ermög­li­chen. Als das Muse­um dann end­lich öff­ne­te, war ich schon etwas müde gewor­den, und weil ich der ein­zi­ge Besu­cher gewe­sen, führ­te mich ein jun­ger Mann per­sön­lich her­um. Er war sehr gedul­dig, war­te­te, wenn ich wie wild in mein Notiz­buch notier­te, weil er span­nen­de Geschich­ten erzähl­te von jenen merk­wür­di­gen Gegen­stän­den, die in den Vitri­nen des Muse­ums ver­sam­melt waren. Von einem die­ser Gegen­stän­de will ich kurz berich­ten, von einem metal­le­nen Wesen, das mich an eine Kreu­zung von Gecko und Spin­ne erin­ner­te. Das ver­ros­te­te Ding war von der Grö­ße eines Schuh­kar­tons. An je einer Sei­te des Objekt saßen Bei­ne fest, die über Saug­näp­fe ver­füg­ten, eine Kame­ra thron­te oben­auf wie ein Rei­ter. Der jun­ge Mann erzähl­te, dass es sich bei die­sem Gerät um ein Instru­ment der Ver­tei­di­gung han­del­te, aus einer Zeit, da Nacht­men­schen mit Tag­men­schen noch unter ein und dem­sel­ben Haus­dach wohn­ten. Das klei­ne Tier saß in der Vitri­ne in einer Hal­tung als wür­de er sich ducken, als wür­de es jeder­zeit wie­der eine Wand bestei­gen wol­len. Das war näm­lich sei­ne vor­neh­me Auf­ga­be gewe­sen, Zim­mer­wän­de zu bestei­gen in der Nacht, sich an Zim­mer­de­cken zu hef­ten und mit klei­nen oder grö­ße­ren Ham­mer­werk­zeu­gen Klopf- oder Schlag­ge­räu­sche zu erzeu­gen, um Tag­men­schen aus dem Schlaf zu holen, die ihrer­seits weni­ge Stun­den zuvor noch durch ihre erbar­mungs­los har­ten Schrit­te den Erfin­der der Geck­oma­schi­ne, einen Nacht­ar­bei­ter, aus sei­nen Träu­men geris­sen haben moch­ten. Es war, sag­te der jun­ge Mann, immer so gewe­sen damals in die­ser schreck­li­chen Zeit, dass sich Tag­men­schen sicher fühl­ten vor Nacht­men­schen, die unter ihnen leb­ten, die mit Schrit­ten Zim­mer­de­cken ihrer Woh­nung nie­mals erreich­ten. Aus und fini! — stop

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valletta : west street

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nord­pol : 2.54 — Ges­tern Abend erreich­te mich eine E‑Mail von Geor­ges. Er schreibt: Mein lie­ber Lou­is, wie ich durch die Stadt Val­let­ta schlen­der­te, bemerk­te ich in der West Street nahe St. Lucia eine klei­ne Werk­statt. Sie war düs­ter, aber gera­de noch hell genug, dass ich ein Mäd­chen erken­nen konn­te, das an einem Tisch saß, sie schien Haus­auf­ga­ben zu machen. Ich rich­te­te mei­ne Kame­ra auf das Mäd­chen, um es zu foto­gra­fie­ren, da hob sie den Kopf und sah mich an mit einem freund­li­chen Blick. Ich frag­te, ob ich ein­tre­te dür­fe. Es war ein wirk­lich düs­te­rer Ort, das Licht der Stra­ße erreich­te gera­de noch den Tisch, auf dem das Schul­heft des Mäd­chens lag, und es war kühl, und es ging ein leich­ter Wind. In der Tie­fe des Rau­mes erkann­te ich einen wei­te­ren Tisch, der von einer Glüh­bir­ne beleuch­tet wur­de, die ohne Schirm von der Decke bau­mel­te. Hin­ter dem Tisch hock­te ein dun­kel­häu­ti­ger, alter Mann mit wei­ßem Haar. Ich grüss­te auch in sei­ne Rich­tung. Als ich mich gera­de her­um­dre­hen woll­te, um auf die Stra­ße zurück­zu­keh­ren, schal­te­te der Mann einen glä­ser­nen Leucht­glo­bus an. Ein schö­nes blau­es und gel­bes Licht von Mee­ren und Wüs­ten strahl­te in den Raum, vor des­sen Wän­den Rega­le bis zur Decke rag­ten. Dort war­te­ten wei­te­re Erd­ku­geln, es waren eini­ge Hun­dert bestimmt. Ich bemerk­te, dass der Mann auf dem Tisch Gläs­chen mit Far­be zu einer Rei­he abge­stellt hat­te, er selbst hielt einen fei­nen Pin­sel und ein Mes­ser mit einer win­zi­gen Klin­ge in der Hand. Außer­dem ruh­te der Glo­bus vor dem Mann auf dem Kopf, viel­leicht des­halb, weil er ein­mal aus sei­ner Fas­sung genom­men und augen­schein­lich her­um­ge­dreht wor­den war, der Süd­pol befand sich im Nor­den, der Nord­pol im Süden der leuch­ten­den Kugel, an wel­cher der Mann mit sei­nen Werk­zeu­gen arbei­te­te. Es war eine Arbeit für ruhi­ge Hän­de. In dem Moment als ich näher gekom­men war, nah­men sie gera­de die Ent­fer­nung des Schrift­zu­ges Cape Town vor, der selbst auf dem Kopf ste­hend in das Blau des Mee­res jen­seits des afri­ka­ni­schen Kon­ti­nen­tes reich­te. Aus nächs­ter Nähe nun beob­ach­te­te ich, wie der alte Mann die Spu­ren, die die Radie­rung des Schrift­zu­ges erzeugt hat­te, mit blau­er Far­be füll­te. Immer wie­der prüf­te er indes­sen den Ton der Pig­men­te, in dem er eine Lupe in sein lin­kes Auge klemm­te. Er schien weit­ge­hen­de Erfah­rung in die­ser Arbeit gesam­melt zu haben, sei­ne Hän­de beweg­ten sich schnell, es roch nach Ter­pen­tin, und der Mann hauch­te gegen das Meer, wohl um sei­ne Trock­nung zu beschleu­ni­gen. Dann begann er zu schrei­ben, er schrieb Cape Town, er schrieb die Wör­ter so, dass sie nun rich­tig her­um vor unse­ren Augen erschie­nen. Ich erin­ne­re mich an ein Motor­rad, das auf der Stra­ße vor­bei knat­ter­te. Das Mäd­chen hat­te sei­ne Schul­hef­te geschlos­sen und war ins Licht der Son­ne getre­ten. Plötz­lich war es ver­wun­den. — stop
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stonington island

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whis­key : 2.32 — Das Labor der Eis­bü­cher, mit dem ich vor weni­gen Minu­ten tele­fo­nier­te, befin­det sich seit zwölf Wochen auf Ston­ing­ton Island, einer fel­si­gen Gegend am nörd­li­chen Rand des ant­ark­ti­schen Kon­ti­nents. Ich habe einen Text trans­fe­riert, der in die­sen Minu­ten mög­li­cher­wei­se von feins­ten Frä­sen in Eis­blät­ter ein­ge­tra­gen wird. Ich stel­le mir vor, ein hel­les Geräusch ist zu ver­neh­men, in dem ein Robo­ter äußerst behut­sam zu schrei­ben beginnt. Es geht dar­um, das Eis­blatt nicht zu zer­bre­chen, das so dünn ist, dass man mit einer Taschen­lam­pe hin­ter die Zei­chen mei­nes Tex­tes leuch­ten könn­te. Es ist kalt, der Wind pfeift um höl­zer­ne Bara­cken, in wel­chen hun­der­te Schreib­ma­schi­nen bewe­gungs­los war­ten, bis man sie anruft. Fol­gen­de Geschich­te habe ich ins Tele­fon gespro­chen: Drau­ßen, vor weni­gen Stun­den noch, rausch­te Was­ser vom Him­mel. Aber jetzt ist es still. Es ist eine tat­säch­lich nahe­zu geräusch­lo­se Nacht. Die letz­te Stra­ßen­bahn ist längst abge­fah­ren, kein Wind, des­halb auch die Bäu­me still und die Vögel, alle Men­schen im Haus unter mir schei­nen zu schla­fen. Für einen Moment dach­te ich, dass ich viel­leicht wie­der ein­mal mein Gehör ver­lo­ren haben könn­te, ich sag­te zur Sicher­heit ein Wort, das ich ges­tern ent­deck­te: Kapr­un­bi­ber. Das Wort war gut zu hören gewe­sen, mei­ne Stim­me klang wie immer. Aber auf dem Fens­ter­brett hockt jetzt ein Mari­en­kä­fer, einer mit gel­bem Pan­zer, sie­ben Punk­te, ich habe nicht bemerkt, wie er ins Zim­mer geflo­gen war. Es ist nicht der ers­te Käfer die­ses Jah­res, aber einer, den ich mit ganz ande­ren Augen betrach­te. Ich hat­te für eine Sekun­de die Idee, die­ser Käfer könn­te viel­leicht ein künst­li­cher Käfer sein, einer, der mich mit dem Vor­satz besuch­te, Foto­gra­fien mei­ner Woh­nung auf­zu­neh­men, oder Gesprä­che, die ich mit mir selbst füh­re, wäh­rend ich arbei­te. War­um nicht auch ich, dach­te ich, ein Ziel. Ich nahm den Käfer, der sei­ne Geh­werk­zeu­ge unver­züg­lich eng an sei­nen Kör­per leg­te, in mei­ne Hän­de und trans­por­tier­te ihn in die Küche, wo ich ihn in das grel­le Licht einer Tisch­lam­pe leg­te. Wie ich ihn betrach­te­te, bemerk­te ich zunächst, dass ich nicht erken­nen konn­te, ob der Käfer in der künst­li­chen Hel­lig­keit sei­ne Augen geschlos­sen hat­te. Weder Herz­schlag noch Atmung war zu erken­nen, auch nicht unter einer Lupe, nicht die gerings­te Bewe­gung, aber ich fühl­te mich von dem Käfer selbst beob­ach­tet. Also dreh­te ich den Käfer auf den Rücken und such­te nach einem Zugang, nach einem Schräub­chen da oder dort, einer Ker­be, in wel­che ich ein Mes­ser­werk­zeug ein­füh­ren könn­te, um den Pan­zer vom Käfer zu heben. Man stel­le sich ein­mal vor, ein sehr klei­ner Motor wäre dort zu fin­den, Mikro­pho­ne, Sen­der, Lin­sen, es wäre eine unge­heu­re Ent­de­ckung. Im Moment zöge­re ich noch, den ers­ten Schnitt zu setz­ten, es reg­net wie­der, jawohl, ich wer­de am Bes­ten zunächst noch ein wenig den Regen beob­ach­ten, es ist kurz nach drei. – stop

polaroidtapete

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vom nachthausmuseum

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sier­ra : 20.14 — Mein lie­ber Freund, als ich Dei­nen nächt­li­chen Brief las von den Geräu­schen im Haus, in dem Du wohnst, erin­ner­te ich mich an eine Geschich­te, die ich vor zwei Jah­ren notier­te. Ich stel­le mir vor, die­se Geschich­te könn­te Dich inter­es­sie­ren. Wenn Du Fra­gen haben soll­test, wie man als Nacht­mensch unter Tag­men­schen sinn­voll exis­tie­ren kann, mel­de Dich bit­te unver­züg­lich. Dein Lou­is. ps. Hier mei­ne Geschich­te: Das Muse­um der Nacht­häu­ser befin­det sich am Shore Bou­le­vard nörd­lich der Hell Gates Bridge, die den Stadt­teil Queens über den East River hin­weg mit Ran­di­lis Island ver­bin­det. Es ist ein recht klei­nes Haus, rote Back­stei­ne, ein Schorn­stein, der an einen Fabrik­schlot erin­nert, ein Gar­ten, in dem ver­wit­ter­te Apfel­bäu­me ste­hen, und der Fluss so nah, dass man ihn rie­chen kann. Wäh­rend eines Spa­zier­gan­ges, zufäl­lig, ent­deck­te ich die­ses Muse­um, von dem ich nie zuvor gehört hat­te. Es war ein spä­ter Nach­mit­tag, ich muss­te etwas war­ten, weil, so war zu lesen, das Muse­um nicht vor Ein­bruch der Däm­me­rung geöff­net wür­de. Es ist eben ein Muse­um für Nacht­men­schen, die in Nacht­häu­sern woh­nen, wel­che erfun­den wor­den waren, um Nacht­men­schen art­ge­rech­tes Woh­nen zu ermög­li­chen. Als das Muse­um öff­ne­te, war ich schon etwas müde gewor­den, und weil ich der ein­zi­ge Besu­cher in die­ser Nacht gewe­sen war, führ­te mich ein jun­ger Mann her­um. Er war sehr gedul­dig, war­te­te, wenn ich wie wild in mein Notiz­buch notier­te, weil er über­aus span­nen­de Geschich­ten erzähl­te von jenen merk­wür­di­gen Gegen­stän­den, die in den Vitri­nen des Muse­ums ver­sam­melt waren. Von einem die­ser Gegen­stän­de will ich kurz erzäh­len, von einem metal­le­nen Wesen, das mich an eine Kreu­zung zwi­schen einem Gecko und einer Spin­ne erin­ner­te. Das Ding war ver­ros­tet. Es hat­te die Grö­ße eines Schuh­kar­tons. An je einer Sei­te des Objekt saßen Bei­ne fest, die über Saug­näp­fe ver­füg­ten, eine Kame­ra thron­te oben­auf wie ein Rei­ter. Der jun­ge Mann erzähl­te, dass es sich bei die­sem Gerät um ein Instru­ment der Ver­tei­di­gung han­de­le, aus einer Zeit da Nacht­men­schen mit Tag­men­schen noch unter den Dächern ein und der­sel­ben Häu­ser wohn­ten. Das klei­ne Tier saß in der Vitri­ne, als wür­de er sich ducken, als wür­de es jeder­zeit wie­der eine Wand bestei­gen wol­len. Das war näm­lich sei­ne vor­neh­me Auf­ga­be gewe­sen, Zim­mer­wän­de zu bestei­gen in der Nacht, sich an Zim­mer­de­cken zu hef­ten und mit klei­nen oder grö­ße­ren Ham­mer­werk­zeu­gen Klopf,- oder Schlag­ge­räu­sche zu erzeu­gen, um Tag­men­schen aus dem Schlaf zu holen, die ihrer­seits weni­ge Stun­den zuvor noch durch ihre har­ten Schrit­te den Erfin­der der Geck­oma­schi­ne, einen Nacht­ar­bei­ter, aus sei­nen Träu­men geris­sen hat­ten. Ja, zum Teu­fel, schon zum hun­derts­ten Male war das so gesche­hen, obwohl man aller­freund­lichst um etwas Ruhe, um etwas Vor­sicht gebe­ten hat­te, nein gefleht, nein geflüs­tert. Es war, sag­te der jun­ge Mann, immer so gewe­sen damals in die­ser schreck­li­chen Zeit, dass sich jene Tag­men­schen, die über geräu­mi­gen Zim­mern wohn­ten, sicher fühl­ten vor jenen Nacht­men­schen, die unter ihnen wohn­ten und mit ihren Schrit­ten die Zim­mer­de­cke nie­mals errei­chen konn­ten. Aus und fini! — stop

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luftwesen

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india : 0.14 — Kurz nach Mit­ter­nacht. Fol­gen­des: Eine Droh­ne in der Gestalt eines Koli­bris sta­tio­niert seit weni­gen Minu­ten in einem Abstand von 1.5 Metern vor mir in der Luft. Sie scheint zu beob­ach­ten, wie ich gera­de über sie notie­re. Kurz zuvor war das klei­ne Wesen in mei­nem Zim­mer her­um­ge­flo­gen, hat­te mei­nen Kak­te­en­tisch unter­sucht, mei­ne Bücher, das Later­nen­si­gnal­licht, wel­ches ich vom Groß­va­ter erb­te, auch mei­ne Papie­re, Foto­gra­fien, Schreib­werk­zeu­ge. Ruck­ar­tig ver­la­ger­te das Luft­tier sei­ne Posi­ti­on von Gegen­stand zu Gegen­stand. Ich glau­be, in den Momen­ten des Still­stan­des wur­den Auf­nah­men gefer­tigt, genau in der Art und Wei­se wie in die­sem Moment eine Auf­nah­me von mir selbst, indem ich auf dem Arbeits­so­fa sit­ze und so tue als gin­ge mich das alles gar nichts an. Von der Droh­ne, die ich ver­sucht bin, tat­säch­lich für einen Koli­bri­vo­gel zu hal­ten, war zunächst nichts zu hören gewe­sen, kei­ner­lei Geräusch, aber nun, seit ein oder zwei Minu­ten, mei­ne ich einen lei­se pfei­fen­den Luft­zug zu ver­neh­men, der von den nicht sicht­ba­ren Flü­geln des Luft­we­sens aus­zu­ge­hen scheint. Die­se Flü­gel bewe­gen sich so schnell, dass sie nur als eine Unschär­fe der Luft wahr­zu­neh­men sind. Ein wei­te­res, ein hel­les fei­nes Geräusch ist zu hören, ein Wis­pern. Die­ses Wis­pern scheint von dem Schna­bel des Koli­bris her zu kom­men. Ich habe die­sen Schna­bel zunächst für eine Attrap­pe gehal­ten, jetzt aber hal­te ich für mög­lich, dass der Droh­nen­vo­gel doch mit die­sem Schna­bel spricht, also viel­leicht mit mir, der ich auf dem Sofa sit­ze und so tue, als gin­ge mich das alles gar nichts an. Ich kann natür­lich nicht sagen, was er mit­tei­len möch­te. Es ist denk­bar, dass viel­leicht eine ent­fern­te Stim­me aus dem Schna­bel zu mir spricht, ja, das ist denk­bar. Nun war­ten wir ein­mal ab, ob der klei­ne spre­chen­de Vogel sich mir nähern und viel­leicht in eines mei­ner Ohren spre­chen wird. — stop
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sieben punkte

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hima­la­ya : 5.06 — Drau­ßen, vor weni­gen Stun­den noch, rausch­te Was­ser vom Him­mel. Aber jetzt ist es still. Es ist eine tat­säch­lich nahe­zu geräusch­lo­se Nacht. Die letz­te Stra­ßen­bahn ist längst abge­fah­ren, kein Wind, des­halb auch die Bäu­me still und die Vögel, alle Men­schen im Haus unter mir schei­nen zu schla­fen. Für einen Moment dach­te ich, dass ich viel­leicht wie­der ein­mal mein Gehör ver­lo­ren haben könn­te, ich sag­te zur Sicher­heit ein Wort, das ich ges­tern ent­deck­te: Kapr­un­bi­ber. Das Wort war gut zu hören gewe­sen, mei­ne Stim­me klang wie immer. Aber auf dem Fens­ter­brett hockt jetzt ein Mari­en­kä­fer, einer mit gel­bem Pan­zer, sie­ben Punk­te, ich habe nicht bemerkt, wie er ins Zim­mer geflo­gen war. Es ist nicht der ers­te Käfer die­ses Jah­res, aber einer, den ich mit ganz ande­ren Augen betrach­te. Ich hat­te für eine Sekun­de die Idee, die­ser Käfer könn­te viel­leicht ein künst­li­cher Käfer sein, einer, der mich mit dem Vor­satz besuch­te, Foto­gra­fien mei­ner Woh­nung auf­zu­neh­men, oder Gesprä­che, die ich mit mir selbst füh­re, wäh­rend ich arbei­te. War­um nicht auch ich, dach­te ich, ein Ziel. Ich nahm den Käfer, der sei­ne Geh­werk­zeu­ge unver­züg­lich eng an sei­nen Kör­per leg­te, in mei­ne Hän­de und trans­por­tier­te ihn in die Küche, wo ich ihn in das grel­le Licht einer Tisch­lam­pe leg­te. Wie ich ihn betrach­te­te, bemerk­te ich zunächst, dass ich nicht erken­nen konn­te, ob der Käfer in der künst­li­chen Hel­lig­keit sei­ne Augen geschlos­sen hat­te. Weder Herz­schlag noch Atmung war zu erken­nen, auch nicht unter einer Lupe, nicht die gerings­te Bewe­gung, aber ich fühl­te mich von dem Käfer selbst beob­ach­tet. Also dreh­te ich den Käfer auf den Rücken und such­te nach einem Zugang, nach einem Schräub­chen da oder dort, einer Ker­be, in wel­che ich ein Mes­ser­werk­zeug ein­füh­ren könn­te, um den Pan­zer vom Käfer zu heben. Man stel­le sich ein­mal vor, ein sehr klei­ner Motor wäre dort zu fin­den, Mikro­pho­ne, Sen­der, Lin­sen, es wäre eine unge­heu­re Ent­de­ckung. Im Moment zöge­re ich noch, den ers­ten Schnitt zu setz­ten, es reg­net wie­der, jawohl, ich wer­de am Bes­ten zunächst noch ein wenig den Regen beob­ach­ten, es ist kurz nach drei. – stop

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