romeo : 6.28 — Seit meiner Kindheit besitze ich eine Puppe von Holz. Ich habe sie unter dem Namen Babuschka kennengelernt. Dieser Name war so lange gültig gewesen, bis mir eine russische Bekannte erzählte, dass es sich eigentlich um eine Matrjoschkapuppe handeln würde. Man kann diese Puppe öffnen, indem man an ihr dreht, bis sie sich an ihrem Bauch derart entzweit, dass sie tatsächlich aus zwei Teilen mit exakt geschnittenen Rändern besteht, einem unteren Teil mit Füssen, die in Farbe auf das helle Holz aufgetragen sind, und einem oberen Teil mit einem gezeichneten Kopf. Mit dieser Trennung geht die Gestalt der Puppe jedoch nicht wirklich verloren, weil sie in einer kleiner gewordenen Ausgabe, die sich in der größeren Puppenform versteckte, weiterhin vorliegt. Sie verfügt über das gleiche Gesicht, wie ihre Hülle, über einen etwas kleineren Mund, und gleichfalls gerötete Wangen und kleinere Augen, und sie drückt in dieser Erscheinung nichts anderes aus als: Ich bin nur eine Hülle, ich trage mein eigentliches Inneres in mir, mein Wesen, öffne mich! Und so weiter und so fort. Gestern nun habe ich einen Brief gelesen, in dem von der Gattung der Babuschkapuppen die Rede war. Ich hatte den Brief noch nicht zu Ende studiert, da stand ich auf und ging zum Regal, nahm meine Puppe seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder in die Hand und öffnete sie. Tatsächlich habe ich sofort ein intensives Gefühl wahrgenommen, eine Empfindung meiner Kindheit, zugleich in der Zeit weit entfernt und nah und vertraut. Hier der Brief, der mir meine Puppe von Holz in Erinnerung gerufen hatte. Miriam erzählt von Erfahrungen des Präpariersaales: Zuerst also haben wir die Haut entfernt und dann das Fett. Das war wie ein zweiter Mantel gewesen, und dann kamen die Muskeln dran, und plötzlich war der Bauch offen. Bis dahin habe ich immer an diese Babuschkapuppen gedacht. Die werden ja auch immer kleiner, wenn man eine geöffnet hat und danach die nächste. Aber dann waren auf dem Tisch plötzlich nur noch Arme und Beine und ein Kopf, der aus zwei Teilen bestand. Ich weiß noch, wie ich am Ende des Tages alles so hingelegt habe, als wäre der Rumpf noch da, solch eine Ordnung habe ich versucht. Das sah also aus wie ein Strichmännchen. Aber eben ohne Bauch. Ich erinnere mich in diesem Moment sehr gut an eine merkwürdige Geschichte aus der Anfangszeit des Kurses. Ich war schon sehr früh am Morgen im Präpariersaal des Institutes. Ich hatte schlecht geschlafen wegen einer leichten Grippe, und so war ich eine der ersten Studentinnen gewesen, die an diesem Tag die Arbeit an ihrem Leichnam aufgenommen haben. Ich präparierte an einem der Arme, eine recht komplizierte Angelegenheit war das gewesen, und ich dachte immer wieder, dass meine Hand nicht ruhig genug wäre, um eine so feine Aufgabe auszuführen. Ich fluchte also ein wenig vor mich hin und dann entschuldigte ich mich plötzlich. Ganz im Ernst. Ich entschuldigte mich bei dem Leichnam für meine unfreundlichen Worte. Ich höre das jetzt noch. Ich höre mich sagen: Sorry! Und ich sage Dir, ich habe mich gut gefühlt. Ich habe, nachdem mir bewusst geworden war, dass ich zur Leiche gesprochen hatte, noch ein wenig so weitergemacht. Eine Unterhaltung war das natürlich nicht. Ein Monolog. One way! Aber gut. — stop
Aus der Wörtersammlung: anfang
anton voyls fortgang
~ : oe som
to : louis
subject : ANTON VOYLS FORTGANG
date : nov 10 12 10.08 p.m.
Es ist gekommen, wie ich es erwartet habe. Noe schweigt. Wir haben ihm George Perecs Roman Anton Voyls Fortgang in die Tiefe geschickt. Es handelt sich in unserer Versuchsanordnung um das Unterwasserbuch No 282, ein Buch, in dem der Buchstabe E auf 320 Seiten nicht erscheinen wird. Kurz nachdem Noe seine Lektüre mit fester Stimme aufgenommen hatte, versuchten wir vorherzusehen, wie lange Zeit Noe lesen würde, ehe er das vollständige Fehlen eines bedeutenden Buchstabens im Text bemerkt haben würde. Er las etwa 10 Minuten, dann hörte er auf, seine Stimme wurde zunächst leiser, er dehnte die Worte, sagte, dass ihm etwas merkwürdig vorkommen würde, er könne bisher nicht sagen, was genau ihm merkwürdig erscheine, er müsse nachdenken. Wir sitzen jetzt alle vor den Lautsprechern und Bildschirmen und warten. Im Schein der Lampe, die Noe und das Buch, das er in seinen schweren Händen hält, beleuchtet, sehen wir, dass er sich langsam bewegt. Er scheint im Buch zu blättern. Er scheint überhaupt noch immer, nach 656 Tagen in einer Meerestiefe von 820 Fuß schwebend, ein guter Beobachter zu sein, obwohl es nichts zu sehen gibt als etwas Dämmerung, wenn Tag geworden ist, und ein paar Fische, die ihn von Zeit zu Zeit besuchen. Ich nehme an, Noe wird oft an uns denken. Er hört uns zu, hört, was wir sprechen, auch dann, wenn wir unter uns sind, wenn wir vergessen haben, das Mikrofon auszuschalten. An der Art und Weise wie wir atmen, vermag Noe zu unterscheiden, ob Lin, Eric, Martin, Tom, Lilly oder ich vor dem Mikrofon Platz genommen haben. Gerade eben beginnt er wieder zu lesen, er scheint an den Anfang des Buches zurückgekehrt zu sein: In Rocamadour gabs Mundraub sogar am Tag: man fand dort Thunfisch, Milch und Schokobonbons im Kilopack. Und wieder schweigt Noe. Es ist später Abend. Samstag. Ein Frachtschiff, hell beleuchtet, lungert am Horizont. Ahoi, lieber Louis. Dein OE SOM
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10.11.2012
1856 zeichen
samia yusuf omar
alpha : 0.03 — Nachrichtenagenturen meldeten gestern, Montag, 20. August 2012, die somalische Sprinterin Samia Yusuf Omar sei im Alter von 21 Jahren auf dem Weg nach London zu Olympischen Spielen ertrunken. Sie reiste auf einem Flüchtlingsschiff von Libyen aus nordwärts. Die Havarie des Bootes soll sich im Kanal von Sizilien nahe der Insel Malta bereits Anfang April ereignet haben. Einzige Vertreterin ihres Heimatlandes während der Olympischen Spiele 2008 in Peking, hatte sich Samia Yusuf Omar allein auf den gefährlichen Weg nach Europa begeben. — stop
zikaden
alpha : 0.50 – Einem Menschen vorzulesen, von dem ich nicht weiß, ob er mir zuhören kann, ob er vielleicht schläft oder beides. Ja, eine solche Nacht, eine Nacht, die fünf oder sechs Jahre zurückliegt. Der Mensch, an dessen Bett ich wartete, hatte hohes Fieber. Ich trocknete sein Gesicht von Zeit zu Zeit, ich nahm seine Temperatur, ich hörte seinen Atem. Manchmal ging ich spazieren in der Wohnung oder in den Garten. Es war August, eine Handvoll Zikaden musizierte, schwüle, süße Luft. Dann wieder am Bett. Mit Mühe die Augen offengehalten. In der Küche Kaffee gemacht. Nach Atem gelauscht. Das Buch geöffnet und weitergelesen. Stimme, manchmal fragende Stimme: Hörst du mich, hörst Du mir zu? Soll ich weiterlesen? Also lese ich weiter, ich lese Ágota Kristóf, ich lese davon, wie man Schriftsteller wird. Zuallererst muss man natürlich schreiben. Dann muss man weiterschreiben. Selbst wenn es niemanden interessiert. Selbst wenn man das Gefühl hat, dass es niemals jemanden interessieren wird. Selbst wenn die Manuskripte sich in den Schubladen stapeln und man sie vergisst, während man neue schreibt./ Am Anfang gab es nur eine einzige Sprache. Die Objekte, die Dinge, die Gefühle, die Farben, die Träume, die Briefe, die Bücher, die Zeitungen waren diese Sprache. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es eine andere Sprache geben könnte, dass ein Mensch ein Wort sprechen könnte, das ich nicht verstehe. — Ja, es war Nacht, eine Nacht, die fünf oder sechs Jahre zurückliegt. Der Mensch, an dessen Bett ich wartete, hatte hohes Fieber. Ich trocknete sein Gesicht, ich nahm seine Temperatur, ich hörte seinem Atem zu. — stop
PRÄPARIERSAAL : skalpell
tango : 8.58 — Lydia, 23, notiert über ihre Erfahrung eines Präpariersaal-zeppelins Folgendes: > Ist Dir das auch aufgefallen, dass sich während des Sezierens kaum jemand verletzte? Ich habe mich darüber immer wieder gewundert. Vor allem dann, wenn ich auf dem Tisch Skalpelle und Gewebeteile liegen sah. Ich erinnere mich, dass ich zusammengezuckt bin, wenn jemand schrie oder laut lachte. Ich habe dann gedacht: Jetzt ist es passiert. Diese Skalpelle sind sehr scharf. Aber vielleicht hat die Art und Weise, wie wir das Werkzeug in Händen hielten, das Schlimmste verhindert. Wir haben aus dem Handgelenk heraus gearbeitet und nicht mit der Kraft des ganzen Arms. Faszinierend fand ich, den Brustkorb zu präparieren; die Lunge zu sehen, wie groß sie eigentlich ist und in welchem Bezug sie genau zum Herzen liegt. Vor allem war es aber spannend, die Konsistenz einiger Organe oder Organteile zu erfahren. Die Herzklappen sind unglaubliche Konstruktionen und auch das schwammähnliche Gewebe der Lunge ist anfangs sehr ungewöhnlich. Schwierigkeiten hatte ich mit keiner Region direkt, aber ich war sehr froh gewesen, dass die Präparationsarbeiten am Kopf meist von anderen Studenten erledigt wurden. Ich habe gerade das Gesicht eines Menschen als etwas sehr Persönliches angesehen. Das Gesicht ist das, was die Individualität eines Menschen ausmacht, ein Gesicht zu zerstören, war für mich eine schwierige Situation. Alles Gute! – stop
PRÄPARIERSAAL : cerebum
nordpol : 8.02 — TONAUFNAHME / Mai 2005 — Yomo : Als wir das Gehirn entnahmen, haben wir uns zunächst keine Gedanken darüber gemacht, was für ein faszinierendes Teil des menschlichen Körpers wir gerade in der Hand hielten. Wir hatten das nämlich so verstanden, dass die Studierenden das Gehirn selbst entnehmen dürfen und wir haben das dann auch gemacht. Aber bald haben wir festgestellt, dass die Assistenten, nicht die Studierenden, das an den anderen Tischen machten. Wir hatten bei der Entnahme einen Fehler gemacht und das Gehirn an der falschen Stelle durchtrennt. Wir waren sofort damit beschäftigt, zu überlegen, was wir jetzt machen sollen, um keinen Ärger zu bekommen. Wir haben deshalb in dieser Situation nicht so sehr an das Gehirn gedacht. Zum Glück kam dann aber eine nette Assistentin und hat das Gehirn vollständig entnommen, ohne uns weiter Vorwürfe zu machen. Sie fand unsere Art der Entnahme fast noch besser als die vorgegebene Methode, da man viele Strukturen sehen konnte, die wir anders nicht gesehen hätten. Wir waren auf jeden Fall ziemlich froh, dass wir keinen Ärger bekommen haben. Ich habe erst etwas später ein besonderes Gefühl gespürt, als ich das Gehirn in den Händen hatte. Vielleicht lag das auch daran, dass wir uns am Anfang auch noch gar nicht so genau mit dem Gehirn auskannten. Ein paar Dinge über das Gehirn wusste ich zwar schon aus der Schule, aber wie genau es aufgebaut ist, aus wie vielen Strukturen das Gehirn besteht und was man alles an einem Gehirn sehen kann, das habe ich erst in der Anatomie gelernt. So wurde das Gehirn im Lauf Zeit zu einem immer interessanteren und faszinierenderen Körperteil für mich. An dem Tag, als wir die Sulci mit bunten Fäden auslegen sollten, hatte ich das Gehirn dann länger in der Hand. Das ist jener Tag, an den ich mich besonders intensiv erinnern kann, da ich ein besonderes Gefühl hatte, als ich das Gehirn in der Hand gehalten habe. Ich war ein wenig glücklich und stolz auch, denn wer hat schon die Möglichkeit ein Gehirn in der Hand zu halten. Für mich war kaum vorstellbar, dass diese Struktur in meiner Hand einmal so viele und wichtige Aufgaben erfüllt hatte.
asmara tigri
lima : 16.01 — Die Frau, die mir sofort eine Geschichte erzählen wird, scheint müde zu sein. Immer wieder fallen für Sekunden ihre Augen zu. Früher Morgen, Tigri hat die Nacht über gearbeitet. Wir sitzen in einem Schnellzug vom Flughafen in die Stadt. Gerade wollte sie noch wissen, warum ich auf dem Notebook einen Film betrachte, der von einstürzenden Türmen des World Trade Centers berichtet. Sie habe, bemerkt Tigri, sechs Stunden lang Briefe sortiert, das heißt, Luftpostbriefe für Inseln, die im Pazifischen Ozean liegen, weil sie eine Spezialistin für Inseln ist, auch für Inseln atlantischer Gebiete, aber vor allem kenne sie sich aus mit Inseln, die Kiribati heißen oder Tonga oder Palau oder Vanuatu. Sie sagt, dass sie diese Namen lieben würde, dass sie Anfang der 70er Jahre in einem Dorf nahe der eritreischen Hauptstadt Asmara geboren worden sei und dass das Dorf im Jahr 1984 wieder aufgebaut werden musste, weil an einem Sonntagabend ein MIG-Flugzeug das Dorf zerstört habe und viele ihrer Freunde getötet. Zu diesem Zeitpunkt lebte Tigri bereits in Westdeutschland. Wenn sie den Namen ihres Dorfes ausspricht, bin ich nicht imstande, das schöne Geräusch in meinem Kopf zu behalten, aber das Wort Asmara kann ich mir merken. Sobald ich das Wort Asmara formuliere, leuchten ihre Augen, also sage ich dreimal Asmara und freue mich über die Wirksamkeit dieses Wortes. Asmara soll eine Stadt hellen Lichtes sein, sage ich, es soll dort immerzu nach Kaffee duften, und Tigri lacht und ich denke, dass das jetzt entweder so ist oder dass das nicht so ist, dass sie jedenfalls das Helle mag und auch den Kaffeeduft. Man spreche Tigrigna dort in ihrer Gegend, sagt Tigri, und ich bemerke, dass ihr ganzer Name selbst in diesem Wort enthalten sei. Wieder lacht die junge Frau, schließt kurz die Augen, erzählt, dass ihr Bruder, ein Gynäkologe, aus den Diensten eines Krankenhauses entlassen wurde, weil man ihn nicht als das behandeln wollte, was er zu sein wünschte. Mein Bruder, wissen Sie, möchte ein König sein. Nun ist er arbeitslos und König. Er ist natürlich schwarz wie ich, genauso schwarz, und schwarz steht den Königen nur in Afrika. Sie macht eine kurze Pause, reibt sich die Augen. Wir sind jetzt allein auf dieser Welt, sagt Tigri, alles ging sehr schnell. Im vergangenen Jahr sei ihr Vater gestorben in Eritrea, ein glücklicher Mensch, ein Busfahrer, ein sehr stolzer Herr. Im Oktober desselben Jahres sei schließlich die Mutter mit dem Flugzeug via Rom nach Frankfurt gekommen. Sie habe, ohne das zu wissen, einen Tumor im Kopf mitgebracht, im Februar war sie dann umgefallen und tot im März. Tigri lehnt ihren Kopf an die Wand des Zuges, schaut aus dem Fenster. Ein heißer, schwüler Morgen. Ob sie den Film ansehen dürfe, will sie wissen.
PRÄPARIERSAAL — so haben wir angefangen
delta : 22.20 — Sobald ich mein Tonbandgerät betrachte, wenn ich beobachte, wie sich zierliche Rädchen hinter einer Scheibe bewegen, Lust, die kleine Maschine auseinanderzunehmen, alles zu betrachten und dann wieder zusammenzusetzen, auch wenn vielleicht Jahre vergehen, bis die Zusammenhänge der Maschine wieder fehlerlos hergestellt sein werden. An diesem Abend, da im Hintergrund eine weitere, eine digitale Tonbandmaschine Joshua Redman wiederholt, ist alles noch in Ordnung, unberührt, sagen wir. Tom erzählt: > Man geht also vorsichtig los, man kommt durch eine Klapptür in den Saal und sieht sofort, dass da sehr viele Menschen sind. Ich hatte zunächst ein paar Probleme damit, die Knöpfe meines Kittels in die Finger zu bekommen, weil ich einen Atlas unter den Arm geklemmt hatte und ein Paar Latexhandschuhe in der einen Hand und in der anderen meinen Werkzeugkasten, eine hölzerne Schachtel mit Pinzetten und Skalpellen. Ich habe mir gedacht, du musst jetzt nicht besonders souverän sein, mein Junge, sondern zunächst einmal deinen Tisch finden und deine Leute und dann wirst Du ganz einfach anfangen. Also bin ich gleich nach links gelaufen, weil ich wusste, dass ich in einer Abteilung arbeiten werde, die links liegt, wenn man das von der Tür aus betrachtet. Aber dann hatten wir natürlich keine Ahnung, wie wir anfangen sollten. Wir standen um einen Tisch herum und haben zunächst einmal abgewartet. Wir waren acht Leute. Weil wir uns noch nicht alle kannten, haben wir uns erst einmal vorgestellt. Vielleicht bekomm ich sie grad schnell zusammen. Da war, zum Beispiel, Mika, eine Norwegerin, und Michael, der mir am Tisch gleich gegenüber arbeitete, und Susan, die sich ein Tuch um ihren Kopf gebunden hatte, damit das Haar ihr nicht ins Gesicht fallen konnte. Und da waren Zue natürlich, eine Afrikanerin von der Elfenbeinküste, die uns nicht immer verstehen konnte, weil sie die englische und französische Sprache flüssiger sprechen konnte als die deutsche Sprache, und Ismene, eine Griechin, die uns sofort erzählt hatte, dass sie Chirurgin werden wolle. Ich erinnere mich, Ihre Augen waren stark gerötet, vielleicht weil ein scharfer Geruch in der Luft hing, irgendetwas, das die Augen reizte. Ich konnte diesen Geruch bereits auf der Straße wahrnehmen, und später, am Abend, zu Hause, hatte ich ihn an den Händen. Kurzum, wir haben dann also gewartet. Ich kann nicht genau sagen, wie lange wir so gewartet haben. Das war eine seltsame Situation. Wir haben uns immer wieder angelächelt. Ich glaube, wir waren alle sehr verlegen und standen zu diesem Zeitpunkt unter einer großen Spannung. Der Tisch hatte die Nummer 4/12. Eine rote Plane war über diesen Tisch ausgebreitet und wir konnten eine Kontur erkennen, eine Erhebung. Wir wussten, dass da ein Körper lag und dass dieser Körper eher klein sein musste, zierlich, sagen wir. Ich hatte die Vorstellung, dass dort unter der Decke eine Frau liegen könnte. Und ich erinnere mich, dass ich in diesem Moment überlegte, ob das Geschlecht des Körpers, den ich in den kommenden Wochen auseinander nehmen würde, eine Bedeutung für mich haben würde oder nicht. Und dann ging alles sehr schnell. Unser Coassistent kam zu uns an den Tisch und erkundigte sich, ob alles o. k. sei. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute jeden einzelnen von uns an und lachte sehr freundlich. Wir haben dann damit begonnen, das rote Tuch vom Tisch zu nehmen. So haben wir angefangen.
PRÄPARIERSAAL : zeppelin
echo : 2.16 — Wallstreet gestern Abend auf Fernsehbildschirm. Hinter einem Reporter, der vom abwärts strebenden Verhalten der Kurse erzählte, warteten japanische Menschen. Sie winkten fröhlich in die Kamera, grüßten, fächelten sich Luft zu mit fleischfarbenen Zeitungspapieren. Es schien warm zu sein in New York, schwül. Wäre ich jetzt dort, dachte ich, würde ich südwärts laufen zur nahegelegenen Hafenstation, würde mich auf das obere Deck eines der alten Fährschiffe begeben, würde bald im kühlenden Fahrtwind sitzen, eine Coke in der linken, eine Teigtasche mit Hummerfleisch in der rechten Hand, das Tonbandgerät in der Tasche und Mels Stimme im Kopfhörerohr, wie sie erzählt von anatomischer Zeit. — 2 Uhr und zwanzig Minuten. Regen. Blitze. Donner. Gerade eben hörte ich mich selbst, meine eigene Stimme. Ich formulierte vorsichtig eine Frage, wollte wissen, ob Mel sich im anatomischen Saal gefürchtet habe? Nein, antwortete Mel ohne zu zögern, sie habe sich nicht eine Sekunde lang vor den Toten gefürchtet. > Ich hatte in diesen 6 Wochen keine Zeit, Angst zu haben. Ich habe mich auf meine Aufgabe konzentriert. Ich habe mich vor Testaten ein wenig gefürchtet, und ganz am Anfang vielleicht davor einmal rasch umzufallen. Nur deshalb hatte ich wirklich Angst, umzufallen, das heißt nicht arbeiten zu können, aber davon erzählte ich bereits. Wenn ich mir das jetzt genau überlege, dann kann ich mich nicht erinnern, dass im Präpariersaal überhaupt irgendjemand umgefallen ist. Vielleicht musste man mal aus dem Saal gehen und sich setzen, weil man die Nacht zuvor nur kurz geschlafen hatte und deshalb müde war und weil die Augen brannten vom Formaldehyd in der Luft. Aber umgefallen, ich meine, ohnmächtig geworden, davon habe ich nichts mitbekommen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass ich das alles nur geträumt habe. Auch in der Zeit, als ich noch präparierte, hatte ich bisweilen den Eindruck, dass dieser Saal nicht wirklich war. Ich konnte meine Eindrücke nicht mit der Straße, über die ich nach Hause spazierte oder mit den Gesprächen der Menschen, die ich in der U‑Bahn gehört habe, in Verbindung bringen. Ich hatte den Eindruck, dass der Saal, dass die ganze Situation irgendwie frei schwebte, also ganz für sich war, isoliert. Und so reiste ich also hin und her, von da nach dort und wieder zurück, aber das war nicht schwer gewesen, so hin und her zu springen. Ich habe von dem ein oder anderen meiner Freunde gehört, dass sie Albträume gehabt hätten. Ich selbst habe aber nie geträumt. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, geträumt zu haben. Ich glaube, ich war in irgendeiner Weise geschützt. Ich kann nicht genau sagen, was mich geschützt hat, vielleicht war es die Dichte der Aufgaben, die mir gestellt waren. Ich hatte keine Zeit, lange über diese merkwürdige Situation nachzudenken. Ich meine, ich habe nicht lange darüber nachgedacht, dass ich, Mel, hier den Körper einer alten Frau so lange zerlege und betrachte, dass er fast verschwunden sein wird, wenn ich fertig sein werde. Ja, – es war sehr viel zu tun. Das hat es leichter gemacht.
PRÄPARIERSAAL : kreide
delta : 22.56 — Gewitterhimmel. Abend. Moskitofische segeln von Zimmer zu Zimmer. Seit zwei Stunden Julian, seine tiefe Tonbandstimme. Seltsam ist, dass ich mich an Julians Gesicht nicht erinnern kann. Zeit und Ort der Tonbandaufnahme, ein kleines Café in Schwabing zu München, sind hingegen sofort erreichbar. Samstag. Winter. Sobald sich die Tür des Cafés öffnete, wehte Schneewind herein. > Wir haben zunächst das Präparat auf dem Tisch herumgedreht. Aber das sagt sich so leicht. Man kann das Präparat nicht alleine herumdrehen. Das Präparat ist zu schwer, um von einer Person auf einem schmalen Tisch herumgedreht werden zu können. Wir haben das Präparat gemeinsam bewegt. Ein intensiver Moment. Wir schwitzen. Wir halten den Atem an. Das Präparat ist feucht. Eine Hand hält den feuchten Kopf des Präparates, eine weitere Hand einen feuchten Arm, Hände halten feuchte, kühle Schenkel, einen feuchten, kühlen Rücken, einen feuchten, kühlen Nacken. Wir haben noch nicht an Tiefe gewonnen, wir haben noch keinen Schnitt gesetzt. Wir sind noch am Anfang. Wir sind noch am ersten Tag. Wir haben noch nicht darüber geschlafen. Ich sehe, wie ich ein Stück Kreide in die Hand nehme. Ich nehme dieses Stück Kreide in die rechte Hand. Mit der linken Hand taste ich über den Rücken meines Präparates. Ich ertaste Untiefen, Knochen, feste Strukturen, die meinen Fingern Orientierung bieten. Sobald ich mit der linken Hand eine Untiefe, einen Knochenpunkt ertastet habe, ziehe ich mit der rechten Hand einen Kreis. Wenn ich mit der Kreide den Körper berühre, gibt der Körper nach. Mein Finger ist ein Werkzeug des Tastens, die Kreide ein Werkzeug des Beschreibens. Ich zeichne dem Präparat die Form eines Herzens auf die Brust. Ich zeichne einen Magen auf den Bauch. Ich zeichne in die Tiefe eine Niere links, eine Niere rechts. Ich habe die Vermutung eines Herzens, ich habe die Vermutung eines Magens, ich habe die Vermutung einer Niere da und einer Niere dort. Das Präparat ist ohne Geräusch. Es ist merkwürdig, alles scheint schon sehr lange her zu sein, und doch habe ich den Eindruck, dass kaum Zeit vergangen ist. Das Präparat auf dem Tisch, dieser Mensch, ist fast verschwunden. — stop