Aus der Wörtersammlung: zeit

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PRÄPARIERSAAL — so haben wir angefangen

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del­ta : 22.20 — Sobald ich mein Ton­band­ge­rät betrach­te, wenn ich beob­ach­te, wie sich zier­li­che Räd­chen hin­ter einer Schei­be bewe­gen, Lust, die klei­ne Maschi­ne aus­ein­an­der­zu­neh­men, alles zu betrach­ten und dann wie­der zusam­men­zu­set­zen, auch wenn viel­leicht Jah­re ver­ge­hen, bis die Zusam­men­hän­ge der Maschi­ne wie­der feh­ler­los her­ge­stellt sein wer­den. An die­sem Abend, da im Hin­ter­grund eine wei­te­re, eine digi­ta­le Ton­band­ma­schi­ne Joshua Red­man wie­der­holt, ist alles noch in Ord­nung, unbe­rührt, sagen wir. Tom erzählt: > Man geht also vor­sich­tig los, man kommt durch eine Klapp­tür in den Saal und sieht sofort, dass da sehr vie­le Men­schen sind. Ich hat­te zunächst ein paar Pro­ble­me damit, die Knöp­fe mei­nes Kit­tels in die Fin­ger zu bekom­men, weil ich einen Atlas unter den Arm geklemmt hat­te und ein Paar Latex­hand­schu­he in der einen Hand und in der ande­ren mei­nen Werk­zeug­kas­ten, eine höl­zer­ne Schach­tel mit Pin­zet­ten und Skal­pel­len. Ich habe mir gedacht, du musst jetzt nicht beson­ders sou­ve­rän sein, mein Jun­ge, son­dern zunächst ein­mal dei­nen Tisch fin­den und dei­ne Leu­te und dann wirst Du ganz ein­fach anfan­gen. Also bin ich gleich nach links gelau­fen, weil ich wuss­te, dass ich in einer Abtei­lung arbei­ten wer­de, die links liegt, wenn man das von der Tür aus betrach­tet. Aber dann hat­ten wir natür­lich kei­ne Ahnung, wie wir anfan­gen soll­ten. Wir stan­den um einen Tisch her­um und haben zunächst ein­mal abge­war­tet. Wir waren acht Leu­te. Weil wir uns noch nicht alle kann­ten, haben wir uns erst ein­mal vor­ge­stellt. Viel­leicht bekomm ich sie grad schnell zusam­men. Da war, zum Bei­spiel, Mika, eine Nor­we­ge­rin, und Micha­el, der mir am Tisch gleich gegen­über arbei­te­te, und Sus­an, die sich ein Tuch um ihren Kopf gebun­den hat­te, damit das Haar ihr nicht ins Gesicht fal­len konn­te. Und da waren Zue natür­lich, eine Afri­ka­ne­rin von der Elfen­bein­küs­te, die uns nicht immer ver­ste­hen konn­te, weil sie die eng­li­sche und fran­zö­si­sche Spra­che flüs­si­ger spre­chen konn­te als die deut­sche Spra­che, und Isme­ne, eine Grie­chin, die uns sofort erzählt hat­te, dass sie Chir­ur­gin wer­den wol­le. Ich erin­ne­re mich, Ihre Augen waren stark gerö­tet, viel­leicht weil ein schar­fer Geruch in der Luft hing, irgend­et­was, das die Augen reiz­te. Ich konn­te die­sen Geruch bereits auf der Stra­ße wahr­neh­men, und spä­ter, am Abend, zu Hau­se, hat­te ich ihn an den Hän­den. Kurz­um, wir haben dann also gewar­tet. Ich kann nicht genau sagen, wie lan­ge wir so gewar­tet haben. Das war eine selt­sa­me Situa­ti­on. Wir haben uns immer wie­der ange­lä­chelt. Ich glau­be, wir waren alle sehr ver­le­gen und stan­den zu die­sem Zeit­punkt unter einer gro­ßen Span­nung. Der Tisch hat­te die Num­mer 4/12. Eine rote Pla­ne war über die­sen Tisch aus­ge­brei­tet und wir konn­ten eine Kon­tur erken­nen, eine Erhe­bung. Wir wuss­ten, dass da ein Kör­per lag und dass die­ser Kör­per eher klein sein muss­te, zier­lich, sagen wir. Ich hat­te die Vor­stel­lung, dass dort unter der Decke eine Frau lie­gen könn­te. Und ich erin­ne­re mich, dass ich in die­sem Moment über­leg­te, ob das Geschlecht des Kör­pers, den ich in den kom­men­den Wochen aus­ein­an­der neh­men wür­de, eine Bedeu­tung für mich haben wür­de oder nicht. Und dann ging alles sehr schnell. Unser Coas­sis­tent kam zu uns an den Tisch und erkun­dig­te sich, ob alles o. k. sei. Er hat­te die Arme vor der Brust ver­schränkt und schau­te jeden ein­zel­nen von uns an und lach­te sehr freund­lich. Wir haben dann damit begon­nen, das rote Tuch vom Tisch zu neh­men. So haben wir angefangen.
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PRÄPARIERSAAL : zeppelin

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echo : 2.16 — Wall­street ges­tern Abend auf Fern­seh­bild­schirm. Hin­ter einem Repor­ter, der vom abwärts stre­ben­den Ver­hal­ten der Kur­se erzähl­te, war­te­ten japa­ni­sche Men­schen. Sie wink­ten fröh­lich in die Kame­ra, grüß­ten, fächel­ten sich Luft zu mit fleisch­far­be­nen Zei­tungs­pa­pie­ren. Es schien warm zu sein in New York, schwül. Wäre ich jetzt dort, dach­te ich, wür­de ich süd­wärts lau­fen zur nahe­ge­le­ge­nen Hafen­sta­ti­on, wür­de mich auf das obe­re Deck eines der alten Fähr­schif­fe bege­ben, wür­de bald im küh­len­den Fahrt­wind sit­zen, eine Coke in der lin­ken, eine Teig­ta­sche mit Hum­mer­fleisch in der rech­ten Hand, das Ton­band­ge­rät in der Tasche und Mels Stim­me im Kopf­hö­re­rohr, wie sie erzählt von ana­to­mi­scher Zeit. — 2 Uhr und zwan­zig Minu­ten. Regen. Blit­ze. Don­ner. Gera­de eben hör­te ich mich selbst, mei­ne eige­ne Stim­me. Ich for­mu­lier­te vor­sich­tig eine Fra­ge, woll­te wis­sen, ob Mel sich im ana­to­mi­schen Saal gefürch­tet habe? Nein, ant­wor­te­te Mel ohne zu zögern, sie habe sich nicht eine Sekun­de lang vor den Toten gefürch­tet. > Ich hat­te in die­sen 6 Wochen kei­ne Zeit, Angst zu haben. Ich habe mich auf mei­ne Auf­ga­be kon­zen­triert. Ich habe mich vor Testa­ten ein wenig gefürch­tet, und ganz am Anfang viel­leicht davor ein­mal rasch umzu­fal­len. Nur des­halb hat­te ich wirk­lich Angst, umzu­fal­len, das heißt nicht arbei­ten zu kön­nen, aber davon erzähl­te ich bereits. Wenn ich mir das jetzt genau über­le­ge, dann kann ich mich nicht erin­nern, dass im Prä­pa­rier­saal über­haupt irgend­je­mand umge­fal­len ist. Viel­leicht muss­te man mal aus dem Saal gehen und sich set­zen, weil man die Nacht zuvor nur kurz geschla­fen hat­te und des­halb müde war und weil die Augen brann­ten vom Form­alde­hyd in der Luft. Aber umge­fal­len, ich mei­ne, ohn­mäch­tig gewor­den, davon habe ich nichts mit­be­kom­men. Ich habe manch­mal den Ein­druck, dass ich das alles nur geträumt habe. Auch in der Zeit, als ich noch prä­pa­rier­te, hat­te ich bis­wei­len den Ein­druck, dass die­ser Saal nicht wirk­lich war. Ich konn­te mei­ne Ein­drü­cke nicht mit der Stra­ße, über die ich nach Hau­se spa­zier­te oder mit den Gesprä­chen der Men­schen, die ich in der U‑Bahn gehört habe, in Ver­bin­dung brin­gen. Ich hat­te den Ein­druck, dass der Saal, dass die gan­ze Situa­ti­on irgend­wie frei schweb­te, also ganz für sich war, iso­liert. Und so reis­te ich also hin und her, von da nach dort und wie­der zurück, aber das war nicht schwer gewe­sen, so hin und her zu sprin­gen. Ich habe von dem ein oder ande­ren mei­ner Freun­de gehört, dass sie Alb­träu­me gehabt hät­ten. Ich selbst habe aber nie geträumt. Ich kann mich jeden­falls nicht dar­an erin­nern, geträumt zu haben. Ich glau­be, ich war in irgend­ei­ner Wei­se geschützt. Ich kann nicht genau sagen, was mich geschützt hat, viel­leicht war es die Dich­te der Auf­ga­ben, die mir gestellt waren. Ich hat­te kei­ne Zeit, lan­ge über die­se merk­wür­di­ge Situa­ti­on nach­zu­den­ken. Ich mei­ne, ich habe nicht lan­ge dar­über nach­ge­dacht, dass ich, Mel, hier den Kör­per einer alten Frau so lan­ge zer­le­ge und betrach­te, dass er fast ver­schwun­den sein wird, wenn ich fer­tig sein wer­de. Ja, – es war sehr viel zu tun. Das hat es leich­ter gemacht.
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PRÄPARIERSAAL : kreide

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del­ta : 22.56 — Gewit­ter­him­mel. Abend. Mos­ki­t­o­fi­sche segeln von Zim­mer zu Zim­mer. Seit zwei Stun­den Juli­an, sei­ne tie­fe Ton­band­stim­me. Selt­sam ist, dass ich mich an Juli­ans Gesicht nicht erin­nern kann. Zeit und Ort der Ton­band­auf­nah­me, ein klei­nes Café in Schwa­bing zu Mün­chen, sind hin­ge­gen sofort erreich­bar. Sams­tag. Win­ter. Sobald sich die Tür des Cafés öff­ne­te, weh­te Schnee­wind her­ein. > Wir haben zunächst das Prä­pa­rat auf dem Tisch her­um­ge­dreht. Aber das sagt sich so leicht. Man kann das Prä­pa­rat nicht allei­ne her­um­dre­hen. Das Prä­pa­rat ist zu schwer, um von einer Per­son auf einem schma­len Tisch her­um­ge­dreht wer­den zu kön­nen. Wir haben das Prä­pa­rat gemein­sam bewegt. Ein inten­si­ver Moment. Wir schwit­zen. Wir hal­ten den Atem an. Das Prä­pa­rat ist feucht. Eine Hand hält den feuch­ten Kopf des Prä­pa­ra­tes, eine wei­te­re Hand einen feuch­ten Arm, Hän­de hal­ten feuch­te, küh­le Schen­kel, einen feuch­ten, küh­len Rücken, einen feuch­ten, küh­len Nacken. Wir haben noch nicht an Tie­fe gewon­nen, wir haben noch kei­nen Schnitt gesetzt. Wir sind noch am Anfang. Wir sind noch am ers­ten Tag. Wir haben noch nicht dar­über geschla­fen. Ich sehe, wie ich ein Stück Krei­de in die Hand neh­me. Ich neh­me die­ses Stück Krei­de in die rech­te Hand. Mit der lin­ken Hand tas­te ich über den Rücken mei­nes Prä­pa­ra­tes. Ich ertas­te Untie­fen, Kno­chen, fes­te Struk­tu­ren, die mei­nen Fin­gern Ori­en­tie­rung bie­ten. Sobald ich mit der lin­ken Hand eine Untie­fe, einen Kno­chen­punkt ertas­tet habe, zie­he ich mit der rech­ten Hand einen Kreis. Wenn ich mit der Krei­de den Kör­per berüh­re, gibt der Kör­per nach. Mein Fin­ger ist ein Werk­zeug des Tas­tens, die Krei­de ein Werk­zeug des Beschrei­bens. Ich zeich­ne dem Prä­pa­rat die Form eines Her­zens auf die Brust. Ich zeich­ne einen Magen auf den Bauch. Ich zeich­ne in die Tie­fe eine Nie­re links, eine Nie­re rechts. Ich habe die Ver­mu­tung eines Her­zens, ich habe die Ver­mu­tung eines Magens, ich habe die Ver­mu­tung einer Nie­re da und einer Nie­re dort. Das Prä­pa­rat ist ohne Geräusch. Es ist merk­wür­dig, alles scheint schon sehr lan­ge her zu sein, und doch habe ich den Ein­druck, dass kaum Zeit ver­gan­gen ist. Das Prä­pa­rat auf dem Tisch, die­ser Mensch, ist fast ver­schwun­den. — stop

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syrischer traum

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tan­go : 6.15 — Ich hat­te einen beun­ru­hi­gen­den Traum. In die­sem Traum wur­de mit Pan­zern auf pro­tes­tie­ren­de Men­schen geschos­sen. Pro­jek­ti­le, groß wie Kof­fer, flo­gen durch die Luft. Wenn sie einen Men­schen tra­fen, rotier­ten Kör­per­tei­le gegen den Him­mel. Über­haupt beweg­te sich die Welt in die­sem Traum sehr lang­sam, die Blät­ter der Bäu­me, Kin­der, die unter Pla­ta­nen Him­mel und Höl­le spiel­ten, auch jene flie­gen­den Eisen­kof­fer und das Feu­er, das aus den Geschütz­roh­ren der Pan­zer trat, alles zur Zeit­lu­pe ver­zö­gert. Ein­mal saß ich auf einer Bank. Ich hielt den Kopf eines Jun­gen in Hän­den. Durch ein furcht­erre­gen­des Loch in der lin­ken Wan­ge des Kin­des späh­te ich in das toben­de Gesicht eines Offi­ziers. Das alles war mir, noch im Traum befind­lich, sehr merk­wür­dig vor­ge­kom­men, weil die sin­gen­de Stim­me eines Kin­des in nächs­ter Nähe zu ver­neh­men gewe­sen war. — stop

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manhattan transfer

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fox­trott

~ : oe som
to : louis
sub­ject : DOS PASSOS
date : july 31 11 5.15 p.m.

Anstren­gen­de Tage lie­gen hin­ter uns, Regen, stür­mi­sche Win­de, schwe­rer See­gang, Peli­ka­ne krei­sen hoch über dem Schiff. Vor zwei Tagen zuletzt schick­ten wir Dos Pas­sos’ Roman Man­hat­tan Trans­fer zu Noe hin abwärts. Ein schwe­res Buch, das in vier­hun­dert Fuß Tie­fe von einer war­men süd­li­chen Strö­mung abge­trie­ben wur­de, bald dar­auf in einer Pen­del­be­we­gung der­art hef­tig nord­wärts gezo­gen wur­de, dass wir fürch­te­ten, Noe könn­te von dem Gewicht des Romans getrof­fen oder das Buch von der Sen­k­lei­ne in uner­gründ­li­che Tie­fen fort­ge­ris­sen wer­den. Drei Stun­den spä­ter hielt Noe John Dos Pas­sos in Hän­den. Unser Tau­cher bemerk­te sogleich, dass es sich bei die­sem wei­te­ren Unter­was­ser­buch um ein beson­de­res Werk han­deln muss­te, eine umfang­rei­che Satz­ver­samm­lung, von innen her, Sei­te für Sei­te, Zei­chen für Zei­chen apri­ko­sen­far­ben sanft beleuch­tet. In der­sel­ben Minu­te, da Noe das Buch öff­ne­te, begann er laut zu lesen. Er las drei Stun­den, dann schlief er kurz ein, um noch im Halb­schlaf befind­lich sei­ne Lek­tü­re fort­zu­set­zen: Die Son­ne ist nach Jer­sey gerückt, die Son­ne steht hin­ter Hobo­ken. Hül­len schnap­pen über Schreib­ma­schi­nen, Roll­la­den­schreib­ti­sche schlie­ßen sich. Auf­zü­ge fah­ren leer in die Höhe, kom­men voll­ge­pfropft her­un­ter. Es ist Ebbe in der City, Flut in Flat­bush, Wood­lawn, Dyck­man Street, Sheep­s­head Bay, News Lots Ave­nue, Can­ar­sie. Rosa Zei­tun­gen, grü­ne Zei­tun­gen, graue Zei­tun­gen. Sämt­li­che Bör­sen­kur­se. Sport­re­sul­ta­te. Let­tern wir­beln über laden­mü­de, büro­mü­de schlaf­fe Gesich­ter, wun­de Fin­ger­spit­zen, schmer­zen­de Fuß­ris­te, mus­ku­lö­se Män­ner, Gedrän­ge im U‑Bahn-Express. — Kurz vor Son­nen­un­ter­gang. Das Meer sucht nach uns, mit Zun­gen von Gischt. Ein rie­si­ger Schwarm Makre­len nähert sich von Nor­den her, unge­heu­re Bewe­gung, wie eine rie­si­ge Hand fährt sie auf dem Radar­schirm lang­sam die Küs­te ent­lang. Noe wünscht, eine Foto­gra­fie John Dos Pas­sos’ zu sehen. So etwas hat’s noch nie gege­ben. — Ahoi! Dein OE

gesen­det am
31.07.2011
1962 zeichen

oe som to louis »

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PRÄPARIERSAAL : libelle

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echo : 6.12 — Ich habe  auf einem Fern­seh­bild­schirm Jona­than Fran­zen beob­ach­tet, wie er in sei­nem New Yor­ker Arbeits­zim­mer sit­zend von Appa­ra­tu­ren erzählt, die ihm behilf­lich sein könn­ten, den Lärm der Stadt oder des Hau­ses, in dem er sich befin­det, von sei­nen Ohren zurück­zu­hal­ten. Er berich­tet das unge­fähr so: Ich habe eine Men­ge Lärm­schutz­vor­rich­tun­gen. Ich schüt­ze mich gegen Lärm mit Schaum­gum­mistöp­seln. Sie sind wich­tig. / Und dar­über hin­aus habe ich mei­ne Kopf­hö­rer. Und zudem noch rosa Rau­schen auf CD. / Das ist wie wei­ßes Rau­schen, aber es ist etwas wär­mer im Ton. Es beschränkt sich auf die nied­ri­gen Fre­quen­zen. Es klingt wie eine Raum­kap­sel in der Atmo­sphä­re mit einem wun­der­vol­len Brau­sen, ein alles umhül­len­des Brau­sen, das plötz­lich ver­schwin­det. stop. Weit nach Mit­ter­nacht, küh­le Luft. stop. Lun­ge­re auf dem Sofa her­um, höre ana­to­mi­sche Ton­band­auf­nah­men ab, Wör­ter, Sät­ze, Gedan­ken einer fer­ne­ren Zeit, die sofort wie­der sehr nahe kom­men, viel­leicht des­halb, weil sie von typi­schen Geräu­schen jenes Ortes, an dem sie auf­ge­nom­men wur­den, beglei­tet sind. Das Rau­schen der Stim­men hun­der­ter Men­schen. Pin­zet­ten, die gegen Metall klop­fen. Eine Laut­spre­cher­durch­sa­ge: Den­ken Sie bit­te dar­an, der Prä­pa­rier­saal wird vor dem Tes­tat am kom­men­den Mon­tag bereits um 7 Uhr geöff­net. Das klei­ne Wie­der­ga­be­ge­rät, das neben mir auf einem Kis­sen ruht, bewegt sich nicht oder nur so leicht, dass mei­ne Augen die­se Bewe­gung nicht wahr­neh­men kön­nen. Ein­mal den­ke ich an etwas ande­res, als das, was zu hören gewe­sen war, und bemer­ke in die­ser Wei­se, dass ich, in dem ich an etwas den­ke, das ent­fernt ist, mei­ne Ohren aus­zu­schal­ten ver­mag. Des­halb muss­te ich soeben das Band zurück­spu­len und Tho­mas’ fei­ne Geschich­te wie­der­ho­len, die von einer Libel­le erzählt. Hört zu: Wir hat­ten einen Mann auf dem Tisch, einen männ­li­chen Kör­per von dunk­ler Far­be und von außer­or­dent­li­cher Grö­ße. Ich glau­be, die­ser Kör­per war der größ­te Kör­per des Kur­ses. Ich war erstaunt, weil ich mit einem Prä­pa­rat, das grö­ßer sein wür­de, als ich selbst, nicht gerech­net habe. Nein, einen Hünen hat­te ich wirk­lich nicht erwar­tet. Sie müs­sen wis­sen, ich habe mir sehr bewusst kei­ne genau­en Vor­stel­lun­gen von der Wirk­lich­keit des Ana­to­mie­saa­les gemacht. Ich hat­te ver­mu­tet, dass die Luft kühl sein wür­de, aber an dem Tag, als wir unse­re Arbeit auf­nah­men, war es som­mer­lich warm und ich schwitz­te und hat­te Mühe, ohne Unter­bre­chung dar­an zu den­ken, mir mit den feuch­ten Hand­schu­hen nicht ins Gesicht zu fah­ren. Ich hat­te erwar­tet, dass das Licht im Saal eher gedämpft sein wür­de, aber es war strah­lend hell, ein Licht, das kaum einen Schat­ten warf. Und ich hat­te einen über­schau­ba­ren Kör­per erwar­tet, einen eher klei­nen Kör­per, den Kör­per eines uralten Men­schen. Ich habe mit altern­den Men­schen immer Gestal­ten in Ver­bin­dung gebracht, die zer­brech­lich sind, Kör­per, die klei­ner wer­den, die sich zurück­zie­hen, die man stüt­zen muss, füh­ren, die noch im Leben durch­läs­sig wer­den für das Licht. Dort vor mir auf dem Tisch aber lag ein Mann, der gera­de­zu strotz­te vor Kraft. Er war nicht fett, son­dern mus­ku­lös, und am Bauch und an der Brust, an Armen und Bei­nen sehr stark behaart gewe­sen. Ich wer­de die­sen Anblick mein Leben lang nicht ver­ges­sen. Ich habe den Mann sehr lan­ge Zeit betrach­tet. Die­ses geschwol­le­ne Gesicht war das Gesicht eines schla­fen­den Boxers. Sei­ne Augen waren geschlos­sen, die Hän­de zu Fäus­ten geballt und sei­ne Füße sahen ganz so aus, als hät­te er sie schon vor sehr lan­ger Zeit ver­ges­sen. Ich habe ihn mehr­fach umkreist, und dann haben wir ihn gemein­sam auf dem Tisch her­um­ge­dreht. Sehr fest muss­ten wir zugrei­fen. Ich sage Ihnen, das ist nicht leicht, am ers­ten Tag in die­sem Saal so fest zuzu­fas­sen. Man ist ja sehr vor­sich­tig und man ist dank­bar für die­ses Geschenk, das ein Mensch für uns zurück­ge­las­sen hat. Und als wir ihn dann her­um­ge­dreht hat­ten, konn­ten wir eine Libel­le erken­nen. Sie war links oben auf sei­nem Rücken ein­tä­to­wiert, regio sca­pu­la­ris, Sie ver­ste­hen? Ein erstaun­lich prä­zi­se gezeich­ne­tes Bild, nicht sehr groß, viel­leicht gera­de so groß wie ein Mit­tel­fin­ger des Man­nes und in blau­en, roten und grü­nen Farb­tö­nen aus­ge­führt. In die­sem Moment hat­te ich eine Vor­stel­lung, die in das Leben des Man­nes auf dem Tisch zurück­führ­te. Ich habe mir vor­ge­stellt, wie er als jun­ger Mann in einer Bade­an­stalt mit den Mus­keln spiel­te, wie er sei­nen Insek­ten­vo­gel in Bewe­gung setz­te, um einer Frau zu gefal­len viel­leicht. Aber da war noch etwas ande­res, da war die Fra­ge, was wir sehen wür­den, sobald wir die Haut unter der Libel­le so weit gelöst hät­ten, dass ein Blick auf ihre Rück­sei­te mög­lich wer­den würde.

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menkem

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nord­pol : 4.56 — Flug­ha­fen. Frü­her Mor­gen. Regen. Das Licht ver­spä­tet sich, Flug­zeu­ge, die wei­te Stre­cken gegen die Nacht geflo­gen sind, rei­hen sich, eine Ket­te zit­tern­der Lich­ter, hin­ter­ein­an­der bis zum Hori­zont. Neben mir auf einer Bank, den Blick auf die Lan­de­bahn gerich­tet, sitzt ein alter Mann. Er heißt Men­kem. Men­kem lebt seit vie­len Jah­ren in Deutsch­land, ein afri­ka­ni­scher Mann, der Ita­lie­nisch flie­ßend spricht, Trig­r­in­ja und auch Deutsch, eine Spra­che, die ihm nicht so leicht von den Lip­pen gehen will, wes­we­gen er sehr lang­sam, Wort für Wort, for­mu­liert. Wir war­ten auf einen wei­ßen Vogel, einen Air­bus 380, Lini­en­flug LH 401 New York JFK – Frank­furt am Main, um 5 Uhr 15 soll das Flug­zeug ein­tref­fen. Da noch Zeit ist, fra­ge ich, ob sich Men­kems Fami­lie in Sicher­heit befin­den wür­de oder ob sie viel­leicht von Hun­ger bedroht sei in die­sen Wochen. — Lan­ge andau­ern­des Schwei­gen. — Dann ant­wor­tet mir der alte Mann. Er sagt: Afri­ka ist groß, sehr, sehr groß. Wir essen in Eri­trea nicht vom Boden, wir sit­zen immer auf einem Stein oder auf einem Stück Holz, wenn wir eines fin­den, oder wir haben ein Tuch, auf das wir uns set­zen kön­nen. Wir sind ein­fa­che Mahl­zei­ten gewöhnt, wir essen nicht kom­pli­zier­te Din­ge wie die Men­schen in Äthio­pi­en, sofern sie nicht in Armut leben. Aber wir essen nie­mals vom Boden. Unse­re Spei­sen sind scharf gewürzt. Oft haben wir sehr wenig. Immer müs­sen wir uns beei­len, essen, und dann sofort wei­ter. Der alte Mann macht eine schnel­le Bewe­gung mit sei­ner Hand, als woll­te er etwas von sich wer­fen. — stop

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PRÄPARIERSAAL : namen

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marim­ba : 22.51 — Feuch­te Flie­gen lun­gern am Abend auf dem Boden her­um. Das sanf­te, ein­schlä­fern­de Geräusch des Was­sers, Dun­kel­heit kommt bald aus den Wol­ken gefal­len. Unter dem Schirm dort wei­ter ana­to­mi­sche Ton­bän­der ver­zeich­net. Vero­ni­ka* erzählt eine fei­ne Geschich­te, die ich bei­na­he genau so wie­der­ge­be, wie ich sie vor weni­gen Minu­ten hör­te: > Ich ste­he vor einem Tisch und betrach­te einen Kör­per. Das ist ein Bild, das ich nicht erfun­den habe, ein Bild, das jetzt zu mei­nem Leben gehört. Eine Frau, die in einem wei­ßen Kit­tel vor einem Tisch steht, auf dem ein Mensch liegt, der tot ist. Ich habe mit den Ursa­chen die­ses Todes nichts zu tun, ich emp­fin­de kei­ne Trau­er, aber Respekt. In den ers­ten Minu­ten im Saal am Tisch habe ich nicht sehr geord­net, nicht sys­te­ma­tisch jeden­falls nach­ge­dacht. Ich glau­be, ich habe zunächst ver­sucht, ein Gefühl, ein geeig­ne­tes Gefühl für die­se Situa­ti­on zu fin­den, eine Posi­ti­on, mei­ne Posi­ti­on. Kurz zuvor waren wir noch im Hör­saal gewe­sen. Unser Pro­fes­sor hat­te ein Prä­pa­rat mit­ge­bracht. Die­ser hel­le Kör­per, der weit ent­fernt in einem Oval unter den hoch auf­ra­gen­den Sitz­rei­hen auf einer Bah­re lag, hat­te etwas Ein­sa­mes an sich. Als ich mich dann an mei­nem Tisch ste­hend über den Kör­per eines Man­nes beug­te, den ich in den fol­gen­den Wochen zer­le­gen wür­de, such­te ich unwill­kür­lich nach Spu­ren, die zu einer Vor­stel­lung füh­ren könn­ten, wie er ein­mal leb­te. Aber da war nichts, was mich mit sei­ner Zeit noch ver­bin­den konn­te, kein Name. Das Haar des Man­nes war ent­fernt, an sei­nen Ohren waren höl­zer­ne Schil­der ange­bracht, auch an sei­nen Hand­ge­len­ken und an sei­nen Füßen, sein Gesicht war ohne jeden Aus­druck. Ich erin­ne­re mich, der Mann wirk­te weder fried­lich noch so, als wür­de er nur schla­fen, da waren weder Zei­chen einer lan­gen Lei­dens­zeit noch Spu­ren eines Kamp­fes. Das Gesicht war leb­los, ein Gesicht ohne Aus­strah­lung, ohne Elek­tri­zi­tät. Der Kör­per erin­ner­te mich an eine gro­ße Pup­pe, er hat­te etwas Sche­ma­ti­sches, aber viel­leicht war das bereits mein Blick, mei­ne Per­spek­ti­ve gewe­sen, die die­sen Ein­druck erzeug­te? Ein Bein und noch ein Bein. Ein Arm und noch ein Arm, und ein Kopf. Ich konn­te das bald gut, die­sen Mann, die­sen Kör­per betrach­ten. Ich war ganz ent­spannt dabei. Ich wuss­te auch, dass sich die­ser Kör­per sehr rasch ver­än­dern wür­de in der Fol­ge mei­ner Arbeit. Ich war der fes­ten Über­zeu­gung, dass wir dem Toten kei­nen Namen geben soll­ten. Ich war sehr froh, dass ich nicht wuss­te, wie sein Name lau­te­te, als er noch leb­te. Ich habe, kurz­um, ver­sucht, die­sen Kör­per auf dem Tisch als ein Prä­pa­rat zu betrach­ten, als eine für uns kost­ba­re Hül­le, als ein Ver­mächt­nis. Mei­ne Kom­mi­li­to­nen haben ihm einen Namen gege­ben, aber wir haben uns des­halb nicht gezankt. Ich habe mich an der Suche nach einem Namen ganz ein­fach nicht betei­ligt. - stop

* Name geändert
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isaac bashevis singer

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sier­ra : 22.55 — Mitt­woch. Abend. Wei­ter­hin Regen. Regen auch wäh­rend ich schlief. Ich konn­te ihn hören bis­wei­len, wenn ich auf­tauch­te, ohne ganz wach zu wer­den. Von irgend­wo­her jetzt ein Geräusch, pling, pling, und Isaac B. Sin­gers hel­le und zugleich raue Stim­me, indem sie eine Geschich­te erzählt, die ich in den ver­gan­ge­nen Tagen wie­der und wie­der hör­te. Die Geschich­te geht so: Kurz nach mei­ner Ankunft (in Ame­ri­ka) betrat ich zum ers­ten Mal eine Cafe­te­ria, ohne zu wis­sen, was das ist. Ich hielt es für ein Restau­rant. Ich sah lau­ter Leu­te mit Tabletts und frag­te mich, war­um man in so einem klei­nen Restau­rant so vie­le Kell­ner brauch­te. Ich gab jedem, der mit einem Tablett vor­bei­kam, ein Zei­chen. Ich hielt sie alle für Kell­ner und woll­te etwas bestel­len. Aber sie igno­rier­ten mich, man­che lächel­ten auch. Und ich dach­te, was für ein unwirk­li­cher Ort! Es war wie in einem Traum. Ein klei­nes Café mit so vie­len Kell­nern, und nie­mand beach­tet mich! Irgend­wann begriff ich, was eine Cafe­te­ria ist. Sie wur­de mein zwei­tes Zuhau­se. Die Cafe­te­ri­en wur­den eine Art Zuhau­se für Flücht­lin­ge aus Polen, Russ­land und ande­ren Län­dern. Vie­le mei­ner Geschich­ten spie­len in Cafe­te­ri­en, wo all die­se Men­schen auf­ein­an­der­tra­fen: die Nor­ma­len, die weni­ger Nor­ma­len und die Ver­rück­ten. Das ist also der Hin­ter­grund mei­ner Geschich­ten, die in Cafe­te­ri­en spie­len. — stop

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regentaucher

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sier­ra : 18.55 — Ich habe Geräu­sche ent­deckt, Töne, die vie­le Jah­re zurück ein­mal in mei­nem Leben exis­tier­ten. Ich lag damals oft auf dem Rücken in einem Wagen, der schau­kel­te. Groß war ich zu jener Zeit noch nicht gewe­sen, ich war nicht län­ger als 50 cm. Meis­tens trug ich kei­ne Schu­he. Ich erin­ne­re mich, dass die Wol­ken und der Him­mel über mir schau­kel­ten, und da war ein höl­zer­nes Röhr­chen, von dem wei­te­re höl­zer­ne Röhr­chen bau­mel­ten, die klim­per­ten, hel­le Geräu­sche, wäh­rend sich der Wagen und ich beweg­ten, oder auch dann hel­le Geräu­sche, wenn der Wagen ange­hal­ten war, weil ich sofort mit mei­nen klei­nen Hän­den nach den Röhr­chen lang­te. Jetzt, da ich jene ent­fern­ten Geräu­sche erin­ner­te und ihre Ent­ste­hung, kann ich sie belie­big zur Auf­füh­rung brin­gen, obwohl sie so unmög­lich in der Wirk­lich­keit sind, wie Geräusch des Regens für einen Tief­see­tau­cher uner­reich­bar. — stop
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